Julian Nagelsmann tritt ein schweres Erbe an beim FC Bayern. Hansi Flick hat in anderthalb Jahren sieben Titel gewonnen und war in der Mannschaft sehr beliebt. Doch der junge Trainer war die sofortige Wunschlösung für die Flick-Nachfolge.
Man kann nicht behaupten, dass Julian Nagelsmann mit falschen Karten gespielt hätte. 2017, er war damals ein gerade mal 30 Jahre alter Trainer in Hoffenheim, gab er in einem Interview mit „Eurosport" preis, was sein Lebenstraum als Trainer ist. „Der FC Bayern spielt in meinen Träumen schon eine etwas größere Rolle", sagte er da: „Ich habe viele Jahre in München gelebt. Meine Frau und mein Kind ziehen demnächst nach München. Wir bauen dort ein Haus." Und dann sagte er den Satz, der seitdem viele Male zitiert worden war: „Ich bin sehr, sehr glücklich in meinem Leben. Der FC Bayern würde mich noch ein Stück glücklicher machen."
Der Zusatz „aber es ist nicht so, dass mein Lebensglück total vom FC Bayern abhängt" fiel im Gedächtnis der meisten hintenüber. Aber sie ist sicher auch eher als relativierende Phrase zu sehen. Vor einigen Wochen erzählte Nagelsmann dann freimütig, dass er als Kind in Bayern-Bettwäsche geschlafen habe. Anlass war der 60. Geburtstag von Lothar Matthäus, dessen größter Fan Nagelsmann war. Auch, wenn er glaubte, „dass er Lotoma mit Vorname heißt und Thäus mit Nachname".
Als Spieler schaffte es der Junge aus der rund 60 Kilometer von München entfernten Kleinstadt Landsberg am Lech nicht zu den Bayern. Er wechselte als Jugendlicher zum FC Augsburg, dann ausgerechnet zum Bayern-Rivalen 1860 München, auf Vermittlung von Thomas Tuchel zurück nach Augsburg, wo er verletzungsbedingt als Spieler aufhörte und seine Trainer-Karriere startete und als Nachwuchs-Trainer dann sogar noch mal zu den Münchner Löwen. Sein Ziel war dennoch immer der große FC Bayern. Und daraus hat er eben nie ein Geheimnis gemacht.
Mintzlaff pokerte hoch, doch die Bayern zogen mit
Auch nicht, als er vor zwei Jahren zu RB Leipzig wechselte. „Wir haben uns damals bewusst klar auf einen langfristigen Vertrag über vier Jahre verständigt", berichtete RB-Boss Oliver Mintzlaff. Ausstiegsklauseln habe man abgelehnt. „Aber schon damals ist in den Gesprächen gefallen, dass es schon sein Wunsch ist, irgendwann mal den FC Bayern zu trainieren."
Das schien selbst vor einigen Wochen noch weit weg. Beim FC Bayern hatte Trainer Hansi Flick gerade sechs Titel in einem Jahr gewonnen und noch einen Vertrag bis in den Sommer 2023. Genauso lange lief der Kontrakt von Nagelsmann beim zumindest ärgsten Bayern-Verfolger in Leipzig. Doch dann spitzten sich die Probleme zwischen Flick und seinem Sportvorstand Hasan Salihamidzic zu, Bundestrainer Joachim Löw verkündete seinen Rücktritt nach der EM und sein langjähriger Assistent Flick galt schnell als logischer Nachfolger. Flick brach mit den Bayern und der Posten war frei.
Schnell war klar: Der logische Nachfolger aus Sicht der Münchner konnte eigentlich nur der inzwischen 33 Jahre alte Nagelsmann sein. Man wusste um dessen emotionale Verbindung zum Verein, er hatte sie ja deutlich herausgestellt. Ausländische Top-Trainer wurden zwar gehandelt, aber es sollte dann doch ein Muttersprachler sein. Der musste aus der Kategorie Jürgen Klopp, Thomas Tuchel oder Nagelsmann sein. Die ersten beiden wären nicht zu kriegen gewesen. Und Letzteren hatte man immer schon beobachtet und ihn als grundsätzlich hochtalentiert eingestuft, war aber stets zu der Einschätzung gekommen, dass er wegen seines Alters noch einige Karriere-Schritte dazwischen benötigte.
Nun schien die Zeit gekommen. Die Bayern riefen bei Nagelsmann an, der sprach bei Mintzlaff vor. Emotional sei ein Abgang des Trainers zu dem Verein, den man eigentlich jagt, schwer. „Von 100 Fans werden es 100 Fans nicht verstehen", war sich Mintzlaff sicher. Doch zum einen erinnerte er sich an den vorgetragenen Wunsch von damals und beteuerte. „Bei uns gilt auch das gesprochene Wort, dass man sich erinnert an das, was gesagt wurde, auch wenn es nicht fixiert wurde." Zum anderen ist Mintzlaff vor allem Geschäftsmann. „Es gab auch eine rationale Seite", sagte er: „Deshalb haben wir beschlossen, dass wir diese Tür nur unter zwei Voraussetzungen öffnen. Zum einen eine massiv hohe Ablöseforderung, die erfüllt werden muss. Und dass das Ganze in wenigen Tagen abgeschlossen sein muss, so oder so."
Die „massive hohe Ablöseforderung" soll Medienberichten zufolge bei 25 bis 30 Millionen liegen. Was wahnsinnig viel Geld für einen Trainer ist, wenn man bedenkt, dass die fünf Millionen, die Gladbach für Marco Rose aus Dortmund erhält, vor wenigen Wochen noch Bundesliga-Rekord waren, ehe die Gladbacher selbst diesen mit ihren 7,5 Millionen für Frankfurts Adi Hütter noch mal ausbauten. Die Summe wollte Mintzlaff nicht bestätigen. „Es ist aber auch nicht so, dass wir sie dementieren", sagte er und schob später noch einmal lächelnd nach: „Für 23 Millionen hätten wir ihn nicht gehen lassen."
Man darf die kolportierte Summe, wegen der fehlenden Ablösesumme war sie ja frei verhandelbar, also mindestens als realitätsnah betrachten. Und wenn man sieht, wie sich der FC Bayern im vergangenen Sommer als Champions-League-Sieger auf dem Markt verhielt, weiß man, dass das auch für den deutschen Fußball-Krösus eine Summe ist, die man nicht ohne Wimpernzucken auf den Tisch legt. Mintzlaff hatte offenbar gehofft, die Münchner durch die Summe abgeschreckt zu haben. Vielleicht würde er den Münchnern so den „Schwarzen Peter" für den geplatzten Transfer zuschieben können und Nagelsmanns Enttäuschung über den geplatzten Lebenstraum hätte sich in Grenzen gehalten. „Er hat unseren Club auf die nächste Stufe gehoben. Und es hat sich für uns nicht so angefühlt, als sei der Weg hier schon zu Ende", sagte der RB-Boss und fügte ganz offen an: „Wir haben gehofft, dass unsere Forderungen nicht erfüllt werden. Doch der FC Bayern hat es gemacht."
Langer Vertrag ist Chance und Risiko
Hätten sie es nicht getan, hätte er sich „nicht freiboxen oder freiekeln" wollen, versicherte Nagelsmann. Dennoch sei er „sehr froh, dass der Wechsel geklappt hat". Doch die Frage liegt nahe, ob die hohe Ablösesumme, eine Weltrekord-Summe im Übrigen für einen Trainer, den ohnehin schon größeren Druck in München nicht noch größer mache. „Grundsätzlich macht die Summe nicht allzu viel mit mir", versicherte Nagelsmann: „Sehr viele Spieler kosten deutlich mehr. Sie haben auch damit umzugehen. So geht es nun mir. Aber ich habe nicht hier geschrien und gesagt, das bin ich wert." Klar sei für ihn aber eines: „Es hat immer mal wieder Anfragen gegeben. Aber ich hätte diesen Vertrag nicht beendet für einen anderen, sondern nur für diesen einen Club."
Mit 33, in einem Alter, in dem Kollegen am Ende ihrer aktiven Karriere anfangen, die ersten Trainerscheine zu machen und vielleicht erstmals eine Jugend-Mannschaft trainieren, ist er also angekommen. Beim größten deutschen Verein. Beim noch amtierenden Champions-League-Sieger. An seinem Lebensziel als Trainer. Sein neuer Vertrag läuft über beachtliche fünf Jahre, bis zum 30. Juni 2026. Sollte er diesen erfüllen, wäre er der dienstälteste Bayern-Trainer seit Ottmar Hitzfeld, dessen erste Amtszeit von 1998 bis 2004 dauerte.
Einfach werden wird es für Nagelsmann nicht in München. Die Ablöse ist zum einen ein Schutzschild. Für wen man bis zu 30 Millionen ausgibt, den wirft man nicht im November wegen zwei Niederlagen und Platz drei gleich wieder raus. Aber die Ablöse fehlt nun beim Kauf neuer Spieler. Der Kader ist herausragend, aber nicht breit. Und die Ziele sind riesig. Es zählt die Champions League, die die Bayern im Vorjahr gewannen, ehe sie diese Saison im Viertelfinale an Paris Saint-Germain scheiterten. In der Meisterschaft kann Nagelsmann nur verlieren. Der Titel im nächsten Jahr wäre der zehnte in Folge, eine Formalie, ein Scheitern wäre fatal. Ganz bitter wäre natürlich, wenn dafür dann ausgerechnet RB Leipzig Meister würde. Mintzlaff hat bereits angekündigt. „Julian wird uns im nächsten Jahr spüren. Bei uns heißt es dann: Voller Angriff auf den FC Bayern und Julian Nagelsmann."