Wer hätte das gedacht! Dass ausgerechnet ein Virus helfen würde, die Wende zu mehr Fahrradverkehr so richtig anzuschieben. Die Corona-Pandemie brachte die Leute aufs Rad.
Abstand halten. So lautete das Gebot der Stunde im Frühjahr 2020. Keine leichte Aufgabe angesichts viel zu schmaler Radwege. Laut dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) entsprachen die Radwege schon vor der Pandemie nicht mehr den Standards. Radwege, die nur in einer Richtung befahren werden dürfen, sollten mindestens 1,60 Meter breit sein, optimal wären zwei Meter. Doch mehr als ein Drittel erreicht nicht einmal die Mindestbreite.
Da stampfte während der ersten Corona-Welle der Leiter der Abteilung Verkehrsmanagement im Berliner Senat, Christian Haegele, in kürzester Zeit neue breitere Radwege aus dem Boden: sogenannte Pop-up-Radwege. München und Hamburg zogen nach. An stark befahrenen Straßen, wo bis dato Radfahrer bisweilen buchstäblich um ihr Leben radeln mussten, hatten diese plötzlich komfortabel viel Platz, etwa auf der Skalitzer Straße oder der Kantstraße. Inzwischen gibt es in Berlin 13 solcher Pop-up-Radwege, die mit Pollern, beziehungsweise Baken gegen den Autoverkehr geschützt sind, auf einer Länge von insgesamt 27 Kilometern. Bei vielen ist zusätzlich die Fahrbahn rot eingefärbt.
Provisorium oder neue Strategie
Doch an den im Schnellverfahren errichteten farbigen Radwegen scheiden sich die Geister. Während der ADAC vor einer Scheinsicherheit warnt und die neuen Wege nur als Provisorium sieht, sind sie für den ADFC eine längst überfällige Maßnahme. Für Roland Stimpel, Vorstand des Fachverbands Fußverkehr Deutschland Fuss, hat sich dank der neuen Radwege auch die Situation der Fußgänger deutlich verbessert. Die Pop-up-Wege trügen dazu bei, dass Fahrräder an zugestauten Straßen zügiger vorankommen als Autos. Zudem seien sie bisweilen an Straßen angelegt, bei denen zuvor der Radweg zum Teil auf dem Bürgersteig lag – etwa am Kottbusser Damm.
„Den Verkehrsraum vorschnell durch Pop-up-Radwege umzuverteilen, ist nicht das richtige Mittel, um langfristig den Verkehrsfluss zu verbessern und für mehr Sicherheit zu sorgen", meint dagegen ADAC-Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand. Bei Bau und Planung von Radwegen gelte es, „ganzheitliche Mobilitätskonzepte" zu verfolgen und mit Voraussicht zu agieren. Dabei sollten die Belange aller Beteiligten wie Fußgänger, Radfahrer, Autofahrer, Anwohner, Gewerbetreibende und der Lieferverkehr berücksichtigt werden. Die Autofahrer werden allerdings akzeptieren müssen, dass die zunächst provisorisch angelegten Pop-up-Radwege vorerst bleiben dürfen. So hat es das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschieden. Einige wurden bereits oder werden noch in dauerhafte Radverkehrsanlagen (RVA) umgewandelt. Etwa auf der Petersburger und Danziger Straße in Friedrichshain.
Die derzeitigen Maßnahmen reichen aber noch nicht, um den Fahrradverkehr dauerhaft sicherer zu machen. Tatsächlich gab es bereits einen tödlichen Unfall, bei dem eine Radfahrerin von einem Pop-up-Radweg kommend, an einer Kreuzung von einem rechts abbiegenden Lkw überrollt wurde. Laut einer Umfrage des ADFC unter 5.628 Berlinern empfindet mehr als die Hälfte der Befragten Radfahren im Berliner Verkehr noch immer als Stress (Note 3,9). Rund 60 Prozent sehen sich in Berlin weiterhin als Verkehrsteilnehmende nicht akzeptiert (Note 4,2) und mehr als 80 Prozent fühlen sich nach wie vor nicht sicher (Note 4,7). Ein Gefühl, das durchaus berechtigt ist. Das zeigen die aktuellen Zahlen in der Statistik. 7.868 Unfälle mit Radfahrern gab es 2020 in Berlin, Tendenz steigend. Von den 50 Verkehrstoten sind 17 Radfahrer, das entspricht mehr als einem Drittel. „Aber auch die Anteile der Schwerverletzten mit 31 und der Leichtverletzten mit 34 Prozent an den jeweiligen Gesamtzahlen verdienen besonderes Augenmerk", findet Julia Fohmann, Pressesprecherin des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR). Im Klartext heißt das, dass in Berlin jeder dritte Verunglückte (34 Prozent) bei Verkehrsunfällen ein Radfahrer ist. Während Verkehrsunfälle mit Radfahrerbeteiligung zu 72 Prozent mit Personenschäden enden, sind es bei Verkehrsunfällen allgemein nur zehn Prozent.
„Um die Teilnahme am Straßenverkehr für Radfahrende sicherer zu machen, müssen vor allem Kreuzungen entschärft und ausreichend Raum zur Verfügung gestellt werden", findet Julia Fohmann. Das sei mit Pop-up-Radwegen der Fall, sie böten den Radfahrern ein höheres Sicherheitsgefühl. Das sieht auch die Politik so. „Provisorisch eingerichtete Radfahrstreifen werden auch künftig dort eingesetzt werden, wo es geeignet scheint, schnell mehr Verkehrssicherheit herzustellen – möglichst als Übergang zu einer dauerhaften Lösung", erklärt Constanze Siedenburg, stellvertretende Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Als Beispiel nennt sie die stark befahrenen Straßenzüge Tempelhofer und Mariendorfer Damm.
Auch an Spaziergänger muss gedacht werden
In dieser Legislaturperiode seien bereits 125 Kilometer Radwege erneuert, erweitert oder saniert worden, erläutert sie. Weitere Planungen für neue Straßenabschnitte mit Pop-up-Radfahrstreifen als ersten Schritt für eine dauerhafte Radinfrastruktur liefen bereits. In Kürze wird die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz die Fortschreibung des Radverkehrsplans vorstellen. Dieses Netz wird insgesamt rund 3.000 Kilometer Radwege und Radfahrstreifen umfassen. Das sei etwa doppelt so viel wie im bisherigen Plan. Allein das sogenannte Vorrangnetz, also die wichtigsten Verbindungen, die vorrangig umzusetzen sind, umfasst mehr als 900 Kilometer – inklusive der geplanten Radschnellverbindungen. Die Radwegbreite beträgt hier mindestens 2,50 Meter, die Radschnellwege (Ausbau ab etwa 2023), mindestens 100 Kilometer radiale Verbindungen, die sternförmig von den äußeren Bezirken nach innen führen, sollen sogar mindestens drei Meter breit sein.
„Hinzu kommen alle übrigen Hauptstraßen, die nicht im Radverkehrsnetz enthalten sind, aber qua Mobilitätsgesetz eine sichere Radinfrastruktur erhalten", erklärt Constanze Siedenburg und fügt hinzu: „Das entspricht dem Niveau von Fahrradstädten wie Kopenhagen und Amsterdam."
Bei aller Sympathie für das umweltfreundliche Fahrrad und den Ausbau seiner Verkehrsrouten, hofft Roland Stimpel vom Verein Fußverkehr Deutschland Fuss, dass es nicht weiter in Räume eindringt, die vom Auto verschont geblieben sind, etwa in Parks. Viele Parkwege seien bereits zum Radfahren freigegeben. Das verstünden manche leider nicht als Einladung zum entspannten Spazierenfahren, sondern als Aufforderung zum Rasen. Roland Stimpel: „Und Berlins Senats-Planungsgesellschaft Infravelo und einige Rad-Initiativen wollen sich jetzt gnadenlos über das Grün hermachen." Mehr als 40 Kilometer Parkwege hätten sie als Radpisten im Auge. Oft sollen schmale, unbefestigte Pfade zu breiten Asphaltpisten werden, wofür heftig gerodet und geholzt werden müsste. Stimpel ärgert sich: „Spaziergänger sollen dann auf schmale Nebenwege verbannt werden, das Betreten der Radwege wäre verboten. Mit solchen Plänen setzt das Fahrrad seinen Ruf als sanftes, umweltschonendes Verkehrsmittel aufs Spiel."