In Umfragen scheint die SPD seit geraumer Zeit wie eingemauert. Der jetzt auch offizielle Kanzlerkandidat Olaf Scholz gibt unterdessen den unermüdlichen Optimisten.
Wenn SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil in seiner Funktion etwas gelernt hat, dann, genau hinzuschauen. Nicht alles glauben, was irgendwo geschrieben steht. Das gilt vor allem für Umfragewerte, die der SPD in den vergangenen zwei Jahren nicht gerade wohl gesonnen waren. Gerade in den letzten Monaten hatte man den Eindruck, diese haben sich mit ihren 13 bis 16 Prozent gegen die SPD verschworen. Wobei Klingbeil weit davon entfernt ist, irgendetwas schönrechnen zu wollen, das ist nicht seine Art und vor allem auch als oberster Wahlkampfchef seiner Partei nicht in seinem Interesse. Doch der SPD-Generalsekretär hat die diversen Umfragen in Relation gestellt und vor allem nachgerechnet. Sein Ergebnis: Irgendwie sind da offensichtlich im Vergleich zu vor vier Jahren Wähler verloren gegangen. Rechnet man die beiden ehemals großen Blöcke in den Umfragen zusammen, also Union und Sozialdemokraten, dann fehlen mittlerweile den ehemaligen Volksparteien gut und gern 25 Prozent. Geht man davon aus, dass mindestens zehn bis 15 Prozent davon bei den Grünen gelandet sind: Wo sind dann aber die anderen zehn Prozent abgeblieben?
Suche nach verlorenen Wählern
Jedenfalls nicht bei der Linken oder der FDP. Eventuell bei der AfD, wobei in den Analysen der Forschungsgruppe Wahlen immer wieder darauf hinwiesen wird, dass es gerade den National-Konservativen bei der letzten Bundestagswahl 2017 gelungen ist, einen erheblichen Teil Nichtwähler an die Urnen gelockt zu haben. Auch andere Umfrageinstitute bestätigen dieses Phänomen der verschwundenen Wähler und verweisen dann auf die hohe Zahl an Nichtwählern. Offensichtlich scheint gerade die SPD in dieses Lager einen nicht unerheblichen Teil ihres Wählerpotenzials verloren zu haben. Parteiinterne Analysen der SPD bestätigen diesen Trend, allerdings nicht für die letzten zwölf Monate, sondern für die Zeit vor dem Beginn der Pandemie im März letzten Jahres.
Es war die Zeit nach der mit 20,5 Prozent verlorenen Bundestagswahl, als Martin Schulz im Zuge der dritten großen Koalition hinwarf und dann SPD-Chefin Andrea Nahles nach nicht mal 14 Monaten rabiat von den eigenen Genossen abserviert wurde. Dann kamen die Verheerungen um die Wahl einer neuen SPD-Spitze, die sich, gefühlt unendlich, in der Realität über Monate zog. Am Nikolaustag 2019 standen dann die Außenseiter Saskia Esken und Norbert-Walter Borjans plötzlich als erste Doppelspitze der SPD ganz vorn. Im Zuge dieser SPD-Mitgliederwahl pendelten sich dann die Sozialdemokraten in den Umfragen bis zum Beginn der ersten Corona-Maßnahmen im vergangenen Frühjahr auf 15 Prozent ein.
Auch die sehr frühe Benennung von Finanzminister Olaf Scholz im vergangenen August zum Kanzlerkandidaten änderte an dem 15-Prozent-Keller-Dasein nichts. Ein in den Umfragen positiver Scholz-Effekt hat sich bis zum heutigen Tag nicht eingestellt, selbst nach der offiziellen Nominierung von Scholz auf dem digitalen Bundesparteitag. Eventuell ist aber genau das der Umstand, warum Olaf Scholz viele um sich herum mit seiner positiven Betrachtungsweise der Wahlchancen der SPD am 26. September irritiert. Offenbar steht er dem ganzen Unternehmen „Kanzleramt" unter seiner Führung so aufgeschlossen gegenüber, weil sich die Umfragen in den letzten zwölf Monaten auf einem, zugegebenen moderaten, aber immerhin verlässlichen Niveau eingependelt haben.
„Darauf bauen wir jetzt auf", wiederholt der bald 63-Jährige Hanseat in den Interviews ein ums andere Mal und orgelt dann stakkato die klassischen SPD-Themen runter. Dass das unfreiwillig kabarettistische Züge annehmen kann, konnte man sehr schön am Montag nach dem Landtagswahlwochenende Mitte März in der Berliner SPD-Zentrale beobachten. Zumindest in Rheinland-Pfalz konnte die SPD mal einen Sieg verbuchen und Scholz wusste warum: „Der heitere, der fröhliche, der zuversichtliche Auftritt" hat geholfen. Im Hintergrund stand, leicht nach vorne gekrümmt, mit typisch versteinerter Miene, das Führungsduo Saskia Esken und Norbert-Walter Borjans, während am Rednerpult Scholz sein „schlumpfiges Grinsen" in die Kameras hielt. Doch die damalige Parole, dass „nur fröhliche Wahlkämpfer gewinnen" können, hat zumindest in den Umfragen auch nicht geholfen. Aber auch nicht geschadet.
In der ersten Maiwoche überboten sich die Meinungsforschungsinstitute einmal mehr mit ihren Erhebungen. Die SPD liegt weiterhin bei 13 bis 15 Prozent. Weder hü noch hott. Offenbar sind die Sozialdemokraten beim Bodensatz ihrer Wählerschaft angekommen. Dem Wiedereinzug in den Bundestag dürfte damit wohl nichts mehr im Wege stehen, auch wenn es zum Kanzleramt damit wohl eher nicht reichen wird. In der SPD-Parteizentrale tröstet man sich derweil über die brillanten Werte der Grünen-Hauptkonkurrenz mit einem klassischen Vergleich hinweg. Vor genau vier Jahren hatte die SPD mit dem damaligen Spitzenkandidaten Martin Schulz ebenfalls das Kanzleramt fest im Visier. Diese Vision endete mit dem bekannten 20,5 Prozent Debakel. Nun hoffen nicht wenige im Willy-Brandt-Haus nach dem damals fürchterlich entgleisten „Schulz-Zug" auf den „umgekehrten Scholz-Effekt". Mittelprächtig bis verhalten in der Anfangsetappe und dann auf der Zielgeraden voll durchstarten.
Soziale Frage im Mittelpunkt
In der Union ist man, allem Anschein nach, derzeit offenbar bemüht, dieses Unternehmen nach Kräften zu unterstützen. Im Rahmen des „umgekehrten Scholz-Effekts" setzen die Sozialdemokraten vor allem auf die massiven Verwerfungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt nach der Pandemie. Denn klar ist: Das Ausmaß der wirtschaftlichen und finanziellen Verwerfungen wird erst richtig deutlich, wenn der Nach-Pandemie-Alltag wieder voll angelaufen ist. Dann wird in den deutschen Innenstädten erst sichtbar, wieviel Restaurants und Geschäfte, Saunen und Fitnessstudios, Kinos oder Kleinkunstbühnen überhaupt noch aufmachen. Das Kurzarbeitergeld läuft aus, damit wird vermutlich spätestens Mitte Juli die Arbeitslosigkeit sprunghaft ansteigen. Das derzeit beherrschende Thema Klimawandel und Umweltschutz wird so automatisch in den Hintergrund rücken, dafür die soziale Frage dominieren. Ein guter Teil der Mittelschicht droht abzurutschen. Dieses politische Kalkül der SPD ist der sprichwörtliche Strohhalm, an den sich die Wahlkämpfer in Deutschlands ältester Partei klammern. Aber was sollen sie auch machen? Denn selbst der Führungsetage im Willy-Brandt-Haus ist in diesem Frühsommer klar, „ein Scholz allein macht noch keinen Wahlsieg". Darum heißt nun die Parole: Strohhalm plus Hoffnung. Der derzeitige Höhenflug von Bündnis90/Die Grünen in den Umfragen wird allen Erfahrungen nach nicht bis zum Wahltag anhalten, gleichzeitig läßt die Wahlkampf-Performance des Koalitionspartners in der Bundesregierung mehr als zu wünschen übrig. Die Union liegt in den Umfragen zwischen 23 und 25 Prozent, ein bis Dato nie erreichtes historisches Tief, zur Freude der SPD. Sollte die SPD tatsächlich noch zulegen, und die Grünen Federn lassen, könnte es zu einem Dreier-Kopf-an-Kopf-Rennen um das Kanzleramt kommen, wenn auch nicht auf Volksparteien-Niveau. Die Zeiten scheinen endgültig vorbei zu sein.