Seit Jahrzehnten stellt Dr. Theiss Naturwaren Arzneimittel, Medizin- und Kosmetikprodukte her. Maßgeblich geprägt hat diese Ära Giuseppe Nardi. Der einstige Azubi ist heute der geschäftsführende Gesellschafter des mittelständischen Familienunternehmens und blickt auf eine erfolgreiche Karriere zurück.
Herr Nardi, Sie werden dieses Jahr 55 Jahre alt. 34 Jahre davon haben Sie im Unternehmen Dr. Theiss verbracht, von der Ausbildung bis zum geschäftsführenden Gesellschafter. Haben Sie sich Ihre Karriere immer so vorgestellt?
Nein. Ich habe mit 18 Jahren hier begonnen, damals waren wir 35 Mitarbeiter*innen, mit einem Umsatz von weniger als zehn Millionen D-Mark. Jetzt sind wir 2.000 mit mehreren Hundert Millionen Euro Umsatz pro Jahr und haben über die Jahre knapp 100 Millionen Euro an unserem Hauptstandort in Homburg/Saar investiert. Das Meiste davon ist jedoch erst in den vergangenen 15 bis 20 Jahren passiert. Das ist rasant und für mich, als Sohn italienischer Gastarbeiter, bis heute etwas Besonderes.
Wie war Ihr Werdegang?
Ich wollte schon immer Kaufmann werden – kein Feuerwehrmann oder Astronaut, sondern Kaufmann. 1983 habe ich die Schule mit Mittlerer Reife verlassen, um auf die Höhere Handelsschule zu gehen. Aber ich konnte nicht studieren. Mein Vater war Stahlarbeiter und zu jenem Zeitpunkt zeichnete sich ab, dass das Eisenwerk in einer tiefen Krise steckte. Deshalb habe ich mich dann auf eine Lehrstelle bei Dr. Theiss Naturwaren beworben. Bis heute arbeiten zwei weitere Menschen hier, die damals mit mir ihre Lehre begonnen haben. 1986 arbeitete ich im Exportbereich des Unternehmens und habe mich bemüht, dass unsere Kund*innen sich immer wohlfühlen: Als damals ein italienischer Kunde meines Geschäftspartners Prof. Dr. Peter Theiss auf seiner Reise durch Europa zu Besuch kam, habe ich ihm selbst gemachten Espresso angeboten, um eine besondere Atmosphäre zu schaffen und das Treffen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Espresso aus dem klassischen Espresso-Kocher gehörte in den 1980er-Jahren nicht zum Standard in Deutschland.
Sie haben nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schnell nach Osten expandiert, warum?
Weil wir schnell gemerkt haben, dass die Kund*innen nach Naturheilmitteln wie den unseren suchten. Naturheilkunde wie auch Verbraucherwünsche waren zuvor stark unterdrückt worden. Das Überqueren von Grenzen mit unserem Sortiment im Kofferraum war zwar damals nicht einfach, aber es hat sich schnell gezeigt, dass die Zukunft unserer Produkte sogar noch weiter im Osten lag. Ich habe selbst erlebt, dass Verkäufer aus Polen zu dieser Zeit in einer Apotheke in Frankfurt/Oder Produkte wie Klosterfrau Melissengeist und Biovital in großen Tüten gekauft haben, um sie über die Grenze zu bringen und daheim zu verkaufen, weil die Nachfrage dort so groß war. Das war eine wichtige Erfahrung. Peter Theiss und ich haben dann angefangen, Tochter- und Vertriebsgesellschaften in den osteuropäischen Ländern zu gründen, um neben unseren Produkten all die Naturheilwaren zu vertreiben, die man hier kennt: Klosterfrau, Ricola, Schwedenbitter und vieles mehr. 1990 haben wir das Russland-Geschäft etabliert, damals noch in der Sowjetunion, das viele Krisen bis jetzt gut überstanden hat und neben Polen, Rumänien und der Ukraine der wichtigste Exportmarkt ist. Dazu kam aber auch Glück: Weil wir merkten, wie wichtig die medizinische Zahnpflege Lacalut für uns werden würde, habe ich die damaligen Lizenzinhaber für diese Marke, den Konzern Boehringer Ingelheim, gebeten, uns die Marke zu verkaufen. Das hat die Familie Boehringer tatsächlich getan.
Nach welchen Kriterien haben Sie Ihre Betriebe in Osteuropa aufgebaut?
Wir hatten kein Geld, um Vertriebler und Stäbe aus Deutschland dorthin zu schicken, um das Geschäft aufzubauen. Stattdessen haben wir mit regionalen Partnern zusammengearbeitet. Einige von ihnen gehören noch heute zu den langjährigen und wichtigen Partnern von Dr. Theiss, zum Beispiel in Polen und Bulgarien.
Wie viel Prozent macht das Osteuropa-Geschäft gegenüber dem deutschen Geschäft aus?
Damals waren es zehn Prozent in Deutschland, der Rest in Osteuropa. Heute sind wir bei 25 Prozent des Gesamtumsatzes in Deutschland. Dafür haben wir mehrere Anläufe gebraucht, die Olivenöl-Pflegeserie brachte uns hier letztlich den Durchbruch.
Wie kam es dazu?
Durch einen witzigen Zufall. Eines Abends bekam ich von einem Freund einen Anruf, er habe mit kretischen Bauern gefeiert und dabei 2.000 Liter Olivenöl bestellt. Die musste er nun irgendwie loswerden, also habe ich ihm angeboten, sie hier bei uns unterzustellen. Niemand wusste, was wir damit anfangen sollten. Ständig war unsere Qualitätssicherung hinter mir her und ermahnte mich, dass bald etwas mit dem Öl passieren musste, bevor es nicht mehr den Qualitätskriterien entsprach. Irgendwann war ich so genervt und habe gesagt: „Gut, machen wir eben eine Creme daraus!" Wir haben also ein Marketing-Konzept erstellt, Produkte entwickelt, italienisches Olivenöl eingekauft. Heute ist sie die erfolgreichste Hautpflegeserie im deutschen Apothekenmarkt. Dr. Theiss Naturwaren steht heute insgesamt auf Platz drei, hinter Konzernen wie L’Oreal oder der Beiersdorf AG.
Dr. Theiss Naturwaren gehörte damals zum Wella-Konzern. Warum haben Sie die Anteile wieder zurückgekauft?
Es hat sich gezeigt, dass die Philosophie der Wella AG und unsere nicht übereinstimmten. Deshalb haben Peter Theiss und ich die Anteile über mehrere Jahre wieder zurückgekauft, bis die Altschulden getilgt waren. Erst dann konnten wir richtig durchstarten.
Mittlerweile gehören weitere Marken zum Konzern. Welches ist die wichtigste für Sie?
Allgäuer Latschenkiefer war eine der wichtigen Akquisitionen für uns, eine bekannte Marke, auch im Sportsponsoring beim 1. FC Kaiserslautern. Wir haben sie aufgefrischt, verjüngt und modernisiert und mit mehr Produkten ausgestattet, vor allem im Fußpflegebereich. Die Marke erlebt derzeit eine Renaissance, weil die Menschen auch durch die Pandemie naturnäher leben möchten.
Die Öffentlichkeit haben Sie bis heute eher selten gesucht, warum sind Sie jetzt zu einem Interview bereit?
Ich bin nun wegen der Größe des Unternehmens darauf angewiesen, dass die Menschen verstehen, wer wir sind und welche Ziele wir verfolgen.
Wie würden Sie denn Ihre Rolle in diesem Unternehmen beschreiben?
Ich würde sagen, ich bin die „Nase" des Unternehmens. Zum Beispiel hatte ich gemerkt, welche großen Zahnfleischprobleme Menschen, die in Osteuropa leben, aufwiesen. Also war ich davon überzeugt, dass eine medizinische Zahnpasta nötig wäre. Ich kam auf die Idee, die Marke Lacalut, die wir in Lizenz von Boehringer Ingelheim vertrieben, im Osten anzubieten. Heute macht Lacalut 100 Millionen Euro Umsatz unseres Unternehmens aus, wir verkaufen mehr als 50 Millionen Tuben Zahnpasta pro Jahr. Kinder dort brauchten mehr Vitamine, also habe ich ein Vitamintonikum mit Pfirsichgeschmack entwickelt. Damen in Osteuropa sind sehr schönheitsbewusst, also habe ich ein Schlankheitsmittel und Pflegeprodukte entwickelt.
Das heißt, der Kaufmann Nardi hat den Markt beobachtet und der Apotheker Theiss hat die Produkte medizinisch entwickelt?
Genau – entwickelt, erforscht und medizinisch getestet.
Aber nur für Apotheken, warum nicht bei Discountern?
Unsere Produkte haben eine medizinische Orientierung, also braucht es Beratung. Die finden wir so nicht in Discountern, das kompetente und geschulte Fachpersonal findet sich nur in Apotheken.
Was inspiriert Sie?
Als ich hier Lehrling war, hat mir mein damaliger Abteilungsleiter das Buch von Lee Iacocca geschenkt, ehemals Manager von Ford und Chrysler. Iacocca entwickelte die Produkte und war gleichzeitig für deren Marketing zuständig. Sein Gespür für Produkte, die die Menschen brauchen, war einzigartig. Ich möchte mich nicht mit ihm vergleichen, aber wir denken ähnlich. Wir hören nicht auf, den Trend zu erkennen. Deshalb bin ich sehr aufmerksam, wenn ich in Apotheken oder Parfümerien bin. Mich interessiert brennend, was die Menschen fernab von Marktforschung und Analysen so denken. Ich interessiere mich dafür, welche Produkte meine 23-jährige Tochter benutzt und warum. So war es auch mit unserem Selbstbräuner, die erfolgreichste Einführung eines Produktes im Apothekenmarkt im vergangenen Jahr, zum sechsten Mal in Folge. Auf diese Weise erhalte ich meine Inspirationen für neue Produkte, indem ich frage, welche Wünsche die Menschen bewegen.
Wie tief steigen Sie dann in die Produktentwicklung ein?
Ich liefere Ideen, Konzepte für das Marketing, höre auf meine Mitarbeiter*innen, die mich beraten und meine Ideen umsetzen. Zu Beginn der Pandemie hatte ich beispielsweise die Idee für eine Einschlafhilfe, weil ich wusste, Menschen machen sich Sorgen, schlafen vielleicht schlecht. Körpereigenes Melatonin hilft uns beim Einschlafen. Im Alter nimmt die Melatonin-Produktion ab, deshalb schlafen ältere Menschen weniger. Also haben wir ein Melatonin-Mundspray entwickelt, weil Melatonin über die Mundschleimhäute gut resorbiert wird. Man muss eben früh genug Probleme und Wünsche der Menschen erkennen und sich auf die Lösungen konzentrieren.
Was bedeutet für Sie Unternehmenschef, ein Manager, zu sein?
Ich bin für das Unternehmen und die Mitarbeiter*innen verantwortlich. Wenn dunkle Wolken aufziehen, bin ich die erste Verteidigungslinie. Krisen haben wir einige erlebt, für mich aber ist es immer wieder eine spannende Herausforderung. Unternehmenschef zu sein bedeutet aber auch, dass man seine Menschlichkeit nicht verliert. Dass man weiß, wo die eigenen Wurzeln sind und seinen Mitarbeiter*innen etwas an Erfahrungswissen vermittelt, damit sie künftig auch selbst besser mit Krisen umgehen können. Auf dem Weg zum Manager darf man sich nicht verlieren.
Wie führen Sie?
Ich berufe keine Konferenzen und Besprechungen ein, in denen jeder seinen Pitch vorträgt oder gebrainstormt wird. Ich bringe meinen Leuten bei, das Wesentliche zu bearbeiten. Keine Show, mehr Praxis. Hast du eine gute Idee, musst du sie begründen. Fertig. Das ist unsere Stärke, so bilden wir auch unsere Leute aus. Ich bin kein Unternehmenschef, der die Leute im Büro nacheinander empfängt, sondern ich laufe täglich mehrmals quer durch das Unternehmen, werde gerufen oder schneie kurz herein und schaue mir etwas aktuell an. Ich bin ein beweglicher Chef, der die Mitarbeiter*innen an ihrem Arbeitsplatz aufsucht, nicht umgekehrt.
Wer hilft Ihnen dabei, Sie selbst zu bleiben?
Meine Familie und mein Freundeskreis. Ich bin sehr heimatverbunden, also zieht es mich nicht so in die Ferne. Ich versuche, ein normales Leben zu führen. Und Sport zu treiben.
Welchen Sport?
Joggen. Ich habe zwei Freunde, mit denen ich mich fast jeden Morgen treffe und im Wald laufe. Früher war ich begeisterter Leichtathlet.
Sie sagen, Sie haben eine gute Nase für Geschäfte. Haben Sie die Bedarfe an Desinfektionsmitteln ebenfalls vorausgesehen?
Ja, wir haben, wie damals zu Zeiten der Schweinegrippe, schon 70.000 Packungen Desinfektionsgel produziert, als die Pandemie begann, und schon verteilt: an Tafeln, an die Kirche, die Mitarbeiter*innen und ihre Familien. Als die Landesregierung anrief und uns fragte, ob wir sie mit Desinfektionsgel versorgen können, liefen schon längst die Maschinen.
Wie hat das Unternehmen die Pandemie bislang erlebt?
Zu Beginn hielten sich die Menschen nicht einmal gerne länger in Apotheken auf. Im Februar 2020 haben wir alle Hygienethemen in den Vordergrund gestellt statt Kosmetika, das war in diesem Moment wichtiger. Unsere Erkältungsmittel waren weniger gefragt, weil die Kontaktbeschränkungen dazu geführt haben, dass es weniger Erkältungen gibt. Aber wir haben unseren Teil dazu beigetragen, dass wir alle diese Krise so gut wie möglich meistern. Zum Beispiel hatten wir Zugriff auf 700.000 Masken, weil wir diese in der Produktion brauchen. Den Großteil davon haben wir sofort gespendet, ohne großes Tamtam.
Neben vielerlei Sponsoring-Aktivitäten sind Sie auch Eigentümer des italienischen Restaurants „Oh!lio". Können Sie dort eigentlich entspannen oder achten Sie dort immer darauf, wie die Belegschaft arbeitet?
Ich gebe zu, ich schaue schon, was um mich herum passiert. Aber es ist eine Art Entspannung – so wie manche im Garten körperlich arbeiten und dabei entspannen können.
Was essen Sie dort am liebsten?
Spaghetti Bolognese und Spaghetti Carbonara. Dazu Weißwein aus dem Friaul, wenn es ein Roter sein darf, ein Sangiovese, zum Beispiel ein Chianti Classico. Gelegentlich gönne ich mir auch gerne einen Brunello.
Und Sie lesen in Ihrer Freizeit gerne, Sie haben eine Unternehmensbibliothek mit Bücherausleihe eingerichtet. Lesen ist Ihnen sehr wichtig. Warum ist das so?
Eine Freundin der Familie hat gemerkt, dass ich als Kind vieles auswendig wusste. Bei uns zu Hause gab es kaum Bücher, aber sie hat mich mit in eine Bibliothek genommen. Und die habe ich dann einmal komplett durchgelesen. Außer Pferdebücher und Liebesromane. Mein Lieblingsautor ist Hermann Hesse, den ich bis heute gerne lese und immer wieder neue Facetten darin entdecke. Gerade lese ich wieder „Siddhartha", denn mich fasziniert, dass mein Weg eben auch Teil des Zieles sein kann. Lesen bildet die Fantasie aus und stärkt die Vorstellungskraft. Man gewöhnt sich daran, Bilder im Kopf zu entwickeln. Und dies ist im Marketing sehr wichtig, indem man einen Werbespot oder eine Kampagne schon vor dem inneren Auge sieht. Lesen hilft dabei, sich besser auszudrücken, den Wortschatz zu vergrößern. Ich bedauere, dass heute meiner Meinung nach zu wenige Menschen lesen, ob Zeitung oder Literatur. Es gibt Menschen, die hadern damit, dass sie zu wenig von Wein verstehen. Dabei ist das doch kinderleicht: Kaufen Sie sich ein Buch und fangen Sie einfach an zu lesen.
Was bringt Sie richtig auf die Palme?
Wenn man nicht aus Fehlern lernt. Ich versuche, meine Mitarbeiter*innen mit Erfahrung weiterzubilden. Sollten sie aber diese Erfahrungen, die ich ihnen vermittelt habe, nicht anwenden, weil ich kurz nicht hingeschaut hatte, bringt mich das auf die Palme. Ich möchte selbstständige Mitarbeiter*innen.
Welche Ziele hat das Unternehmen in den kommenden Jahren?
„Die Lebensmittel Zeitung" hat unsere medizinische Zahncreme als Topmarke ausgezeichnet, weil Lacalut die am schnellsten wachsende Marke mit Potenzial für mehr ist. Wir möchten in den kommenden Jahren auch zu den führenden Zahnpflege-Marken gehören.
Welches Fazit ziehen Sie aus den vergangenen Jahrzehnten, auch an der Spitze des Unternehmens Dr. Theiss Naturwaren?
Es gehört sicher Tüchtigkeit dazu, ein Familienunternehmen zu einer solchen Größe wie heute aufzubauen. Aber genauso wichtig sind auch Glück und gute persönliche Netzwerke, ein gutes Timing. Ich bin dankbar und demütig, dass dies oft gelungen ist.