Seine Wasseranwendungen machten Sebastian Kneipp berühmt, doch Kneippen ist weit mehr als das. Seine ganzheitliche Therapie ist heute aktueller denn je. In diesem Jahr feiert der Naturheilkundler ein Jubiläum: Im Mai liegt sein Geburtstag genau 200 Jahre zurück.
Sebastian Kneipp ging als „Wasserdoktor" in die Geschichte ein. Bekannt wurde er vor allem durch seine Behandlungen mit kaltem Wasser. Viele Jahre besaß die Kneipp-Therapie ein angestaubtes Image. Sie galt als altmodisch, als Behandlung für Senioren in angestaubten Kurhäusern. Dass zu der Therapie viel mehr gehört als kaltes Wasser sowie die hohe Wirksamkeit, geriet zunehmend in Vergessenheit. Heute erlebt das Kneippen eine Renaissance. Der Geburtstag von Sebastian Kneipp jährt sich am 17. Mai 2021 zum 200. Mal. Seit 2016 zählt das Kneippen als „traditionelles Wissen und Praxis nach der Lehre Sebastian Kneipps" zum geschützten immateriellen Kulturerbe der Unesco. Mehr als 160.000 Mitglieder in den deutschen Kneippvereinen bekennen sich zu den Ratschlägen von Pfarrer Kneipp und gestalten ihr Leben nach seinen Empfehlungen.
Kneipp war seiner Zeit voraus. Er war ein Universalgenie in Sachen Naturheilverfahren. Sebastian Kneipp achtete auf sich selbst, auf die Menschen um ihn herum, er lernte und eignete sich das Wissen für seine Therapie an. Dabei war er ein Pfarrer bei den Dominikanerinnen im bayerischen Bad Wörishofen, der sich den Weg in die Theologie schwer erarbeitet hatte. Er musste gegen Gerichte kämpfen und gegen Ärzte, die seine Naturheilverfahren in Zweifel zogen. Doch schließlich konnte er immer mehr Menschen davon überzeugen, dass oft mit sanften, natürlichen Mitteln mehr Erfolg erzielt werden kann. Kneipp entwickelte eine ganzheitliche Therapie, die auf fünf Säulen basiert: Wasseranwendungen, Heilkräuter, gesunde Ernährung, Bewegung und Lebensordnung. Denn Körper, Geist und Seele gehörten für ihn immer zusammen.
Seine Forschung hat der Geistliche zwar schon vor rund 150 Jahren betrieben, doch sie ist heute nicht weniger aktuell. Ein gut funktionierendes Immunsystem, körperliche Fitness und Stressresistenz sind nicht nur wichtig für die Aktivierung der Selbstheilungskräfte, sondern auch für die Widerstandsfähigkeit. Deshalb dienen die Lehren Sebastian Kneipps der Gesundheitsprävention und sind ein überaus moderner Weg, gesundheitliche Beschwerden oder Schmerzen zu lindern. Kneippen unterstützt die Gesundheit und hilft bei vielen Erkrankungen. Es aktiviert die Selbstheilungskräfte und stärkt das Immunsystem, hilft bei Durchblutungs- und Kreislaufstörungen, bei Stress und Erschöpfung, bei Gelenk- und Muskulaturerkrankungen sowie bei Schlafstörungen.
Wasseranwendungen
„Lernet das Wasser und seine Anwendungen und Wirkungen recht kennen und es wird euch Hilfe bringen, wo Hilfe möglich ist", so Kneipp. Seine Wassertherapie, die Hydrotherapie, ist das Herzstück des Kneippens. Sie bietet rund 100 verschiedene Anwendungen mit kaltem und warmem Wasser. Beispielsweise wird durch die Berührung mit kaltem Wasser dem Körper Wärme entzogen, er muss selbst Wärme erzeugen. Dabei wird die Durchblutung angeregt, was sich positiv auf Heilungsprozesse und das Immunsystem auswirkt. „Auf Kaltwasserreize reagiert der Körper mit der Produktion von Wärme und mehr Abwehrstoffen, die durch eine verbesserte Durchblutung gleich dorthin gelangen, wo sie gebraucht werden", erklärt die Kneipp-Expertin und Dozentin Ines Wurm-Fenkl. Um eine positive Reaktion oder eine Regulation zu erzielen, gibt es für die Anwendungen einige Grundregeln. Akute entzündliche Krankheitsprozesse fordern eher Kaltreize, chronische sind besser durch Wärme zu behandeln. Temperatur und Dauer müssen richtig dosiert werden, damit es bei niedrigem Blutdruck nicht zu Herzklopfen nach einem Vollbad kommt oder man nach einer kalten Anwendung auf kalter Haut lange friert.
Nach jeder Anwendung mit kaltem Wasser ist die Wiedererwärmung wichtig, im warmen Bett oder durch Bewegung. „Für die Reizstärke gilt: Kleine Reize entfachen die Lebensfunktion, gut dosierte, mittlere Reize kräftigen und übergroße Reize schaden", erklärt der Kneipp-Spezialist Robert Bachmann, Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren in Bad Wörishofen.
Die Kneipp-Waschungen gehören zu den mildesten Anwendungen der Wassertherapie. Mit einem Waschtuch wird auf den ganzen Körper oder bestimmte Körperabschnitte ein dünner, meist kalter Wasserfilm aufgetragen. Dieser Reiz bewirkt zunächst eine Gefäßverengung und anschließend eine Gefäßerweiterung mit angenehmem Wärmegefühl. Regelmäßig durchgeführt, bewirken Waschungen eine Harmonisierung im vegetativen Nervensystem. Ebenso stabilisieren sie den Wärmehaushalt, der bei rheumatischen Erkrankungen wichtig ist. Außerdem stärken sie das Immunsystem und können als gezielte Maßnahme verdauungs- und schlaffördernd oder auch fiebersenkend angewendet werden. Die Oberkörperwaschung ist besonders bei Erschöpfung, funktionellen Organstörungen, rheumatischen Erkrankungen, Erkältungsanfälligkeit und Kreislaufstörungen geeignet. Die Unterkörperwaschung eignet sich bei Einschlafstörungen, Krampfadern, Darmträgheit und Blähungen sowie bei Schilddrüsenüberfunktion.
Ebenfalls gut zu Hause machbar sind die Kneipp-Güsse mit einem Wasserschlauch. Sie sind wenig zeitintensiv und stärken das Abwehrsystem und eignen sich zur Behandlung chronischer Krankheiten. Hier gilt: So viel Wärme wie nötig, so viel Kälte wie möglich. Knie- und Schenkelgüsse wirken auf Blase und Organe im Bauchraum. Arm-, Oberkörper- und Rückenguss sprechen die Organe des Atmungs- und Herz-Kreislaufsystems an. Temperaturansteigende Nackengüsse sind wirksam bei Verspannungen. Zur Wassertherapie zählen außerdem noch Wassertreten, Arm-, Sitz-, Teil- und Vollbäder, Wickel sowie kalte und warme Packungen, beispielsweise mit einem Heublumensack oder Kompressen aus einem gefalteten Leinentuch. Die Heilpraktikerin Ines Wurm-Frenkl, die seit über 30 Jahren Vorträge über die Wirksamkeit des Kneippens an der Kneipp-Akademie in Bad Wörishofen hält, kennt diese aus eigener Erfahrung. „Bei einer Gebärmuttersenkung nach der zweiten Geburt halfen Sitzbäder, auf eine Operation konnte ich verzichten", sagt die Dozentin. Sie hat auch einen Tipp für müde Homeoffice-Augen: „Die geöffneten Augen zehn bis 20 Sekunden lang in eine Schüssel mit kaltem Wasser halten, dabei hin- und herrollen und mit den Lidern klappern." Diese kurze Aktion helfe auch den Abwehrkräften der oberen Atemwege.
Heilkräuter
Die Pflanzenheilkunde war für Pfarrer Kneipp keine Alternative, sondern eine sinnvolle Ergänzung der Wasseranwendungen. Heilpflanzen in Tees, Bade- und Inhalationszusätzen oder als Auflagen und Wickel verstärken den Effekt der Wasseranwendungen. Die pflanzlichen Wirkstoffe, beispielsweise von Linden- und Lavendelblüten, Baldrian, Rosmarin und Arnika, schützen vor Erkrankungen und lindern Beschwerden.
Gesunde Ernährung
„Wer gesund und kräftig bleiben will und ein hohes Alter zu erreichen wünscht, der bewahre Einfachheit und Mäßigkeit in Speise und Trank", so Sebastian Kneipp. Eine ausgewogene gesunde Ernährung gilt heute wie zu Kneipps Zeiten als Voraussetzung für körperliches Wohlbefinden. Ziel der Kneipp’schen Ernährungstherapie ist eine Entlastung des Stoffwechsels, was insbesondere für ernährungsabhängige Krankheiten wie Diabetes, Übergewicht und Gicht von Bedeutung ist. Pfarrer Kneipp empfahl eine gesunde und natürliche Kost, um dem Körper die notwendigen Mineralien, Spurenelemente und Vitamine zuzuführen. Schon vor über 100 Jahren war er so ein Verfechter der Vollwertkost. Kneipp riet seinen Patienten, viele Vollkornprodukte, viel Gemüse und Obst zu essen, wenig Fleisch, Kaffee und Alkohol zu sich zu nehmen.
Bewegung
Zu der ganzheitlichen Therapie von Kneipp gehört auch ausreichend Bewegung, um das Herz, den Kreislauf, die Leistungsfähigkeit und das Immunsystem des Körpers zu stärken. Kneipp empfahl vor allem Ausdauersportarten wie Radfahren, Schwimmen, Joggen und Wandern. Aber auch Gymnastik oder ein ausgiebiger Spaziergang an der frischen Luft fördern die Gesundheit und helfen Stress abzubauen. Die gewünschten besseren Leistungen und eine bessere Fitness erreicht man in allen Sportarten nur dann, wenn man regelmäßig übt, möglichst dreimal pro Woche jeweils 45 Minuten.
Lebensordnung
„Erst als ich Ordnung in die Seelen der Menschen brachte, besserten sich auch die körperlichen Gebrechen", erklärte Kneipp. Die fünfte Säule der Kneipp-Therapie entspricht der heutigen Work-Life-Balance. Die Lebensordnung steht für einen gesunden Wechsel von Anstrengung und Ruhephasen, für Ausgeglichenheit und innere Stabilität. Kneipp erkannte, dass seelische Konflikte zu psychosomatischen Beschwerden führen und die Ursache für Krankheiten sein können. Heute ist es negativer Stress durch Belastungen im Beruf und Alltag, der zu körperlichen und psychischen Leiden führt. Auch ein gesunder erholsamer Schlaf ist essenziell für die Funktion von Immunsystem, Stoffwechsel und Hormonen sowie für die Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden. Eine aktuelle Studie der Ludwig-Maximilians-Universität in München belegt, dass das ganzheitliche naturheilkundliche Therapie-Konzept nach Sebastian Kneipp bei Schlafstörungen hilft. Zu den wichtigsten Entspannungsmethoden im Sinne Kneipps zählen heute Atemtherapie, Autogenes Training, Yoga und Tanztherapie.