Alternativen wie Bralettes, Sport-Bras oder Bikini-Tops haben den Büstenhalter längst von den Catwalks verdrängt. Doch so ganz ohne diesen Klassiker geht es dann doch nicht. Nun wird der BH über der Kleidung getragen, als modisches Accessoire.
Auf den viralen Mode-Präsentationen für den Sommer 2021 ist eine Skurrilität ganz besonders stark herausgestochen. Die wurde allerdings von den meisten Fashion-Experten schnöde übergangen oder lediglich ganz knapp mit dem Bekenntnis einer völligen Ratlosigkeit kommentiert. Die Rede ist von BHs, die über Klamotten, meist in Gestalt von Kleidern, getragen wurden. Wobei die meisten Designer dabei offenbar keinerlei Wert darauf gelegt hatten, die BHs stilistisch, farblich, schnitttechnisch oder ästhetisch mit den darunter befindlichen Teilen abzustimmen. Wohl das krasseste Beispiel für diesen seltsamen Trend hat das Haus Versace geliefert. Denn einen neon-grünen BH über einem bunt-schillernd-gestreiften Kleid mit langen Ärmeln zu platzieren, das ist schon ziemlich schräg. Auch ein gelber BH über einem grünen, mit gelben Blumenprints geschmückten Kleid wie bei Jason Wu kann stilistisch nicht gerade als Meisterwerk eingestuft werden. Damit nicht genug setzte Simone Rocha den aktuellen Fischnetz-Hype in Szene, indem sie mit Glitzersteinen aufgepeppte Net-BHs über voluminösen Roben drapiert hatte. Der schwarz-transparente, im Stil klassischer Underwear mit Spitze geschmückte BH über einem schlichten weißen T-Shirt bei Koche dürfte beim Betrachter kaum mehr als ein mitleidiges Naserümpfen hervorgerufen haben. Gleiches gilt für den weißen BH über einem gestrickten Polo-Kleid bei Drome, die Bandeaus mit Vorderschleife über mädchenhaft-bodenlangen Dresses bei Simonetta Ravizza oder die schwarzen Bralettes über abstrakt Floralem bei Tibi. „Mal abgesehen, dass es auf den ersten Blick irgendwie falsch aussieht", so die Einschätzung einer Redakteurin des Onlineportals modepilot.de, „ist der Look ein Statement für Weiblichkeit. Welche Vorteile dieses Layering sonst noch bietet, fällt mir gerade nicht ein."
Des Rätsels Lösung könnte die bewusste Abwertung des BHs zu einem völlig zweckfreien Accessoire sein, dem nur noch eine schmückend-auffällige Deko-Charakter-Funktion zugebilligt wird. Wenn dem so sein sollte, dann hätten die genannten Designer damit womöglich ihren besonders prägnanten Beitrag zur aktuellen, durch die häuslichen Begleitumstände der Corona-Pandemie global ausgelösten Diskussion um die Sinnhaftigkeit des BH-Tragens geleistet. Weil Frauen weltweit ab dem Frühling 2020 auf das Anlegen von den Brustbereich einschnürenden BHs unter ihren Bequem-Klamotten im Homeoffice oder in häuslicher Selbstisolation verzichtet hatten, wagte die US-amerikanische Ausgabe von „Harper’s Bazaar" schon Anfang April 2020 die provokante Frage zu stellen: „Werden wir jemals wieder BHs tragen?" Einen Monat später zog die „Vogue" unter der in Frageform formulierten Headline „Ist es jetzt an der Zeit, sich vom BH zu verabschieden?" nach. Ab Sommer 2020 fand das hochbrisante Thema dann auch Eingang in die renommiertesten deutschsprachigen Zeitungen, von „Frankfurter Allgemeine Zeitung" über „Süddeutsche Zeitung" bis hin zur „Neuen Zürcher Zeitung".
Sport-Bras als Teil des Athleisure-Looks
Immerhin hatten in den letzten Jahren diverse Studien die aus dem BH-Tragen erwachsenden körperlichen Nachteile für Frauen aufgezeigt. Dabei hatte vor allem eine Untersuchung der Université de Franche-Comté aus dem Jahr 2013 für Aufsehen gesorgt: Demnach macht ein Verzicht auf den BH die Brüste schöner, weil das stützende Gewebe wachsen und der Busen sich dadurch selbst viel besser halten kann. Auch durch den BH verursachte Rückenprobleme könnten vermieden werden. Andere Studien konnten bei Frauen mit größeren Brüsten den Wegfall von Schmerzen und Beschwerden nach dem Abschied vom Büstenhalter nachweisen, dessen ersten Exemplare anno 1904 auf dem US-Markt aufgetaucht waren und der seinen Abkürzungsnamen BH in den 1930er-Jahren erhalten hatte. Fast zwangsläufig wurde in der medialen Diskussion die Frage aufgeworfen, ob Frauen heute BHs nur noch aus emotionalen Gründen oder zur Befolgung einer allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Konvention tragen. Und ob es womöglich endlich an der Zeit sein könnte, an die Braless-Frauenbewegung der 1960er-Jahre anzuknüpfen und einen bewussten BH-Verzicht, auch außer Haus beim Gang zur täglichen Arbeit, zur neuen Norm zu erheben. Was schließlich schon viele Promi-Ladys vorgemacht hatten, wobei die Namen von Miley Cyrus, Kendall Jenner, Lena Dunham, Emily Ratajkowski, Kim Kardashian, Rihanna, Gloria Steinem, Kate Moss, Patti Smith, Jane Birkin oder Cybill Shepherd als No-Bra-Vorreiterinnen immer wieder genannt wurden.
Fast unzeitgemäß vor dem Hintergrund der anhaltenden Braless-Diskussion und eigentlich nur von der „Vogue" registriert, muten da im Sommer 2021 schon durch weite Ausschnitte exponiert herausgestellte BH-Blitzer auf den Laufstegen von Versace, Sportmax oder Dolce & Gabbana an. Einen klassischen BH auf nackter Haut als neues Crop Top mit Hinweis auf entsprechend gekleidete Laufsteg-Models bei Chanel, Hermès, Tibi, Christian Siriano oder Jacquemus herauszustellen, wie es einzig das französische Fashion-Magazin „L’Officiel" unter der Headline „The celebrated Bra" gemacht hatte, erscheint aktuell geradezu abwegig zu sein, ganz egal, ob die Teile aus Luxus-Satin hergestellt oder mit delikaten Stickdetails aufgehübscht wurden.
Bei den komfortablen Sport-Bras, die längst ein fester Bestandteil des Athleisure-Looks sind, sieht es da schon ganz anders aus. Denn diese Pieces haben sich seit dem ersten Sport-BH der Welt anno 1977 und gepusht durch die folgende Fitness-Welle inzwischen einen festen Platz in der weiblichen Garderobe erobert und tauchen in den Sommerkollektionen 2021 in ungewohnt großer Zahl auf. Die gelungenste Umsetzung kommt heuer fraglos vom Label Koche, wobei der weiße Sports-Bra von einem schwarzen Rand gesäumt und mit einer farblich identischen Shorts mit schwarzem Taillensaum kombiniert wird. Damit könnte Frau problemlos auch auf dem Tennisplatz aufschlagen. Ziemlich cool wirkt ein mit Quadratmustern überzogener Sports-Bra von Jacquemus, zumal ihm ein Cropped-Cape als Partner zugewiesen wurde. Sandy Liang hat einen hautengen Hybriden in braunem Farbton zwischen Sports-Bra und Crop Top entworfen. Bei David Koma wird ein eher konventioneller Sports-Bra durch eine weit aufgeknöpfte Bluse ins rechte Licht gerückt. Selbst Chanel hat eine bandeau-ähnliche Version eines Sport-Bras im aktuellen Sortiment. Bikinitops könnten durchaus als ausgehfeine Alternative zu Sports-Bras angesehen werden, wenn sie wie bei Tom Ford, Etro, Maryam Nassir Zadeh oder MSGM mit darüber gehüllten Blazern oder Jacken kombiniert werden. Wenn sie hingegen wie bei Alberta Ferretti oder Jacquemus die einzige Oberbekleidung darstellen sollen, dann dürfte sich Frau darin tatsächlich nur beim Strandgang richtig wohlfühlen. Nur der Vollständigkeit halber soll auch noch angemerkt werden, dass diesen Sommer auch wieder moderne Interpretationen des Klassikers Korsetts in einigen Designer-Kollektionen wie LaQuan Smith, David Koma – sehr sportlich über Shirt und Radlerhose gestaltet – Christopher John Rogers, Philosophy oder Versace – grazile Schnürungen auf blanker Haut – vertreten sind.
Wer weniger von seiner blanken Hülle bloßlegen möchte, ist diesen Sommer mit den vielfältigen Crop Tops, mal kürzer, mal länger gehalten, garantiert auf der sicheren Seite. Frühe Protagonistinnen dieses Trends waren schon vor einigen Jahren Bella Hadid und Emily Ratajkowski. Louis Vuitton hat aktuell gekürzte Blusen und Jacken in sein Sortiment aufgenommen, bei Max Mara gibt es sogar eine Cropped-Hoodie-Variante. Doch die mit weitem Abstand angesagtesten BH-Alternativen des Sommers 2021 sind fraglos die Bralettes, jene bequemen Teile, die weder über Bügel noch Pads oder gepolsterte Cups verfügen und die als Ultra-Knapp-Version von Crop Tops klassifiziert werden können. Sie verdanken ihren Siegeszug vor allem der Body-Positivity-Bewegung, derzufolge jeder Körper ein schöner Body sein kann und es daher nicht nötig ist, Brüste zu formen, sondern sie lediglich in ihrer natürlichen Gestalt zu halten und entsprechend in Szene zu setzen. Bralettes tauchen in Hülle und Fülle in den aktuellen Sommerkollektionen auf, beispielsweise bei Dior, Alberta Ferretti, Moschino, Isabel Marant, Jacquemus, Tom Ford, Marques Almeida, Molly Goddard, Emilia Wickstead oder Maximilian Davis.