Selig haben den neuen Deutschrock geprägt wie kaum eine andere Band. Mit „Myriaden“ legt das Quartett nun das achte Studioalbum vor – voller beseelter psychedelischer Rocksongs und Chansons im Geist der 1970er-Jahre. Im Interview spricht Jan Plewka (50) über die Klimakrise, frischen Wind und gesetzesfreie Räume.
Vor 26 Jahren haben Selig in den H.O.M.E.-Studios des Hamburger Produzenten Franz Plasa ihr Debütalbum aufgenommen. Jetzt kehrten Sie mit der Band an genau jenen Ort zurück. Wie kam es dazu, Herr Plewka?
Das war Schicksal. Unser Gitarrist Christian Neander hat uns musikalische Auszüge von verschiedenen Produzenten vorgespielt, ohne dabei Namen zu nennen. Am interessantesten klang Franz Plasas Arbeit, der die ersten drei Selig-Alben produziert hat. So hat sich nach unserer Wiedervereinigung ein weiterer Kreis geschlossen. Wir haben uns damals nicht im Guten getrennt und konnten wieder Frieden schließen. Es war eine sehr intensive Arbeit während des Lockdowns in den alten Räumen, in denen uns die juvenile Glut wiedererfasste.
Sind Studios magische Orte?
Ja. Studios sind absolut gesetzfreie Räume. Es gibt dort genauso viele magische Momente wie auf den Bühnen der Welt. Vor allen Dingen wird in einem Studio die Zeit ausgehebelt, und es wird intensiv im Moment gehandelt. Wenn man die ganze Zeit seiner Leidenschaft frönt, passiert echte Magie.
Vergisst man beim Musikmachen alles um sich herum?
Das ist der Zustand, in den wir uns hineinbegeben, um eine bestimmte Quelle anzuzapfen. Die rechte und linke Gehirnhälfte vernetzen sich und man ist im Flow. Plötzlich spielt Zeit keine Rolle mehr. Das passiert meist in einer Jamsession, bei der teilweise stundenlang auf drei Akkorden oder einem Riff gespielt wird, bis es halt groovt. Und dann geht man weiter, bis es schwingt. Die Energie, die schließlich im Raum ist, gilt es in ein Lied zu formen.
„Studios sind gesetzfreie Räume“
In dem Lied „Süßer Vogel“ erinnern Sie sich an die Sommer Ihrer Jugend. War die Welt eine andere?
Ja, damals war Natur noch unendlich und meine Sicht auf die Welt positiver. Wenn man heute einen See mit klarem Wasser sieht, möchte man fast weinen. Die Menschheit ist mittlerweile aufgeklärt über die Endlichkeit der Ressourcen. Fragt man Kinder, was sie machen würden, wenn die Welt nicht unterginge, lautet ihre Antwort: „Ich würde feiern!“. Es stimmt traurig, dass viele Kinder davon ausgehen, dass die Welt bald untergehen wird. „Süßer Vogel“ hat die Leichtigkeit eines französischen Chansons. Mit diesem Lied wollen wir unsere Leichtigkeit von damals an unsere Kinder weitergeben. Unsere Aufgabe ist, mit ihnen hinausgehen, um die Welt mit den guten Gedanken von damals zu verändern. Die Kinder sind jetzt am Hebel. Unsere Generation ist zu eingefahren.
Die Zeile „Wenn alles so bleibt, wie es ist, dann haben wir verloren“ in „Alles ist so“ bringt es auf den Punkt.
Das zieht sich durch die ganze Platte. Früher haben wir uns im Proberaum über Mädchen und Drogen unterhalten, heute sprechen wir darüber, wer von uns das beste Hochbeet hat. Wir setzen uns alle für Greenpeace oder die Organisation „Klima vor acht“ ein und gehen auf Demos von Extinction Rebellion oder Fridays for Future. Wir machen uns die Konsequenzen unseres Handelns bewusst. Es ist kein Klimawandel, sondern eine Klimakrise. Die Pandemie hat etwas mit der Zerstörung der Natur zu tun. Es gibt bei Tieren über 700.000 Viren, die Menschen anfallen können. Wenn wir mit der Natur weiter so schlecht umgehen, ist das nicht die letzte Pandemie gewesen. Die große Krise ist gar nicht die Pandemie, sondern das, was da drübersteht: nämlich die Klimakrise. 1,5 Grad darf kein Ziel, sondern muss ein Limit sein. Teilweise ist es sogar schon überschritten. Unsere Platte ist eigentlich ein Liebeslied für diese Perle im All.
Haben Sie trotz allem Hoffnung, dass die Menschheit noch zu retten ist?
Ja. Es passiert ja jetzt schon, dass Leute aufwachen. Mein Wunsch ist, dass Entscheidungen demokratisch gefällt werden. Aber Politiker müssen in Zukunft krassere Entscheidungen treffen. Ich stelle mir zum Beispiel vor, dass Kinder das Wahlrecht erhalten. Dann müssten wir uns alle noch mehr mit ihrer Zukunft und der des Planeten auseinandersetzen. Auf diese Weise würde frischer Wind reinkommen und die AfD würde es gar nicht mehr geben. Es muss ein Systemwandel stattfinden, damit der Knoten platzt. Fangen wir doch endlich an, Klimakrisenthemen auf der Titelseite zu drucken und nicht wie jetzt im Wissenschaftsteil der Zeitungen.
Was fehlt unserer Gesellschaft am meisten?
Aufklärung. Informationen, die jeder versteht. Aber wir brauchen sie, bevor die nächste Pandemie kommt, der tipping point erreicht ist und die Badewanne überläuft.
Jede Partei sollte in ihr Wahlprogramm allgemein verständlich hineinschreiben, wie sie die Umwelt retten will. Gerade in dieser Pandemie wird vielen bewusst, dass sie gar nicht so viel zum Leben brauchen.
Wie informieren Sie sich über die großen Zusammenhänge?
Über Bücher, Podcasts, TV-Sendungen, soziale Medien, Organisationen wie Extinction Rebellion und Greenpeace, die „Süddeutsche Zeitung“, „Die Zeit“. Ansonsten in Gesprächen mit Freunden, bei denen man einander höflich zuhört. Im Fernsehen sieht man seit zehn Jahren immer die gleichen Nasen. Es stirbt langsam, und die wundern sich warum. Die Meinung und Wortwahl in vielen Sendungen ist nicht mehr zeitgemäß. Da muss frischer Wind rein! Selig möchte gerne in der neuen Welt stattfinden.
„Selfies auf dem Weg zum Jobcenter“
Sie haben drei Töchter, 23, 19 und 16, und einen sechsjährigen Sohn. Halten die Sie auf dem Laufenden?
Bei uns sind Diskussionen etwas Selbstverständliches. Es ist für uns ganz normal, dass kein Fleisch gegessen und kein Plastik verwendet wird. Wir haben uns jetzt ein Lastenfahrrad gekauft. Es ist wirklich ein leichteres und entspannteres Leben, weil alles gesünder ist. Keinem von uns geht es schlecht, weil er sich bei McDonald’s den Magen verrenkt.
Lässt sich diese achtsame Lebensweise auf eine Selig-Tournee übertragen?
Das achtsame Leben vollzieht sich ganz im Sinne der Demokratie. Die ist ja auch nie fertig. Die erste Prämisse beim Catering auf Tour ist Nachhaltigkeit im Kühlschrank und nicht wie damals zwölf Flaschen Schnaps. Wir wollen den Ball ins Rollen bringen.
Apropos Ball ins Rollen: Die Teilnahme an der Show „Sing meinen Song – das Tauschkonzert“ hat Ihrer Karriere sicher nicht geschadet, oder?
Meine Bandkollegen meinten: „Janni, geh da hin! Das ist wichtig für uns.“ Aufgrund der Show hatten wir ein Album und eine Tour geplant. Wir hatten darauf gehofft, dass wir die Hallen füllen, wenn ich mich gut anstelle. 2020 sollte unser Jahr werden. Aber dann kam uns die Pandemie dazwischen, und es passierte genau das Gegenteil. Jetzt sitzen wir hier und waren ewig nicht mehr auf der Bühne. Aber wenn ich jetzt auf dem Weg zum Jobcenter bin, werde ich nach Ellbogen-Selfies gefragt. Das ist ziemlich absurd.
Ist das Live-Spielen durch irgendetwas zu ersetzen?
Meine Frau hat mich gestern in den Arm genommen und meinte, ich täte ihr so leid, weil ich gerade meiner Berufung nicht nachgehen darf. Das merkt man mir auch an. Das Live-Spielen fehlt mir ungemein. Es ist wie ein schlimmer Liebeskummer. Schon als Kind wurde ich ganz melancholisch, wenn ich mich mal zwei Wochen nicht produzieren konnte. Ich versuche aber, diese Krise so positiv wie möglich zu meistern. Ich habe ja jetzt die große Chance, mit meiner Familie ganz viel rumzuhängen, was wahnsinnig schön ist. Ich mache viel mit dem Lütten, schreibe aber auch viele Texte und übe Gitarre und Klavier. Wenn es irgendwann wieder losgehen sollte, kann ich alles mit Freude bestehen.
„Menschen rennen aneinander vorbei“
Sehr beruhigend auch die Zeile „Fürs aus dem Fenster springen bin ich zu alt“ in dem Lied „SMS K.O.“ Weil es noch Myriaden von Dingen gibt, die von uns Menschen erledigt werden müssen?
Die unzählbare Menge steht für die Myriaden von Bildschirmwänden auf diesem Planeten. Der erste Griff nach dem Aufstehen geht ans Handy. Dann checkst du E-Mails. Später im Auto sitzt du auch vor einem Screen. Auf der Arbeit blickst du auf den Bildschirm und beim Mittagessen wird Sport übertragen. Durch diese unfassbar vielen Bildschirme und das, was da rauskommt, wird dir reale Zeit geraubt. Du bist weder in dem Screen noch bei dir, sondern irgendwo dazwischen. Du kannst überhaupt nicht in dich gehen, weil du außer dir bist. Folge ist: Die Menschen rennen gedankenlos aneinander vorbei. Geht diese Ablenkung so weiter, liegt unsere Konzentrationsspanne bald bei nur noch neun Sekunden! Instagramer schneiden ihre Videos auf 51 Sekunden, sonst werden sie nicht mehr geschaut. Früher musste man Fotos noch entwickeln. Heute muss alles sofort passieren. Ich wünsche mir, dass die Achtsamkeit, die gerade durch verschiedene Mentoren wieder in die Welt kommt, zu einer Epidemie wird. Das schlimmste ist die Massentierhaltung, weil diese Wesen so leiden und es keine wirkliche Aufklärung gibt.