Erst kam die Pizza ausschließlich aus dem Karton, nun können die Gäste sie immerhin schon auf Tellern und auf der Terrasse der „Pizzeria" genießen. Inhaberin Kamila Preis ging das Wagnis ein und eröffnete in der Chausseestraße im November 2020 ihr eigenes Lokal.
Ich habe eine große Leidenschaft für Teig", sagt Kamila Preis. „Ich arbeite gern damit, besonders mit Hefe." Wie sollte es anders sein, bei ihrer Herkunft? Ihre Mutter stammt aus Polen, ihr Vater aus Italien – „aus zwei Teig-Kulturen". Wie gut, dass uns die Inhaberin und oberste Pizzaiola der „Pizzeria" in der Chausseestraße an ihrer Leidenschaft für sehr gute Produkte, Teig und Pizza teilhaben lässt! Mehl, Wasser, Zeit und Temperatur spielen die entscheidende Rolle für die Grundlage einer jeden guten Pizza. „Am wichtigsten ist es, dass der Teig gut wird. Man kann den Teig zu 98 Prozent beherrschen", weiß Kamila Preis. Eine Ruhephase von 48 Stunden, bevor er als Pizzaboden im Napoletana-Stil für etwa 60 Sekunden in den 400 Grad heißen Ofen kommt, gehört dazu.
Der italienische Feinschmecker-Fotograf hatte dort bereits eine Outdoor-Mortadella-Pizza verspeist. Einige Wochen später kam er nun zu unserem Termin erneut in den Genuss einer solchen und von vier weiteren Pizzen. Berufsbedingt sogar an einem Tisch im Innenraum, an dem seit der Eröffnung am 16. November 2020 bislang noch kein Gast Platz nehmen durfte. Große Basilikumblätter liegen auf einem Kranz von Mortadella-Scheiben und Mozzarella Fior di Latte d’Agerola. Ein blasiger Rand mit den im Neapel-Stil charakteristischen Jaguar-Flecken umrahmt ordnungsgemäß das flache Innenleben, das von einer Burrata-Kugel getoppt wird. Gehackte sizilianische Pistazien machen das Ganze noch mildnussiger, sorgen für Crunch und einen Aromen-Boost der Pistazienscheibchen in der Mortadella.
Ich wiederum komme nicht um einen meiner ewigen Lieblinge beim „Wünsch dir was" herum: eine weiße Pizza Friarielli. Wenn Salsiccia-Kugeln in einem Bett aus Fior di Latte d’Agerola versinken, blanchierte Wildbrokkoli-Stängelchen leuchtend grün grüßen und große Späne Parmigiano Reggiano Dachschindeln spielen, ist meine Pizzawelt in Ordnung. Die Würze der typisch italienischen groben Bratwurst, die im Süden des Landes gern im Ganzen gebraten und mit dem Stängelkohl zusammen verspeist wird, macht sich mit dem Kontrast zum zartbitteren Gemüse auf dem heißen, frischen und dünnen Hefefladen bestens.
Jede Pizza bis ins kleinste Detail durchdacht
Steht der Lieferant mit kistenweise Friarielli vor der Tür, wissen Kamila Preis’ Mitarbeiter, was zu tun ist: „Die Jungs tragen ihn mir immer rein. Ich stehe dann stundenlang in der Küche, bereite alles vor und koche. Es ist mir ganz wichtig, dass alles frisch gemacht wird." Kein Wunder, dass die Friarielli-Pizza auch Kamila Preis’ Lieblingspizza ist. „Ich habe meine Kindheit im Garten verbracht. Ich schwöre auf Qualität und glaube an das gute Produkt."
Jede Pizza ist in ihrer Komposition durchdacht – bis zum Pistazienkrümelchen oder zur Trüffel-Stracciatella. Ja, herzhafte, dunkle Trüffel-Tüpfelchen in sahniger Creme toppen die Pizza Della Casa. Geröstete Kartoffeln, Portobello, Fior di Latte und Petersilie bilden den Untergrund für einen Hauch von erdigem Tartufo auf der „Hauspizza". Alles bleibt jedoch in seinen Aromen und seiner Textur eigenständig – „Bratkartoffeln", Pilz und Petersilie. Wir haben eine Art verfeinertes, weißes Bauernfrühstück alla Italiana auf Teig. Die Pizzen sind rustikal und einfach, rutschen aber nie ins Grobe oder Banale ab.
Kamila Preis’ Anspruch ans Essen ist hoch, der an die Gestaltung ihres Lokales ebenso. Eine sehr hohe Decke, große Fensterfronten, hell verputzte und teils rohe Ziegelwände, warmtoniges helles Holz, grauer Boden mit „Wasserflecken" als Hingucker und weiß gefliestem Pizzatresen mit dem Steinofen im Hintergrund machen den weitläufigen Gastraum aus. „Jeder soll sich wohlfühlen und reinkommen wollen. Ich möchte keine steife Atmosphäre." Das gilt auch für die Berührungsängste minimierenden Klassiker. „Manchmal muss es einfach eine Pizza Salame sein." Oder eine Margherita, eine Gorgonzola e Spinaci oder eine Prosciutto e Funghi mit Champignons und Prosciutto Cotto. So erklärt sich nicht zuletzt der Name „Pizzeria": „Ich wollte eine Pizzeria, die so wie oft in Italien nur Pizzeria heißt. Keine ‚Pizzeria Kamila‘ oder so was."
Napoletana steht für die Art der Pizza, gewissermaßen als Untertitel. Das Produkt darf aber gern überzeugend für sich selbst sprechen. Das tut es auch. Die Balance zwischen den Klassikern zum Liebhaben und spielfreudigeren Varianten wie der Della Casa oder der Mortadella-Pizza bleibt auf der mit 18 Sorten überschaubaren Karte gewahrt. Die Qualität der Pizza mit ihren vielen frischen italienischen Produkten, die zweimal wöchentlich aus Neapel geliefert werden, hat ihren angemessenen Preis. Bei 7,50 Euro für eine Marinara geht’s los. Mit 14,50 Euro für eine Pizza Mortadella und mit 15 Euro für eine der regelmäßig wechselnden Speciale wie eine Pizza Primavera ist das obere Ende der für diese Güteklasse üblichen Skala erreicht.
Bei aller Überlegtheit und solider Planung – mit einem konnte Kamila Preis Anfang 2020 nicht in seiner ganzen Wucht rechnen. „Ich habe zwei Wochen, bevor es mit Corona richtig losging, den Vertrag unterzeichnet." Acht Monate dauerte der Ausbau, inklusive Einbau des aus Italien angelieferten Steinofens. „Der Umbau und die Eröffnung haben mich die ganze Zeit angetrieben", sagt die 38-Jährige. Kamila Preis ist lange in der Gastronomie tätig, hatte sich den Schritt zum ersten eigenen Lokal gut überlegt. Kurz nach dem neuerlichen Lockdown Anfang November fiel die Entscheidung zur Eröffnung mit Außer-Haus-Verkauf. Was wäre auch die Alternative gewesen?
Preis startete gemeinsam mit zwei Pizzaioli, „alle Neapolitaner!" Immerhin ist Pizza zum Take-away im Karton prädestiniert. „Die Angst war groß,
aber ich bereue den Schritt nicht." Inzwischen arbeiten schon vier Pizzaioli mit. Die Nachbarschaft in diesem nördlichen Zipfel von Mitte am U-Bahnhof Schwartzkopffstraße kam – und kam wieder. „Wir haben wirklich schöne Gäste und Nachbarn." Bei unserem Besuch treten auch immer wieder Fahrradboten ein, um Bestellungen abzuholen. „Das ist eigentlich nicht so gut", sagt Preis. Nicht wegen der Zeit bis zur Ankunft oder drohender Abkühlung der Pizza. „Bei 170 bis 180 Grad kurz im Ofen wieder aufwärmen funktioniert." Sondern vor allem, weil die Rucksäcke der Lieferfahrer nicht völlig aufrecht am Körper hängen. Das kann den Belag ins Rutschen bringen, wie der aufmerksamen „Pizzeria"-Inhaberin nicht entging.
„Wollte wieder den Geschmack der Kindheit"
Bei unserem Besuch kurz vor den Lockerungen war die Terrasse noch nicht bestuhlt. Aber nun, wo nach aktuellen Corona-Spielregeln draußen wieder aufgetischt werden darf, können die Gäste endlich ihre Pizza kross, frisch und topfeben vor Ort vom Teller essen.
Nach all der weißen Pizza stellt sich die Frage: Wo bleibt die Tomatensauce? Da, wo sie hingehört. Nämlich auf den nächsten zwei Pizzen, die den Abschluss unseres Probiermarathons bilden. Eine Ortolana mit gegrillten Zucchini und Auberginen, geröstetem sowie Räucherpaprika, Rucola und einem veganen Pesto Verdo hat eine Sauce von Gustarosso-Tomaten als Basis. „Das ist der Geschmack meiner Kindheit. Den wollte ich wiederhaben." Die einen Hauch süße Grundierung verträgt sich bestens mit dem vielen, unterschiedlich nuancierten Gemüse. Die Pesto-Kleckse lassen sich auseinanderziehen und setzen mit jedem Bissen frische Akzente.
Bei der zweiten Roten, einer Diavola mit pikanter Salami und Chiliflocken, muss ich kurz Feuer speien, aber der Fotograf macht sich begeistert über die „Teuflische" her. Wir häufeln so manche Randstücke auf einen Extrateller – allein wegen der vielen zu verkostenden Exemplare. Würde ich „normal", eine Pizza für mich, bestellen, äße ich das aromatische, alla napoletana korrekt brandfleckige, dickere „Brot" vom Rand ebenfalls mit Genuss auf.
Wir taten gut daran, sparsam zu verkosten – und lieber noch Pizzastücke im Karton zum Wiederaufwärmen mit nach Hause zu nehmen. Wir wissen nun schließlich, wie dies aromawahrend funktioniert. „Ihr müsst noch das Tiramisu probieren!" Es ist wie in Italien: Wenn du wohlig satt und glücklich an Espresso und Digestif denkst, kommt von der Gastgeberin immer noch eine weitere Köstlichkeit. Aber wer könnte schon zum Dessertklassiker aus Löffelbiskuit, Mascarpone-Creme, Kaffee, Likör und dicker, dunkler Kakaodecke Nein sagen? „Total fluffig!" sind wir uns einig. „Meine Tante in Italien hat mir verraten, worauf es ankommt: Man muss die Creme nur heben, nicht rühren. Das ist entscheidend." Guter Trick, die Kalorien so leichtgängig zu verstecken! Ganz gleich ob Pizza oder Dessert – mit so viel Liebe und Familiengeschichte verfeinert, schmeckt in der „Pizzeria" alles zweifellos noch einmal viel besser.