Einen Fingerabdruck zu hinterlassen, ist im Tierreich nur den Primaten vorbehalten, zu denen auch die Menschen gezählt werden. Den evolutionären Vorteil des Papillarleisten genannten Linienmusters haben Wissenschaftler jüngst enthüllt.
Legendäre Gangster wie Al Capone ließen sich früher die Fingerkuppen verätzen, um sich dadurch der polizeilichen Verfolgung zu entziehen, sollten am Tatort Fingerabdrücke sichergestellt worden sein. Das war sicherlich nicht nur ein schmerzhaftes, sondern auch sinnloses Unterfangen, weil die feinen Hautrillen an der Unterseite der Fingerkuppe mit ihrem charakteristischen, einzigartigen Linienmuster nach kurzem Verschwinden in exakt gleicher Weise wieder „nachwächst". Es dürfte allerdings naheliegend sein, dass sich aus evolutionärer Sicht die Möglichkeit für Menschen, Fingerabdrücke zu hinterlassen, kaum zur Verbrechensaufklärung über die Jahrtausende hinweg entwickelt haben kann. Zumal erst im Jahr 1892 eine Kapitalstraftat einer Kindermörderin dank eines blutigen Fingerabdrucks auf einem Türpfosten aufgeklärt werden konnte. Da auch weitere Primaten wie Menschenaffen, Affen und sogar Koalas über Fingerabdrücke verfügen, muss sich dahinter ein evolutionärer Hintergrund verbergen, der Vorteile gegenüber Fingerabdrucklosen verspricht.
Schon vor gut einem Jahrzehnt hatten französische Forscher der Pariser Universität École Normale Supérieure unter Leitung von Julien Scheibert den Nachweis erbringen können, dass die Papillarleisten genannten Rillen an den Fingerkuppen nicht nur den Halt der Finger an Oberflächen verstärken, sondern auch dafür sorgen können, dass Menschen selbst feinste Strukturen, kleiner als ein Fünftel Millimeter, perfekt ertasten können – und zwar allein schon durch sanftes Streichen über deren Oberfläche. Dank der Riffelung der Fingerspitzen entstehen dabei Vibrationen auf der Haut, die zur Wahrnehmung winziger Unebenheiten führen. Entscheidenden Anteil an dieser Fähigkeit haben Nervenzellen namens „Vater-Pacini-Körperchen", die durch Vibrationen angeregt werden und sofort Signale an das Gehirn senden. Wissenschaftler konnten feststellen, dass diese in der Unterhaut befindlichen Körperchen Vibrationen vor allem im Frequenzbereich von 200 bis 300 Hertz optimal wahrnehmen können. Das ist geradezu ideal für Ertasten feinster Strukturen, während für gröbere Oberflächen andere Nervenzellen besser geeignet sind.
Für festeren Halt und präzises Ertasten
Bei den Vater-Pacini-Körperchen handelt es sich um sogenannte Mechanorezeptoren, sprich Sinneszellen, die mechanische Kräfte wie Druck oder Bewegung in Nervenerregung umwandeln können. Für ihre Studie hatten die Forscher einen künstlichen, fingergroßen Tastsensor entwickelt, der mit einer Gummikappe überzogen wurde. Deren Spitze war mit menschlichen Fingerabdrücken entsprechenden Riffelungen versehen. Wenn mit diesem Sensor über eine Oberfläche gestrichen wurde, verstärkte die Riffelung die entstehenden Vibrationen in einer bestimmten Frequenz, deren Stärke von der jeweiligen Streichgeschwindigkeit abhängig war. Bei Kontrolltests mit einer glatten Gummikappe konnten vergleichbare Effekte nicht erzielt werden. Das Team um Scheibert war der Ansicht, dass seine Erkenntnisse wichtig für den Bau oder die Verbesserung humanoider Roboter werden könnte, weil die Finger solcher Maschinenmenschen zur Erhöhung der Feinfühligkeit unbedingt mit kleinen Riffeln versehen werden sollten.
Im November 2020 veröffentlichte ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Seoung-Mok Yum von der Seoul National University und Michael J. Adams von der University of Birmingham im Fachmagazin „PNAS" eine neue Studie über den biologisch-evolutionären Nutzen von Fingerrillen. Mit dem überraschenden Ergebnis, dass die geschwungenen Rillen für eine optimale Feuchtigkeit auf der Hautoberfläche und damit für eine perfekte Reibung zwischen unseren Fingern sowie dem zu ergreifenden Gegenstand sorgen können. Als bekannt konnten die Wissenschaftler das komplexe System aus Rillen und Schweißdrüsen voraussetzen, das gemeinhin für den Fingerabdruck verantwortlich zeichnet. Ein Viertel der menschlichen Schweißdrüsen ist auf den Handflächen und den Fußsohlen angesiedelt. Die Schweißproduktion wird an diesen Stellen in erster Linie durch emotionale Reize ausgelöst und deutlich weniger durch äußerliche Einflüsse wie Temperaturanstiege. Für ihr Experiment ließen die Wissenschaftler Probanden ihre Finger auf eine Glasfläche aufdrücken, weil die Messtechnik und die bildgebenden Verfahren die durchsichtige Oberfläche dazu nutzen konnten, die Finger genau beobachten zu können. Das Glas bot zudem den Vorteil, dass es selbst keine Feuchtigkeit absorbieren konnte, was bei einer Versuchsanordnung mit Papier gänzlich anders gewesen wäre. Nach Einschätzung der Forscher hätten die Fingerkuppen auch in diesem Fall mit einer entsprechend angepassten Schweißproduktion reagiert.
Optimale Haftung und Reibung
Ziel des Experiments war es herauszufinden, wie sich die Feuchtigkeit zwischen Finger und Glas verteilen und welche Auswirkungen diese Verteilung auf Reibung und Haftung haben würde. Überraschend war zunächst die Erkenntnis, dass es völlig egal war, ob die Finger der Probanden nass oder trocken waren. Bei nassen Fingern regulieren die Hautrillen sofort überschüssige Flüssigkeit. Während bei trockenen Fingern die Schweißdrüsen sofort in Aktion traten. Alles vor dem Hintergrund, eine möglichst optimale Reibung und Haftung zu ermöglichen. „Beim Kontakt mit festen Objekten sind die Rillen des Fingerabdrucks wichtig, um Haftung und Präzision zu bestimmen. Sie regulieren die Feuchtigkeitsmenge aus externen Quellen und Schweißdrüsen, sodass die Haftung maximiert wird, und wir vermeiden, unser Smartphone fallen zu lassen", so Michael J. Adams. Laut den Forschern ist ein ausgeklügeltes System dafür verantwortlich, dass die Schweißdrüsen nur genau so viel Flüssigkeit aussondern, wie für einen sicheren Griff nötig ist. Durch die leichte Befeuchtung der Haut werde diese flexibler und habe sich bei dem Experiment dadurch enger an das Glas anschmiegen können. Der dabei entstandene Druck habe dafür gesorgt, dass die Schweißdrüsen blockiert und an einer Überproduktion gehindert worden seien. Diesem gut ausbalancierten System verdankten die Primaten letztendlich das sichere Zupacken. „Wenn wir verstehen, welchen Einfluss die Reibung an den Fingerkuppen hat, können wir realistischere taktile Sensoren entwickeln – zum Beispiel für Anwendungen bei Robotern und Prothesen oder für Feedbacksysteme in Touchscreens und Virtual Reality", meint Michael J. Adams.
Obwohl der Fingerabdruck so einzigartig ist, dass bislang noch keine Überstimmung bei zwei verschiedenen Individuen gefunden werden konnte – nicht einmal bei eineiigen Zwillingen – lässt er sich leicht fälschen. Moderne Fingerabdrucksysteme haben daher zusätzlich eine Schutzprüffunktion eingebaut, die ermitteln soll, ob der Abdruck nur von einer Attrappe oder tatsächlich von einem lebendigen Finger stammt. Die Bundesregierung scheint wie alle EU-Staaten von der Sicherheit eines individuellen Fingerabdrucks auszugehen, weshalb sie Anfang November 2020 im Bundestag eine Fingerabdruck-Pflicht für Personalausweise ab August 2021 beschließen ließ. Erhebliche Bedenken gingen dabei von Datenschützern aus, weil diese einen künftigen Zugriff von Strafverfolgungsbehörden auf die gespeicherten Individual-Erkennungsmerkmale befürchten. Fingerabdrücke werden heute noch im Wesentlichen genauso gesichert wie in der Geburtsstunde der Daktyloskopie
(= Fingerschau) vor rund 100 Jahren, also mit Hilfe von Pulver und Pinsel. Danach werden die Abdrücke digitalisiert und in die Datenbanken eingespeist.
Während die Verlässlichkeit von DNA-Analysen zur Identifizierung eines Täters wissenschaftlich längst überprüft wurde, steht eine solche Untersuchung bei Fingerabdrücken noch immer aus. In den USA wurden daher seit den 90er-Jahren immer wieder erhebliche Zweifel an der juristischen Verwertbarkeit von Fingerabdrücken als Beweismittel erhoben. Weil an Tatorten nur selten komplette Fingerabdrücke sichergestellt werden können, sondern meist nur sogenannte latente Fingerabdrücke von häufig fragwürdiger Qualität, mal fragmentarisch, mal unscharf, mal sich überlappend. Bei Ähnlichkeiten zwischen Papillarmustern verschiedener Personen kann daher schon die kleinste Unsauberkeit zur Ermittlung des falschen Täters führen. Laut Studien des US-Kriminologen Simon A. Cole kommt das allein in den Vereinigten Staaten rund 1.000-mal pro Jahr vor. In der Bundesrepublik, wo von der Polizei zur Untersuchung von Fingerabdrücken das Informatiksystem AFIS (Automatisiertes Fingerabdruck-Identifizierungs-System) verwendet wird, wird dieses heikle Problem bislang kaum thematisiert.
Basierend auf einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1952 gilt hierzulande auch heute noch ein Täter als eindeutig identifiziert, wenn die Fingerabdruckspuren in neun bis 14 Minuzien übereinstimmen. In anderen europäischen Ländern gelten abweichende Minuzien-Übereinstimmungsvorgaben, beispielsweise in Italien 16, in der Schweiz und in Großbritannien zwölf. Apropos Schweiz: In diesem Land lebt eine von weltweit fünf Familien, deren Mitglieder wegen einer Genmutation keine Fingerabdrücke hinterlassen können, weil sie ohne Papillarleisten auf den Fingerkuppen geboren werden.
Fingerabdrücke als zusätzlicher Identitätsbeleg haben schon eine lange Geschichte. Früheste Zeugnisse gibt es aus dem Assyrischen Reich. Doch vor allem im alten China konnten sie schon um 906 v. Chr. zur Besiegelung von Urkunden oder Verträgen nachgewiesen werden. In Indien entdeckte der britische Kolonialbeamte Sir William Herschel 1858 ihre Nützlichkeit als Quittierungsinstrument, um häufig auftretende Schummeleien bei Pensionsauszahlungen unterbinden zu können. Sein Landsmann Sir Francis Galton wurde 1888 zum eigentlichen Begründer der Daktyloskopie, weil er als erster die Einzigartigkeit des menschlichen Fingerabdrucks entdeckt hatte. Elf Jahre später entwickelte der Brite Sir Edward Richard Henry das erste System, mit dessen Hilfe Fingerabdrücke miteinander verglichen werden konnten. 1897 konnte Scotland Yard den ersten Verbrecher anhand seiner Fingerabdrücke überführen. Vor Gericht wurden Fingerabdrücke als Beweismittel erstmals 1896 in Argentinien und 1901 in Großbritannien zugelassen. In Deutschland wurde die erste Fingerabdruckregistratur 1903 in Dresden eingerichtet.