Der Jakobsweg hat Konkurrenz bekommen. Der Pilgerweg Camino Ignaciano in Spanien folgt den Spuren des Heiligen Ignatius, Mitbegründer des Jesuitenordens.
„Hey, ihr lauft in die falsche Richtung“, ruft ein Jakobspilger den entgegenkommenden Wanderern zu. Der Mann mit der Muschel am Rucksack ist kurz vor Logroño, einer wichtigen Pilgerstation, und marschiert in Richtung Westen. Seine Sehnsucht liegt in Galizien. Sein Ziel ist die Kathedrale von Santiago de Compostela, die vor 1.000 Jahren über dem Grab des Apostels Jakobus erbaut wurde.
Seither ist es so. Alle gehen nach Westen. Doch der Heilige Jakob hat nun Konkurrenz bekommen. Es gibt einen zweiten Pilgerweg, den Camino Ignaciano, der ebenfalls durch Nordspanien führt. Allerdings in die andere Richtung – nach Osten. Dorthin, wo die Sonne aufgeht, wo das Licht ist. Er versteht sich als eine Anti-Tour zum Trubel auf dem Santiagoweg, den in normalen Jahren Tausende gehen. Auch in diesem Jahr werden sich viele auf den Weg machen, auch trotz Corona, denn es ist ein Heiliges Jahr.
Der Camino Ignaciano beginnt im baskischen Loyola, wo der Heilige Ignatius geboren wurde, und führt ebenfalls durch Logroño. Die Provinzhauptstadt von La Rioja ist ein Knotenpunkt der beiden Pilgerrouten. Dann nimmt der Ignatius-Weg seine Richtung von Navarra bis nach Katalonien auf. Anders als beim Jakobsweg folgt der Ignatius-Pilger keiner Legende, sondern den Spuren eines Menschen, der im 16. Jahrhundert tatsächlich gelebt hat: dem Begründer des Jesuitenordens. Es ist der Weg seiner Bekehrung vom adligen Ritter zum gottesfürchtigen Bettler.
Vorbei an Weinbergen in La Rioja
„Der Jakobsweg war eine Erfindung des Mittelalters“, sagt José Luis Iriberri, Direktor des Ignaciano-Pilgerbüros in Barcelona. „Wir haben den Ignatiusweg für das 21. Jahrhundert erfunden.“ Der Jesuitenpater nahm sein Fahrrad und einen Topf Farbe, radelte den Spuren des Ignatius Loyola nach und pinselte als Erkennungszeichen orangefarbene Pfeile auf Hausecken, Felsbrocken und Bäume. Die gut 750 Kilometer lange Strecke ist fast durchgängig ausgeschildert. Die Wegweiser sind mit dem Sonnensymbol gekennzeichnet, dem Pendant zur Jakobsmuschel. Pilger können unterwegs die Routenbeschreibung der Webseite abfragen.
Loyola liegt im Baskenland. Vieles ist hier anders als im übrigen Spanien, nicht nur die Sprache. Das Land ist grün wie in Oberbayern, und vor den Balkonen lachen Geranien. Das Dorf im Urulatal gehörte einst dem reichen Grafen von Loyola. Ignatius Iñigo Lopez Oñaz y Loyola hatte eine steile Karriere vor sich. Doch eine Kanonenkugel zertrümmerte sein Bein und seine Laufbahn als Ritter. Iñigo trat eine Reise nach Innen an, die sein Leben vollständig veränderte.
Man kann sein Geburtshaus besichtigen, ein festungsartiges Schloss, mehr Wehrturm als Wohnhaus. Im ersten Stock stehen sein Krankenbett und die Kapelle, wo der Besucher erfährt – auch auf Deutsch –, wie es 1522 zur Erleuchtung kam. Draußen erkennt man einen Rest der mittelalterlichen Pflastersteine, auf denen der damals 31-Jährige aufbrach, um zu Gott zu finden.
Heute wird das Dorf von der barocken Basilika beherrscht, die für den 400-Seelen-Flecken völlig überdimensioniert erscheint. Die Sancti Ignatii-Basilica mit Jesuitenkolleg wurde 1680 zu Ehren des Heiligen erbaut und demonstriert, wie mächtig der Orden schon war. Im Hintergrund der Kuppeln zeichnen sich Berge wie in den Alpen ab. Alles ist grün, Kühe grasen wie auf Almen, dicht stehen die Wälder.
Die Route führt den Pilger bei der Stadt Oñati zur Wallfahrtskirche Arantzazu, einer noch größeren Klosteranlage, die wie eine Halluzination aus den Felsen des Monte Aitzkorri steigt. Der bizarre Komplex, der keine 100 Jahre alt ist, geht auf eine Marienerscheinung im Jahr 1468 zurück und wird von Franziskanern bewohnt. Weiter geht es steil durch das Bergland und den Naturpark von Aitzkorri, wo der Wanderer die fast meditative Landschaft nahezu für sich haben kann. Das Glockengebimmel erinnert an die Weiden Schleswig-Holsteins; doch es sind Pottokas, eine baskische Ponyrasse, die hier wie Kühe grasen.
In der Region La Rioja erhöht sich die Zahl der Weinberge wie der Pilger. „Wohin lauft ihr?“ fragen wieder Muschelwanderer. Gegen den Strom, den orangefarbenen Pfeilen und der Sonne nach. Logroño spült die Pilger in die historische Altstadt und die Calle Laurel. Denn es ist Mittag, und in der Straße der Tapas kann man für wenig Geld die verschiedensten Köstlichkeiten probieren.
Sicher muss man Loyola nicht nachgehen, um sein Leben umzukrempeln. Aber vielleicht, um ein paar Tage zu verschwinden, neue Einsichten in der Natur oder mit Menschen zu finden. Und wieder ändert sich das Landschaftsbild. In der weiten Ebene des Ebro-Flusses gelangt man nach Alfaro, das sich zur Welthauptstadt der Störche erkoren hat. Tatsächlich nisten auf allen Dächern Storchenpaare. Sie lieben besonders die barocken Kirchdächer. Im Ebrotal haben Pilger noch Seltenheitswert. „Buen Camino!“ grüßen freundlich die Bewohner in den Dörfern.
„Gehe langsam. Je langsamer, desto besser“
Die Halbwüste Los Monegros in Aragón ist eine menschenfeindliche Gegend, wie man sie im sonst grünen Norden Spaniens kaum erwartet. Da muss man durch. Auf Hitze und Durststrecken muss man sich gefasst machen. Danach kann man aufatmen. Schon in Katalonien wird die Felsenskyline des Sandsteingebirges Montserrat schnell dramatischer, bis man den ebenso dramatischen Wallfahrtsort Montserrat erreicht. Wie Finger, Säulen oder Palisaden zeigen die voluminösen Steinzacken im Rücken des Benediktinerklosters in den Himmel. In dieser bizarren Felsenwelt legte Ignatius de Loyola seine feinen Kleider und sein Schwert für immer ab. „Ignatius ist unser bedeutendster Pilger“, sagt Prior Ignasi Fossa. Für ihn ist der Heilige ein spirituelles Abenteurer. Denn Pilgern sei eine Metapher des Lebens, und ein Pilgerweg gebe in kurzer Zeit wieder, was ein ganzes Leben bedeute.
Wenn man den Zauber des Ortes verstehen wolle, solle man über Nacht bleiben, rät der Klosterchef. Denn erst zur Dämmerung lichtet sich der große Platz vor der Basilika, auf dem sich am Tage Hundertschaften drängeln, die mit Bussen und Zahnradbahn auf das 1.236 Meter hohe Bergplateau fahren. Alle zieht es zum Heiligtum, dem Thron der Schwarzen Madonna. Das Spirituelle zu finden sei in Zeiten ohne moderne Verkehrsmittel gewiss leichter gewesen, gesteht Fossa ein. Für moderne Pilger hat er jedoch einen guten Rat: „Gehe langsam. Je langsamer, desto besser.“ Bei fünf Stundenkilometern gehen die drei Elemente Seele, Geist und Körper im Einklang. Bei schnellerem Gehen käme immer erst der Körper, dann die Psyche und ganz zuletzt die Seele an. „Den Schmerz fühlst du immer“, sagt der Mann im schwarzen Ornat. Deshalb sei die Erfahrung so mächtig.
Nach Manresa, dem offiziellen Endpunkt des Caminos, sind es nur noch sechs Kilometer. Der Endpunkt wird es nicht leicht haben, zum Sehnsuchtsziel zu werden wie die Kathedrale von Compostela. Zu unromantisch ist die Industriestadt. Über die mittelalterliche Brücke, die sich über graue Bahngleise spannt, erreichte auch Ignatius die Höhle, in der er neun Monate fastete, betete und beschloss, Christus nachzufolgen. Wenn man aber aufblickt und das Sanktuarium sieht, überwältigt doch die Freude, am Ziel zu sein. An der Kasse bekommt man den letzten Pilgerstempel. Im Jahr 2014 waren im Pilgerbuch 221 Namen verzeichnet. Im Jahr darauf hatte sich die Zahl verdoppelt. 2019 kamen 356 Pilger in Manresa an. Es werden mehr, langsam.
Im nächsten Jahr wird es womöglich auch auf dem Camino Ignaciano eng. Dann feiert der Jesuitenorden die Erleuchtung Loyolas vor 500 Jahren.