Seit über einem Jahr hat Corona die Welt im Griff. Immer mehr Menschen sind „pandemüde" – und mit diesem Status steigt auch die Gefahr, dem Virus noch mehr Nährboden zu bieten, mahnt Dr. Christian Braun, Geschäftsführer und Ärztlicher Direktor des Klinikums Saarbrücken.
Herr Dr. Braun, seit über einem Jahr kämpft die ganze Welt gegen Covid-19. Eine Ausnahmesituation, die alle sehr müde macht. Sie sprechen hierbei von „pandemüde". Wann hat sich dieses Gefühl in der Bevölkerung eingeschlichen?
Je länger eine solche Ausnahmesituation anhält – die ja nicht nur medizinische Aspekte betrifft, sondern im Grunde das Leben jedes Einzelnen im Beruflichen, im Privaten und im Gesellschaftlichen mehr oder weniger stark tangiert – desto mehr wird man in einer solchen Situation müde. Man wird antriebslos, sucht nach dem Sinn, hinterfragt Entscheidungsträger und fühlt sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Das alles kann ich verstehen, mir geht es manchmal genauso. Dennoch: Corona wird nicht einfach verschwinden. Wir müssen etwas dafür tun, alle gemeinsam, sonst werden wir es nicht schaffen.
Ich habe nach dem Sommer 2020, wo es eine Phase des Durchatmens gab, deutlich gemerkt, dass einfach viele Menschen erschöpft sind und in dieser Situation müde werden. Nachvollziehbar, wie gesagt, auch mir steckt das vergangene Jahr und die 24/7-Anspannung in den Knochen. Dennoch hilft es nichts, wir müssen gemeinsam da durch.
In der ersten Phase der Pandemie, weil auch eine gewisse Schockstarre vorgeherrscht hat, war zum Beispiel ein Aktionismus und ein großes Engagement nach dem Motto „Wir schaffen das" vorhanden. In der zweiten Welle habe ich das schon weniger gespürt. Inzwischen ist es noch weniger geworden.
Das Gefühl spitzt sich zu. Auch, weil die Organisation und der Umgang mit der Pandemie seitens der Bundesregierung etwas chaotisch scheint, so wie im Fall von Astrazeneca ...
Ich möchte zunächst etwas Positives voranstellen: Vor einem Jahr sind wir alle in eine Situation geraten, die sich niemand vorstellen konnte. In einer Dimension, die keiner von uns so auf dem Schirm hatte und auch keiner davon ausgegangen ist, dass es so lange andauern wird. Man muss ja auch bedenken: Es ist das erste Mal, dass wir alle miteinander so etwas durchstehen (müssen). Innerhalb sehr kurzer Zeit hat man Impfstoffe entwickelt, die meiner Meinung nach das zentrale Instrument sind, um aus dieser Pandemie herauszukommen. Das allein ist schon ein großer Schritt, das darf man nicht vergessen.
Das Ganze ist sicherlich auch mit großen Erwartungen an den Start gegangen, aber am Ende muss man auch sortieren und sachlich ordnen, beispielsweise, wie schnell hochwirksame Impfstoffe an den Start gebracht wurden.
Dass es in einer solchen Situation, wo sehr viel Neuland betreten wird, zu Rückschlägen kommt, damit musste man auch rechnen.
Ich glaube, die anfänglichen Erwartungen waren zu optimistisch an mancher Stelle. Natürlich ist es teilweise auch an bürokratischen Hürden gescheitert – an der Impfstoffbeschaffung, an der Logistik, an der Verteilung und so weiter. Mittlerweile hat die Situation eine emotionale Emanzipation erlebt, die ich nicht immer für gut erachte. Gerade die Diskussionen um Astrazeneca haben aber gezeigt, dass die Überwachung von Risiken im Bereich der Arzneimittel und Impfstoffthematik in Deutschland und Europa sehr gut funktioniert.
Es ist auch ein wichtiges Signal an die Bevölkerung und an die Menschen: Nur durch Transparenz und eine ganz seriöse Untersuchung und Aufarbeitung möglicher Nebenwirkungen kann die Basis dafür geschaffen werden, dass man das dringend notwendige Vertrauen in die Sicherheit und Wirksamkeit von Impfstoffen und Arzneimitteln erreicht und auch bewahrt.
Wenn Sie das Vertrauen ansprechen: Wie hat es sich entwickelt? Schwindet das Vertrauen?
Wenn man die mediale Berichterstattung verfolgt, hat sich das Bild schon ein Stück weit gegenüber dem Frühjahr des vergangenen Jahres gedreht. Ich glaube aber auch, dass es ein erwartbarer Prozess gewesen ist, dass man aus dieser Schockstarre heraus, die teilweise geherrscht hat, nach dem anfänglichen Aktionismus im Verlauf der Pandemie anfängt, kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren. Damit musste man rechnen. Genauso ist es auch sehr wichtig in einer Demokratie, dass Dinge kritisch diskutiert werden.
Sorge bereitet mir, dass das Pendel über dieses Maß hinausschlägt und Dinge überkritisch bewertet werden und dann auch teilweise der Boden der sachlichen Diskussion mitunter erodiert. Das halte ich für schwierig, weil wir nur gemeinsam und geschlossen sowohl politisch, gesellschaftlich und in vielen anderen Dimensionen durch diese Pandemie kommen werden. Wenn nur Einzelne bestimmte Dinge tun, entsteht ein Ungleichgewicht, das zu viel Nährboden für den weiteren Durchmarsch der Pandemie bietet.
Wie hat sich der Kampf gegen Corona seit 2019 verändert?
Wenn man die vergangenen 15 Monate Revue passieren lässt, waren wir Anfang 2020 zum ersten Mal durch die Berichte über Corona in China damit konfrontiert. Damals war die Pandemie noch weit weg und wenig greifbar. Alles war noch sehr abstrakt. Im Februar hat man aber schon gesehen, dass das Abstrakte näherkommt.
Ich erinnere mich noch ganz genau daran, als Anfang März der erste Patient im Saarland bekannt wurde, und welches unglaubliche Interesse dieser Fall erweckt hat. Dann nahm Corona auch im Saarland rasch Fahrt auf. Was uns im Corona-Schwerpunktzentrum neben dem Medizinischen sehr umgetrieben hat, war das ganze Drumherum, organisatorische Rahmenbedingungen, tägliche Krisensitzungen und so weiter. Innerhalb weniger Tage musste man die ganze Infrastruktur und die damit verbundenen Prozesse neu ausrichten. Am 12. März hat Gesundheitsminister Spahn alle Krankenhäuser aufgefordert, planbare Eingriffe bis auf Weiteres zu verschieben und Ressourcen für Covid-Patienten aufzubauen. Das heißt, die komplette Ausrichtung des Hauses ist auf Covid umgestellt worden: Wir haben Covid-Beatmungszentren, Covid-Isolierstationen und eine eigene Covid-Notaufnahme hergerichtet – alle Ressourcen in diese Richtung geshiftet und alles Planbare, was medizinisch vertretbar war, bis auf Weiteres verschoben.
Das stellt ein Unternehmen mit 2.000 Mitarbeitern schon vor sehr große Herausforderungen. Zu diesem Medizinischen – was immer im Vordergrund steht – kamen weitere Aspekte dazu. Die Grenzen wurden geschlossen. Wir haben 165 Menschen, die täglich grenzpendeln. Was passiert mit denen? Wie geht es weiter? Das waren Fragen, die uns zum damaligen Zeitpunkt sehr beschäftigt haben. Ende März gab es in der Länderregierung die Bekanntgabe, dass die Freiheit der Bürger eingeschränkt wird. Der Lockdown nahm mehr und mehr Form an und Fahrt auf. Auch das waren Einschränkungen, die jeden Einzelnen betroffen haben.
Diese ganzen Themen aufzufangen, sie zu kanalisieren, darüber zu informieren und die Belegschaft auf diese Situation, die noch nie jemand vor uns auch nur ansatzweise erlebt hat, einzustimmen, das war mit die größte Herausforderung, die es in dieser Zeit gab. Wir haben eine sehr intensive Informationspolitik betrieben, fast täglich E-Mails an alle Mitarbeiter geschrieben und den aktuellen Stand kundgetan. Auch das Thema der Beschaffung von medizinischen Gerätschaften und Verbrauchmaterialien war in der Anfangsphase mit enormen Aufwänden und Unsicherheiten verbunden.
Nun haben die ansteckenderen Virus-Varianten das Ruder übernommen. Die ansteigenden Infektionszahlen schlagen sich auch wieder in den Kliniken nieder. Deshalb ist es so wichtig, dass wir mit dem Impfen vorankommen und trotzdem weiterhin konsequent die Hygiene- und Abstandsregeln beachten. Das Virus nutzt jede Gelegenheit, sich auszubreiten, es kennt keinen Tag und keine Nacht und auch keine Landesgrenzen.