Keine deutsche Verwaltung muss Kinder verpflichtend zu Rate ziehen, wenn sie Vorschriften auf den Weg bringt. Deutsche Kinderschutzorganisationen wollen dies ändern. Die Bundesregierung hat einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Doch der geht vielen nicht weit genug.
Es ist nur ein symbolischer Feiertag, dafür gibt es ihn zweimal im Jahr: den Kindertag. Am 1. Juni begeht ihn Deutschland, seiner Geschichte geschuldet, denn zu diesem Zeitpunkt feierte ihn die ehemalige DDR als „Internationalen Kindertag“. Weltweit gilt außerdem der 20. September als Weltkindertag.
Rein symbolisch waren bislang auch politische Debatten über das Verankern von Kinderrechten im Grundgesetz. Mit dem Koalitionsvertrag von 2018 hat sich dies geändert, der Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt nun auf dem Tisch.
Kritiker bemängeln prinzipiell, dass mit einer expliziten Verankerung von Kinderrechten diese den Elternrechten entgegenstünden, Kinder seien rechtlich ausreichend geschützt. Warum brauchen wir also diese Grundgesetzänderung? „Wir haben ein massives Defizit, was das Umsetzen der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland angeht“, sagt Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks. „Vor fast 30 Jahren hat Deutschland sie ratifiziert, tatsächlich aber findet sie kaum Beachtung in der Rechtsprechung und der Verwaltung.“
Vier Kernprinzipien umfasst die Kinderrechtskonvention: Erstens Kinder dürfen nicht diskriminiert werden, zweitens müssen in ihrer besonderen Lebensphase ausreichend gefördert und bestmöglich beteiligt werden. Drittens sollten Staat und Verwaltung gleichermaßen bei ihren Entscheidungen das Wohl des Kindes im Auge behalten und das Kind viertens in gerichtlichen Verfahren besser schützen.
Wie es besser geht, zeigt Schweden. Dort müssen Kinder, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurden, nicht zusammen mit dem Täter im Gerichtssaal aussagen. Stattdessen wird eine Videoaufnahme ihrer Aussage, die sie vor einem Richter in einem geschützten Raum abgeben, vor Gericht zugelassen. In Deutschland kann es noch immer vorkommen, dass sich Täter und Opfer im Gerichtssaal begegnen, obwohl es die Möglichkeit von Videoaufnahmen vor Gericht gibt. Die Rechtsprechung in Deutschland sei insgesamt wenig kinderfreundlich, sagt Holger Hofmann: „In der Strafverfolgung hat es auch viel zu lange gedauert, bis die Bundesregierung, wie erst kürzlich geschehen, unter dem Eindruck der zahlreichen Fälle in den vergangenen Monaten den Besitz von Kinderpornografie generell zu einem Verbrechen hochgestuft hat.“
Grundsätzlich soll Kinderrechten mit ihrer Aufnahme im Grundgesetz „mehr Nachdruck“ verliehen werden, sagt Rudi Tarneden, Sprecher von Unicef in Deutschland. „Eine Verankerung im Grundgesetz wäre ein klares Bekenntnis der Bundesregierung, des deutschen Staates, die Belange von Kindern in allen Bereichen des Lebens zu berücksichtigen.“ Kindern müssten in allen Bereichen der Politik mehr gehört werden. „Wir sehen dies in der Corona-Pandemie, in der die Kinder sich geduldig und solidarisch verhalten haben, aber kaum gehört werden.“ Dennoch habe es bis Anfang 2021 gedauert, bis von Seiten der Verwaltung Programme für Luftreiniger in deutschen Schulen auf den Weg gebracht wurden, ergänzt Holger Hofmann.
Studien zeigen: Psychische Belastungen, Übergewicht, Mobbing, Gewalt gegen Kinder hätten in Zeiten der Pandemie zugenommen, trotz vieler Stundenausfälle sei das Abitur durchgezogen worden. Die Quote der Schulabbrecher steigt laut den deutschen Landesjugendämtern von üblicherweise etwa 104.000 pro Jahr auf 210.000 pro Jahr 2020 und 2021. Stattdessen sei Deutschland konzentriert auf Fragen der Wirtschaft und des Gesundheitsschutzes, „völlig zu Recht“, aber die Interessen von Kindern seien zweitrangig gewesen – wie vielfach vor der Krise.
„Einstellung der Gesellschaft zu Kindern ändern“
Aber nach langen Diskussionen gibt es mittlerweile in allen deutschen Parteien einen Konsens darüber, dass in einer Gesellschaft, in der vor allem die älteren Menschen das Sagen haben, die Kinderrechte gestärkt werden müssen. Die Frage ist, wie. Doch derzeit ist kaum einer der Experten im Rechtsausschuss des Bundestages von dem konkreten Entwurf zur Grundgesetzänderung begeistert. Die CDU scheint mit dem derzeitig geltenden Recht zufrieden zu sein, die SPD ringt noch mit sich. Seitens Unicef und Deutschem Kinderhilfswerk gibt es eher Zustimmung zu Entwürfen von FDP- und Grünen-Fraktion, die beide die Kinderrechte sehr viel stärker betonen als der Regierungsentwurf.
Worum es geht, ist Verfassungstheorie. „Es ist enorm kompliziert“, bestätigt auch Rudi Tarneden, Sprecher der Kinderhilfsorganisation Unicef. Dem vorliegenden Entwurf für die Integration von Kinderrechten liege „ein erkennbares Bemühen“, dem Vorhaben gerecht zu werden, „aber er springt zu kurz“, heißt es seitens Unicef. Das Deutsche Kinderhilfswerk ist der Meinung, der Gesetzentwurf sei nur eine Bestätigung bestehender Gesetze, keine Stärkung von Kinderrechten. Einer der strittigen Punkte: Wo kommen Kinderrechte im Grundgesetz überhaupt zum Ausdruck? In Artikel 6 wie vom Bund vorgeschlagen, als Anhängsel von Eltern, werde dies dem Anspruch nicht gerecht, denn Kinder seien mehr als dies, ein Teil der Gesellschaft. Und: Soll das Wohl des Kindes „angemessen“ oder „vorrangig“ berücksichtigt werden? Den Kinderschutzorganisationen geht es um nichts weniger, als dass die Verwaltung verpflichtend ihre Beschlüsse auch auf ihren Einfluss auf Kinder untersuchen muss – neben allen anderen Einflüssen. „Wir lassen Verkehrsgutachten von Experten erstellen, aber niemand fragt verpflichtend Kinder, die diese
Kreuzung auf ihrem Schulweg nehmen“, gibt Holger Hofmann ein Beispiel. „Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir eine Gesellschaft sein, in der die Interessen der nachwachsenden Generationen besonders berücksichtigt werden?“ Oder bleibt es bei dem aktuellen System, das nach Meinung der Kinderrechtler keines ist.
Denn der nächste konsequente Schritt sei „ein System, die Meinungen von Kindern wahrzunehmen und ihre Rechte durchsetzen zu können“, sagt Unicef-Sprecher Tarneden. Die Grundgesetzänderung soll kein Symbol sein, sondern der Startpunkt systematischer Beteiligung von Kindern in gesellschaftlichen, politischen Prozessen.
Plattformen zum Austausch gibt es heute schon: Kinderparlamente, Anhörungen von Kindern in der Stadtplanung, Kinder- und Jugendbüros. Schon jetzt gibt es in zahlreichen deutschen Landesverfassungen Normierungen, die das Beteiligungsrecht von Kindern betonen: Baden-Württemberg, Hessen, Bremen, Schleswig-Holstein. In Stuttgart gibt es eine Kinderbeauftragte, in allen Bezirken der Stadt gibt es Kindergemeinderäte. Allesamt gehen diese auf Engagements von politisch Verantwortlichen, von Schulen, Institutionen, Kommunen, Landesparlamenten oder Verbänden zurück, ein wahrer Flickenteppich, dahinter stecke jedoch kein bundesweit verbindliches System. Noch nicht. An vielen anderen Orten in Deutschland bleibt Kinderpolitik ein Feigenblatt. „Uns geht es darum, die grundsätzliche Einstellung der Gesellschaft zu Kindern zu verändern“, so Tarneden. Dies sei auch demokratiefördernd in Zeiten, in denen händeringend nach Möglichkeiten gesucht wird, die Wahlbeteiligung bei jungen Menschen zu erhöhen. Hätten sie früh mehr zu sagen, machen Kinder und Jugendliche die Erfahrung, in demokratischen Prozessen etwas mitgestalten zu können, so der Gedanke dahinter.
„Bis zur Akzeptanz eines Gleichstellungsgesetzes war es ein langer Weg“, gibt Hofmann vom Deutschen Kinderhilfswerk zu bedenken. „Aber niemand bestreitet heute, dass dies kein Fortschritt für Frauen in Deutschland war.“ Gleiches soll nun für Kinder geschehen. Der Weg bis dahin wird lang, aber man darf auf die Strahlkraft der Verfassung vertrauen. „Gibt es etwa irgendwann einmal nicht nur 500, sondern 5.000 deutsche kommunale Jugendparlamente, möchten die sicherlich auch auf Landesebene mitreden. Gibt es auf Landesebene Jugendparlamente, werden diese sicher auch auf Bundesebene mitreden wollen. Das ist auch gut so, gleichzeitig müssen wir hier Wege finden, solche Institutionen dann mit den bestehenden Beteiligungsstrukturen beispielsweise über die Jugendverbände zu einem guten Ganzen zusammenzufügen“, blickt Hofmann in die Zukunft – eine Zukunft mit mehr Mitspracherecht für Kinder.