Lukas Reichel hat auch bei der Weltmeisterschaft bewiesen, was für ein großes Talent in ihm schlummert. Die Blackhawks finden, dass die Zeit für einen Wechsel von Berlin nach Chicago reif ist.
Lukas Reichel hat nur Augen für den Puck. In gebeugter Haltung gleitet der Eishockeyspieler Richtung Bande, als plötzlich der Kasache Ivan Stepanenko angerauscht kommt und mit voller Wucht einen gefährlichen Check gegen Reichels Kopf fährt. Der Profi der Eisbären Berlin landet hart auf dem Eis, doch viel mehr schmerzt der Schädel vom Schlag. Er schleppt sich benommen zur Bank und lässt sich dort untersuchen. Die Ärzte und Bundestrainer Toni Söderholm gehen kein Risiko ein und nehmen Reichel sofort aus dem Spiel. Dieses vierte Gruppen-Duell der deutschen Nationalmannschaft bei der WM in Lettland gegen Kasachstan, das am Ende 2:3 verloren ging, löste im deutschen Team großen Schrecken aus. Und auch Frust. Denn Übeltäter Stepanenko kam im Spiel ohne jegliche Verwarnung davon. „Ich kann nicht verstehen, wenn dieser Check gegen Lukas nicht geahndet wird. Das geht nicht. Das muss unterbunden werden", sagte Präsident Franz Reindl vom Deutschen Eishockey-Bund (DEB). „Ein Check gegen den Kopf ist ein No-Go."
„Ein Check gegen den Kopf ist ein No-Go"
Der bis dahin bei der WM herausragende Reichel pausierte danach auch gegen Finnland (1:2-Niederlage) und kehrte erst wieder im vorletzten Gruppenspiel gegen die USA (0:2-Niederlage) zurück. Man werde bei Reichel „überhaupt kein Risiko" eingehen, versprach DEB-Sportdirektor Christian Künast. „Die Gesundheit steht über allem." Vor allem bei einem 19-Jährigen, der unmittelbar vor einem riesigen Karrieresprung steht. Nach übereinstimmenden Medienberichten holen die Chicago Blackhawks den frisch gekürten Deutschen Meister im Sommer zu sich, damit er in der NHL durchstarten kann. In der „Bild" bestätigte Berater Jaroslav Tuma die Meldung, demnach soll Reichel nach der Weltmeisterschaft im lettischen Riga einen Dreijahresvertrag bei den Blackhawks unterschreiben. Eine offizielle Verkündung des Deals durch Chicago oder die Eisbären stand bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe zwar noch aus, doch in Berlin planten die Verantwortlichen die neue Saison 2021/22 schon ohne ihr größtes Juwel. Die Eisbären sollen eine Ausbildungsentschädigung von etwa 150.000 Euro erhalten – immerhin. Das entspricht in Corona-Zeiten dem Jahresgehalt eines sehr guten Spielers. Der gebürtige Nürnberger Reichel war 2018 von den Starbulls Rosenheim zu den Eisbären gewechselt, wo er zunächst eine Saison in der Nachwuchsliga DNL für die U20-Mannschaft auflief. Dort bewies er auf Anhieb sein überragendes Talent. Schon in der Folgesaison erkämpfte sich der Stürmer einen Stammplatz im Profikader. Den ganz großen Durchbruch schaffte er in der abgelaufenen Meistersaison, als Reichel mit 32 Scorerpunkten (zwölf Tore und 20 Vorlagen) maßgeblich am Titel beteiligt war.
Genau diese Entwicklung hatten sich die Blackhawks von Reichel erhofft. Der Club hatte den vielseitigen Angreifer beim NHL-Draft 2020 in der ersten Runde an 17. Stelle ausgewählt, ihn aber noch eine weitere Spielzeit in der DEL „reifen" lassen. Das sei „das Beste, was mir passieren konnte", resümierte Reichel. „Alle zwei, drei Wochen reden wir. Die Blackhawks schauen jedes Spiel von mir und geben mir Feedback, sagen, was ich gut gemacht habe und was ich nicht so gut gemacht habe", sagte er dem „Tagesspiegel". „Das nehme ich dann auf und versuche, es besser zu machen." In der abgelaufenen Saison hat er seine Sache so gut gemacht, dass die Blackhawks-Verantwortlichen ihm nun den Sprung in die NHL zutrauen. Auch wenn der wie bei Superstar Leon Draisaitl (Edmonton Oilers) vielleicht zunächst über die AHL bei Farmteam Rockford IceHogs führen sollte. „Das werden wir sehen", sagte Chicagos General Manager Stan Bowman, „aber er hatte eine großartige Saison, ich bin sehr optimistisch, was sein Potenzial angeht. Vom Spielstil her passt er gut in unser Team." Reichel würde liebend gern gleich die oberste Stufe erklimmen. „Ich will natürlich in Chicago spielen. Das ist mein Ziel. Je früher ich da bin, umso besser", sagte Reichel, der für das große Abenteuer in Übersee aber noch etwas an seinen Englisch-Kenntnissen feilen will: „Sagen wir mal: Ich kann mich unterhalten." Sportlich kann er sich Tipps von seinem Onkel Robert Reichel holen. Der tschechische Olympiasieger war einst in der NHL ein Star. Über 800 Partien hat er in der besten Eishockey-Liga der Welt bestritten, obwohl er im Gegensatz zu seinem Neffen beim Draft 1989 erst spät (70. Position) gezogen wurde.
„Er ist nur schwer von der Scheibe zu trennen"
Aber Talent allein ist in der NHL eben nicht alles. Im Haifischbecken der weltbesten Kufencracks muss Reichel auch die Ellenbogen ausfahren – auf und neben dem Eis. Da passt es hervorragend, dass der Teenager im Sommer während der langen Vorbereitung ein paar Kilogramm an Muskelmasse draufgepackt hat. „Meine Schwäche ist das Körperliche, das weiß ich. Aber im Sommer konnte ich die Zeit gut nutzen", verriet Reichel. Er habe sich viel mit Fitnesstrainern ausgetauscht und nach deren Plänen trainiert: „Ich fühle mich schon viel besser und stabiler." Auch seine Ernährung hat er umgestellt und dabei Kohlenhydrate durch Eiweiß ersetzt. „Ich esse fast jeden Tag Spiegel- und Rührei und viel Fleisch", sagte er. Entsprechend kraftvoll war sein Spiel bei den Eisbären, auch wenn der Stürmer nach wie vor eher zu den Edeltechnikern zählt. In der Paradesturmreihe mit Leo Pföderl und Marcel Noebels mischte Reichel die Liga auf und sammelte wertvolle Erfahrungen. Vor allem das fast blinde Verständnis mit Noebels, der erneut zum DEL-Spieler der Saison gewählt wurde, macht Hoffnung, dass Reichel an der Seite der NHL-Stars weiter wächst. Eisbären-Trainer Serge Aubin hat gar keine Zweifel, dass die NHL über kurz oder lang das sportliche Zuhause von Lukas Reichel wird. „Er ist sehr stabil auf dem Eis und nur schwer von der Scheibe zu trennen", schwärmte Aubin. Der Kanadier schenkte dem blutjungen Profi viel Vertrauen, setzte ihn auch im Powerplay ein. Und der dankte es ihm mit Toren und Vorlagen. „Es macht mich als Spieler aus, dass ich Powerplay spielen will und kann", meinte Reichel.
Man darf sich von seinem Alter und dem jugendlichen Äußeren nicht täuschen lassen: Lukas Reichel ist extrem fokussiert und ambitioniert. Das hat er auch von seinem Vater, dem ehemaligen Nationalspieler Martin Reichel, mit auf den Weg gegeben bekommen. „Mein Vater hat alles durchgemacht, der war jahrelang in der DEL Profi", sagte Reichel junior. „Ist doch klar, dass er mir da alles weitergibt." Doch in der NHL muss sich der Youngster allein bewähren. Da helfen auch keine Idole, zu denen er aufschaut. Dass sein Lieblingsspieler Patrick Kane künftig sein Teamkollege ist, sei zwar eine „Riesensache". Aber als Fan fliegt Reichel nicht über den großen Teich. Er will auch nicht ständig auf Draisaitl angesprochen oder gar mit ihm verglichen werden. „Klar, was Leon in der NHL macht, das ist Wahnsinn", so Reichel, „aber jeder Spieler ist halt anders. Ich will jetzt nicht der nächste Draisaitl oder der nächste Tim Stützle sein. Ich will der nächste Reichel sein!" Um aber in die großen Fußstapfen seines Onkels Robert, der einst mit Jaromir Jagr und Bobby Holik eine berühmte tschechische Angriffsformation bildete, zu treten, muss Reichel noch viele Schritte gehen. Er ist bereit dafür.