Aktuelle Grundrechtseinschränkungen wecken Erinnerungen an 1968
Ich weiß nicht, ob Frau Merkel gegebenenfalls Panzer ins Saarland schicken wird." Dieser nicht ganz ernst gemeinte Satz stammt vom Linkenpolitiker Dietmar Bartsch, nachdem die Bundeskanzlerin unter Hinweis auf ihren Amtseid angekündigt hatte, sie werde beim Corona-Durcheinander nicht tatenlos zusehen und die Kompetenzen des Bundes ausschöpfen. Gemeint war, wie wir jetzt wissen, eine Verschärfung des neuen Infektionsschutzgesetzes. Altgediente Chronisten erinnerten sich jedoch sofort an 1968, als die Republik von heftigen Protesten gegen die Notstandsgesetze erschüttert wurde, die im Juni 1968 in Kraft traten.
Die Notstandsgesetze sollten die Handlungsfähigkeit des Staates bei Naturkatastrophen, Aufstand oder Krieg sicherstellen. Es ging um den Verzicht von Grundrechten – von der Freizügigkeit bis zur Berufsfreiheit und, als Kuriosität, den Verkehrsregelungen. Der Meinungsstreit in den Parlamenten und in der Bevölkerung war tiefgreifend. Studenten und Gewerkschafter zogen gemeinsam mit Sprechchören und Transparenten über den Berliner Kurfürstendamm. Bislang hatte sich die SPD stets gegen Notstandsgesetze gewandt, für die seit 1960 von den Innenministern der Adenauer-Regierungen Entwürfe eingebracht wurden. Erst die Große Koalition hatte im Jahr 1968 unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger und Außenminister Willy Brandt die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, um die Gesetze zu verabschieden.
Brandt erklärte mit einem unverkennbaren Hauch von schlechtem Gewissen zur Begründung: „Jeder Staat trifft Vorsorge." Kiesinger ließ sich auf einer wild bewegten Kundgebung vor lautstarken Protestlern zu der Aussage hinreißen: „Wenn ich Sie hier sehe, wird mir bewusst, wie wichtig diese Gesetze sind!". Andere versuchten es mit dem Hinweis, die DDR habe ja ähnliche Verordnungen und Gesetze – was zu der automatischen Entgegnung führte „Wir wollen doch nicht alles nachmachen, was Walter Ulbricht in seinem Machtbereich anrichtet!".
Nicht dem Staatsoberhaupt wie in der Weimarer Republik, an deren Ende unselig mit Notverordnungen regiert wurde, sondern der Bundesregierung fiel dabei – im Verein mit Bundestag und Bundesrat – die letzte Entscheidung zu. Im Dreibund mussten sie Ermächtigung geben, Notverordnungen zu erlassen und Grundrechte zu streichen. Allerdings war in der langen Zeit der Entwürfe seit 1960 von Mal zu Mal die parlamentarische und die verfassungsrechtliche Kontrollmöglichkeit gestärkt worden. Ging es doch um eine in der jungen Bonner Demokratie bis dahin kaum vorstellbare Maßnahme: die Einschränkung von Grundrechten.
Um auf den kryptischen Satz von Dietmar Bartsch zurückzukommen: Ein wesentlicher Punkt der Notstandsgesetze von 1968 war die Androhung von „Bundesexekutionen" in Fällen, bei denen die Bundesländer ihren Pflichten nicht nachkommen. Über allem standen zur Begründung die Begriffe „Verteidigungsfall" und „Spannungsfall". In den damaligen Zeiten des Kalten Krieges bezog sich sowohl der „Verteidigungsfall" als auch der „Spannungsfall" immer auf höchste Gefahr in den internationalen Beziehungen.
Am 11. Mai 1968 zogen Tausende in einem Sternmarsch der „Außerparlamentarischen Opposition" (APO) nach Bonn. Im Juni versammelten sich dort nahezu 20.000 Protestierer bei einer DGB-Kundgebung. Im Zuge der an den Universitäten betriebenen Durchleuchtung der Nazi-Vergangenheit und angesichts der damaligen Durchmischung des bundesdeutschen Beamtenapparats mit hochrangigen Ex-Nazis war eine ablehnende Abkürzung der Notstandsgesetze wohlfeil und machte als „NS-Gesetze" die Runde.
Der Sturm der Entrüstung über mögliche Einschränkungen von Grundrechten legte sich schließlich im September 1969 mit der Kanzlerschaft von Willy Brandt, der in seiner Antrittsrede mit dem Slogan von „Mehr Demokratie wagen" das treffende Wort in bewegten Zeiten fand. Doch die Möglichkeiten des Bundes zu besonderen Eingriffen in die gesellschaftlichen Abläufe bestehen als Teil des Grundgesetzes weiter.