Viviane, Julia, Elena und Lara führen nicht eine Beziehung, sondern jeweils drei – eben jede mit jeder. Gemeinsam mit drei Kindern und vier Katzen meistern sie Familie, Haushalt, Arbeit – und die Aufklärung über Klischees und Polyamorie.
Wenn Du zwei Menschen zur gleichen Zeit liebst, dann wähle den zweiten Menschen. Denn wenn Du den Ersten wirklich lieben würdest, hättest Du Dich nie in den Zweiten verliebt, hatte es Johnny Depp einmal formuliert. Und während Depp seinerzeit Vanessa Paradis vielleicht besser nicht für Amber Heard verlassen hätte, stellen vier junge Frauen im Rhein-Neckar-Kreis seine Aussage gleich gänzlich in Frage: Viviane, Julia, Elena und Lara sind in einer Beziehung. Eigentlich sogar jeweils in drei. „Wir finden, es ist das krasse Gegenteil. Das mussten wir aber selbst auch erst erleben", erzählt Julia. Denn selbst vorstellen hätten sie sich diese Situation vorab nicht können. Aber der Reihe nach.
Es war im Frühling 2020 als Julia und Viviane, glücklich verheiratet mit drei Kindern, die sie im Internet Maxi, Midi und Mini nennen, auf der Suche nach anderen gleichgeschlechtlichen Paaren im Internet Elena und Lara aus dem Saarland liebe Grüße hinterlassen. Die Idee, dass mehr als Freundschaft zwischen den vier Frauen entstehen könne, hatte keine.
„Hypothetisch – das war unser Lieblingswort"
Nach ein bisschen Smalltalk traf man sich zum Spazieren. Auch die Kinder waren dabei. Es war der 5. Mai 2020. Und plötzlich sollte doch alles anders kommen: „Wir haben uns dann immer mal wieder getroffen und irgendwann haben dann so Gespräche angefangen: Ganz hypothetisch, falls man sich gut finden würde … So in der Theorie … Wie würdet ihr das so sehen?", erzählt Viviane. „Hypothetisch – das war unser Lieblingswort in der Zeit."
Aber was tun, wenn hypothetisch plötzlich gar nicht mehr so hypothetisch ist? „Lara und ich hatten einen Schlüsselmoment als Viviane, Julia und die Kinder zu uns ins Saarland gefahren sind", erinnert Elena sich. „Eineinhalb Stunden, um mit uns zu Abend zu essen, und dann wieder eineinhalb Stunden nach Hause. Da haben wir gemerkt, dass es irgendwie ein wenig mehr wehtat, als sie gefahren sind als zuvor." Auch Lara erinnert sich noch gut: „Wir hatten noch nicht die Tür zu, da habe ich schon gesagt: Du, Ella, ich glaube, das ist nicht so hypothetisch." Einige Zeit später habe sie ihr unter Tränen gebeichtet, Gefühle für Julia und Viviane zu haben. Und Elena? „Ich habe sie angeschaut, gelacht und gemeint: Das war mir klar", erzählt die Saarländerin. Auch Julia und Viviane erinnern sich noch gut: „Der erste Moment, wenn deine Frau trocken sagt: ‚Ja, ist schon Liebe‘, das ist schon komisch …", sagt Julia. „Aber dann denkt man drüber nach und es passt schon."
Ein daraus resultierendes, dramatisches Gespräch blieb aus. Nicht zuletzt Vivianes Pragmatismus geschuldet: „Julia und ich haben darüber diskutiert, ob das jetzt eine Beziehung ist. Sie meinte nein, es hat ja noch keiner gesagt. Dann habe ich eine Whatsapp in unsere Gruppe geschickt: ‚Sind wir jetzt eigentlich zusammen?’", erzählt die Rothaarige trocken. Eine Antwort ließ auch nicht lange auf sich warten: Ja. Es war der 8. August, eine weitere Schnapszahl im Leben des Quads.
„Die Reaktionen waren alle positiv"
Aber wie Familie und Freunde einweihen? Lara war die Erste: „Meine Mama wusste es zuerst." Ihrem Freundeskreis erzählt die 30-Jährige an ihrem eigenen Junggesellinnenabschied vom Quad. „Das war erst einmal ein wildes Durcheinander und viele überraschte Gesichter. Ich habe dann gesagt: ‚Okay, wir fangen da vorne an, jeder darf eine Frage stellen und dann ist das Thema erledigt.‘ Sie waren zwar überrascht, aber meinten auch: Warum nicht?" Auch die anderen drei hatten keine Probleme in ihrem Umfeld. „Die Reaktionen waren alle positiv. Meine Mutter behandelt Elena und Lara genauso wie Viviane auch", erzählt Julia. Dabei hatte man sich vorab schon ein paar Sorgen gemacht. „Ich hatte lange auch Angst, dass mir die Kunden abhauen, wenn ich offen damit umgehe", erinnert sich Elena, die als selbstständige Fotografin von ihrer Kundschaft abhängig ist. Die Reaktionen seien aber gut ausgefallen. Auch mit Maxi, Midi und Mini gab es keine Probleme. „Die sind da quasi reingewachsen. So wie wir alle", sagt Julia. „Maxi mussten wir ein bisschen mehr erklären, sie ist ja schon sieben. Wir haben ihr erklärt, wie es ist. Das ist vollkommen normal." Schlägt man nun aber die Bedeutung des Wortes „normal" nach, so stößt man auf folgende Definition: „Der Norm entsprechend; so [beschaffen, geartet], wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt". Die Mädels vom Neckar haben da eine andere Meinung: „Normal ist all das, was man selbst für richtig hält und fühlt", so Elena, die das auch in die breite Menge tragen will. Über Instagram?
Dort versorgt das Quad unter dem Namen @happypolyfamily mittlerweile rund 9.000 Follower täglich mit Content aus ihrer Normalität. „Wir haben die ganze Zeit von Sichtbarkeit gesprochen. Julia hatte zuvor schon die Idee, eine Facebook-Gruppe zu eröffnen", so Elena. Die Gruppe existiert auch noch, ist aber verborgen. „Viele brauchen diesen Schutz, dass sie sich in der Gruppe austauschen können ohne dass jeder sieht, dass sie in einer solchen Gruppe sind", weiß Julia. „Ich habe sie vor etwa einem dreiviertel Jahr gegründet, weil ich explizit Eltern gesucht habe, die so leben. Für mich war es schwierig, wie ich das mit den Kindern handhaben soll, weil diese ja zwangsläufig auf die Gesellschaft stoßen, für die das nicht normal ist." Deswegen sei ihnen die Aufklärung auch so wichtig: „Wir wollen, dass die Kinder in einer Welt aufwachsen, in der es normal sein wird, so zu leben, wie sie leben möchten." Denn nicht nur Julia, Elena, Viviane und Lara leben in einer Poly-Family. „Wir haben sehr schnell festgestellt, dass es sogar recht viele sind, die so leben", berichtet die 33-Jährige. „Aber auch, dass diese zu gut 90 Prozent nicht offen damit umgehen. Das hat dann für uns noch mehr den Impuls geweckt, das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen."
Täglich gibt es mindestens einen Post, in welchem eine der vier über ein ihr wichtiges Thema schreibt. Dazu Storys – sei es Viviane beim Wäsche aufhängen, Elena im Büro, Julia beim Sport oder Lara beim Kuscheln mit einer der vier Katzen –, Fotos und Q and A’s. Aber was fragen die Leute einen eigentlich so?
„Eifersucht gibt es immer noch"
„Unser Sexleben ist sehr interessant", schmunzelt Julia. „Dabei fragt man ja auch kein Zweierpaar, wie deren Sexleben ist. Aber das ist auch schon so, wenn man nur mit einer Frau zusammenlebt", sagt Elena. Aber auch organisatorische, teils sehr stereotype Dinge sind von Interesse, wie Viviane ergänzt: „Wie groß die Schränke sind, wie wir die Wäsche auseinanderhalten, wie wir den Haushalt managen und wie viel Zeit wir im Bad brauchen." Auch Eifersucht spielt eine große Rolle. „Eifersucht gibt es immer noch, aber es wird weniger", erzählt Lara. „Das war ein langer Prozess. Keine von uns ist aufgewacht und war plötzlich eifersuchtsfrei", ergänzt Julia. Reden sei der Schlüssel. „Man hatte anfangs auch immer irgendwo das Gefühl, einer könnte einem etwas wegnehmen", erinnert sich Elena an die ersten Wochen. „Da muss man erstmal verstehen, dass das nicht so ist. Keine nimmt einem etwas weg, sondern man bekommt mehr dazu." Denn jede teile mit jeder unterschiedliche Interessen. So könne Viviane sich mit Elena beispielsweise auch einmal über Concealer unterhalten, während Lara und Julia gern zusammen werkeln oder Sport treiben. „Man freut sich mittlerweile auch, dass der Partner etwas von jemand anderem bekommt, was er von einem selbst nicht bekommen kann und man selbst steht nicht mehr unter dem Druck, dieses Bedürfnis erfüllen zu müssen", berichtet Julia.
Oft würden sie auch gefragt werden, ob sie eine mehr lieben als die andere. Eine Frage, die sie nicht nachvollziehen können. „Ich liebe auch alle meine Kinder. Nur weil ein zweites kommt, höre ich doch nicht auf, das erste zu lieben. Ich liebe es auch nicht weniger. Das wird von der Gesellschaft auch gar nicht infrage gestellt. Niemand geht davon aus, dass ich meine Kinder nicht gleich viel liebe", sagt Julia. „Man kann Liebe nicht messen. Sie wird aber auch nicht weniger, wenn man sie teilt." Keine liebt eine mehr als die anderen – nur eben anders.
Apropos mehr oder weniger: Wie steht es eigentlich um die Zeit für sich in einem Sieben-Personen-Haushalt? „Da wir so viele Leute sind, ist es sogar einfacher", versichert Elena. „Man weiß halt, es sind noch drei Erwachsene da", befindet auch Viviane. Alle vier hätten Dinge, die sie gern tun – und kämen diesen auch regelmäßig nach. So steht es auch um die Beziehungen untereinander: „Es läuft nicht anders, als in einer Zweierbeziehung – nur die Konstellation ist eben manchmal anders", sagt Julia.
Die nächste Hürde sollte die Suche nach einem gemeinsamen Zuhause sein. Diese gestaltete sich schwierig – was nicht nur an der Größe lag, wie Julia erzählt: „Ich hatte mir ein Haus angeschaut. Dort habe ich zu Beginn nur von ‚Familie‘ und ‚sieben Personen‘ gesprochen – das war noch nicht das Problem. Als ich gesagt habe, ‚ich und meine Frau‘, war das schon das erste Problem. Dass wir dann vier Erwachsene und drei Kinder sind, hat zu einer Absage geführt." Ein Rückschlag, der die vier Frauen ziemlich beschäftigte. Nach der Absage habe man dann in einem langen Text alles erklärt und jeden angeschrieben, dessen Immobilie infrage kam. Mit Erfolg. Dass es nun doch so schnell ging, freut die vier umso mehr, denn die Fernbeziehung sollte so schnell wie möglich beendet werden. Doch das Gespann hat noch ganz andere Pläne: „Ein Hof mit Platz für Tiere und Kinder", erzählt Lara. „Und dort weitgehend auf Selbstversorger umsteigen." Schon jetzt würden sie beim Einkaufen stark auf Nachhaltigkeit achten. „Und vielleicht gibt es noch irgendwann ein Plus eins", schließt Elena mit einem Lächeln.