In Wien ist mit der sogenannten Zukunftspsychologie eine neue Forschungsrichtung entstanden. Dort sucht man Antworten auf die Frage, wie Individuen und Gesellschaft zukunftsfähig werden können, welche Eigenschaften wichtig werden und wie veränderungsbereit die Deutschen sind.
Veränderungsbereitschaft ist mitten in der Corona-Pandemie zum Schlagwort der Stunde avanciert. Doch auch vorher hat es Sinn gemacht, sich damit zu befassen. An der Sigmund Freud Privatuniversität Wien widmet sich ein ganzes Institut, nämlich das Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement, dieser und weiterer Fähigkeiten und Fragestellungen. Anlass gibt nicht nur die Pandemie, sondern auch die demografischen Veränderungen und der wissenschaftlich-technische Fortschritt unserer Gesellschaft. Wie soll Zukunft in Bereichen wie Beschäftigung und Altersvorsorge für Menschen gestaltet werden, die im Schnitt mit 30 Jahren mehr Lebenszeit haben? Was brauchen Individuen und eine Gesellschaft, um zukunftsfähig zu sein? Welche Themen haben die Menschen schon als wichtig erkannt, und werden sie auch entsprechend aktiv? Gehen sie mutig auf Veränderungen zu oder empfinden sie diese vor allem als belastend?
Dass sich ein ganzes Institut mit solchen Fragen befasst, ist Folge der 2015 veröffentlichten „Drei Generationen-Studie". Die Forscher wollten damals herausfinden, inwieweit Menschen den demografischen Wandel als historische Zäsur begreifen. Dabei wurden jeweils Enkel, Eltern und Großeltern zu Themen wie Alter, Vorsorge und Zukunft befragt. Die Psychologen wollten zum Beispiel wissen, welche konkreten Maßnahmen der Zukunftsplanung tatsächlich ergriffen werden? Was wird in den Familien zwischen Enkeln, mittlerer Generation und Großeltern besprochen? Das Ergebnis: „Die historisch einmalige Tatsache eines um drei Jahrzehnte längeren Lebens wird ebenso wenig gewürdigt wie die damit verbundenen Gestaltungspotenziale. Die dringend notwendige finanzielle und gesundheitliche Vorsorge für eine verlängerte Lebenszeit wird nur halbherzig in Angriff genommen. Statt Initiative und Eigenverantwortung erzeugt der Rückzug der sozialen Sicherungssysteme bei den Betroffenen Verdrängung, Orientierungslosigkeit und ein Festhalten an obsoleten Gewohnheiten", so Professor Thomas Druyen, der Leiter des Institutes für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement. Sowohl beim Sparen, bei der Alters- und Gesundheitsvorsorge als auch hinsichtlich der grundsätzlichen Lebensplanung orientieren sich die Jungen stark an den älteren Generationen und übernehmen deren Einstellungen und Verhaltensweisen „in erstaunlichem Ausmaß".
Das Problem: Ein Leben in der zukünftigen Gesellschaft könne man nicht mit den Konzepten der 1950er- und 1980er-Jahre planen. Veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen erforderten auch neue Strategien der individuellen und kollektiven Zukunftsgestaltung. Druyen kommt deshalb zu dem Schluss: „Die seit etwa fünfzehn Jahren laufende öffentliche Aufklärungskampagne über den demografischen Wandel muss im Hinblick auf ihre Resultate als gescheitert betrachtet werden. Die Auswirkungen des demografischen Wandels sind generationenübergreifend weder in ihren Konsequenzen verstanden worden noch ganzheitlich bekannt." Die Ursache sieht er vor allem darin, dass die Menschen Kommunikation sowohl emotional als auch rational rezipieren und sich diese beiden Ebenen nicht decken. Zahlen, Erfolgsergebnisse und Prognosen würden von den Menschen nicht mehr als Stimmungsaufheller und Motivatoren angenommen. Selbst wenn etwas rational begriffen worden sei, komme es nicht zur entsprechenden Aktivität.
Die Befragungen zeigten, dass das Verdrängen von Problemen, Hindernissen und absehbaren Entwicklungen eine alltägliche Handlungspraxis darstellen. Stattdessen würden die persönlichen und kollektiven Schlüsse vielmehr intuitiv gezogen. Die Reaktionen auf persönliche und gesellschaftliche Erfordernisse kämen subjektiv und emotional zustande. Wissen und Verhalten, so schließen die Forscher, gehen getrennte Wege. Gleichzeitig aber seien alle betroffenen Generationen im Sinne eines emotionalen Menschenverstandes sehr wohl im Bilde, welche Problemlagen die demografische Entwicklung bringen wird.
Hoffen auf Ad-hoc-Lösungen im Notfall
Diese Widersprüchlichkeiten, so glauben die Psychologen, halten die Menschen davon ab, vernünftige Vorsorge zu betreiben. „ Wir wollen alt werden, aber nicht alt sein. Wir sehen Gesundheitsrisiken auf uns zukommen, glauben aber, dass sie uns verschonen werden. Es ist klar, dass die alten Eltern nicht auf Dauer in ihrer Wohnung bleiben können, wir wiegen uns aber in der Illusion, dass uns im Notfall eine optimale Ad-hoc‐Lösung einfallen wird. Wir wissen, dass wir unsere Alterssicherung aufstocken müssen, verbrauchen das Geld jedoch für spaßbringenden Konsum", erklärt es Druyen.
Die Ergebnisse der Studie haben ihm und seinen Kollegen gezeigt, wie wichtig es ist, sich damit zu beschäftigen, warum es dem Menschen so schwerfällt, über Zukunft nachzudenken und präventiv zu handeln. Genauso wie die Frage nach pragmatischen Maßnahmen: Wie können wir unser Gehirn und unser Verhalten trainieren, um mit den neuen Spielregeln des rasenden Lebens Schritt zu halten? Um diesen Dingen auf den Grund zu gehen, gründeten sie im Anschluss an die Studie das Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement in Wien.
Furcht und Ratlosigkeit angesichts der unbekannten Zukunft sind, so glauben die Forscher, existenzgefährdend. Deshalb wollen sie dazu beitragen, Veränderungskompetenz zu entwickeln. Dazu haben sie zunächst in einer Pilotstudie mit 30 qualitativen Einzelinterviews und einer anschließenden stärker quantitativ ausgerichteten Querschnittstudie mit 1.950 Befragten erkundet, wie die Teilnehmer bisher zentrale Veränderungen in ihrem Leben erlebt und bewältigt haben. Welche Kompetenzen haben sie dafür benötigt und eingesetzt? Wie kann Veränderung erfolgreich gelebt und umgesetzt werden?
Ihre Ergebnisse haben sie in dem Buch „Die ultimative Herausforderung – über die Veränderungsfähigkeit der Deutschen" veröffentlicht. Auch hierbei stießen die Forscher auf Widersprüchlichkeiten. So zeigten sich die befragten Deutschen einerseits als sehr widerstandsfähig. Sie konnten Probleme recht gut überwinden und Rückschläge aushalten und verwandeln. So konnten sie beispielsweise gut reagieren, wenn der Arzt ihnen sagte, dass sie schwer erkrankt sind. Dann gelang es ihnen auch, das Rauchen aufzugeben, Sport zu treiben und die Ernährung umzustellen. Ohne dieses schwierige Ereignis aber fiel das vielen schwer. Sie schleppten lieber ihr schlechtes Gewissen mit sich herum, nichts oder nur wenig zu tun, als ihren inneren Schweinehund zu überwinden. Auch in anderen Feldern schnitten die Teilnehmer beim Thema Prävention und Weitblick schlecht ab. Die Studie zeige, dass die meisten Deutschen vielmehr an der Verlängerung der Gegenwart hängen und wenig bereit sind, die Chancen der Zukunft zu ergreifen.
Zudem sahen sie Veränderungen vor allem als Privatsache an. Gefragt nach den wichtigsten Veränderungserfahrungen wurden konkrete Ereignisse im privaten Umfeld genannt. So erwähnten 32 Prozent die Geburt des ersten Kindes, zwölf Prozent eine Heirat und sieben Prozent eine neue Partnerschaft. Gesellschaftliche Großereignisse wie das Ende der DDR oder die hitzig debattierte Aufnahme von Flüchtlingen wurden nur von einer Handvoll genannt. Abstraktere wirtschaftliche, technologische oder soziale Entwicklungen wurden von den Deutschen weitestgehend ausgeklammert. Große Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Globalisierung und demografischer Wandel fanden kaum Erwähnung. In mehr als zwei Dritteln der Interviews kam die Digitalisierung überhaupt nicht zur Sprache. Bei den restlichen Fällen handelte es sich um Personen, die beruflich damit zu tun haben oder von bestimmten medizintechnischen Fortschritten profitieren. Die bestehenden Kompetenzen der Deutschen wurden kaum mit den anstehenden Problemen verknüpft.
Digitalisierung war kaum ein Thema
Als besonders zukunftsfähig zeigten sich zum einen erfolgreich integrierte Menschen aus anderen Ländern. Sie verzeichneten eine hohe Fortschrittsbereitschaft und brachten Zukunftsenergie mit. Zum anderen hatten auch die Menschen aus den neuen Bundesländern entgegen statistischer Erwartungen positivere Zukunftserwartungen als andere Gruppen. Besonders junge Deutsche zeigten sich häufig schneller entmutig und desorientiert. Der Aussage „Wenn etwas anders läuft als geplant, bin ich schachmatt und möchte mich am liebsten in Luft auflösen" stimmten 47 Prozent der 18 bis 29-Jährigen, 44 Prozent der 30 bis 39-Jährigen, 36 Prozent der 40 bis 49-Jährigen aber nur mehr 27 Prozent der 50 bis 59-Jährigen zu. Bei den Menschen über 60 waren es sogar nur noch 20 Prozent.
Um die Zukunftsfähigkeit der Deutschen zu verbessern, arbeitet man mit dem sogenannten Probehandeln. Das heißt, es wird ein Eingriff in unsere Routine simuliert. Durch eine Interviewtechnik, die sich mit Fantasie, Probehandeln, Imagination und möglichen Lebensereignissen beschäftigt, trainieren die Forscher mit Überraschungen, Unvorhersehbarkeit und mit radikaler Veränderung umgehen zu lernen. Dazu zählen Bedrohungen wie der Verlust von Freundschaften, des Arbeitsplatzes oder des Partners. Die Annahme: Wer eine Erfahrung gedanklich durchgemacht hat, soll in Zukunft besser navigieren und entsprechende Entscheidungen präventiv treffen können. Die Teilnehmer sollen lernen, sich nicht von Umwälzungen niederstrecken zu lassen, sondern proaktiv zu sein. Planbarkeit, Handlungsanstöße, Navigationsunterstützung und Umsetzungsbeispiele – all das will das Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement anbieten. Leiter Druyen glaubt: „Es ist unsere Aufgabe, eine höhere psychologische und zukunftsorientierte Position einzunehmen, um das individuelle und kollektive Spielfeld nicht von der Seitenlinie sondern vom Helikopter aus zu betrachten".