Ambiguitätstoleranz beschreibt unsere Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten auszuhalten und Widersprüche zu ertragen. Der Sozialpsychologe Prof. Dr. Hans-Peter Erb von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg erklärt im Interview, warum das Persönlichkeitsmerkmal in der Ehe, in der Zuwanderungsgesellschaft und im Kampf gegen Antisemitismus essenziell ist.
Herr Erb, Ambiguitätstoleranz ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das die Psychologin Else Frenkel-Brunswik 1949 ins Leben gerufen hat. Denken Sie, dass dieses Modell heute immer noch aktuell ist und wenn ja warum?
Innerhalb der Forschung hat sich die Rezeption verändert. Es gibt mittlerweile andere, ähnliche Konzepte, beispielsweise „Uncertainty avoidance", also die Vermeidung von Unsicherheit. In der Literatur gibt es auch das „Need for closure"-Konzept (Anm. d. Red. das Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit). Im Übrigen haben andere Psychologen versucht das Modell auf „Risk taking", also Risikofreude, zurückzuführen. Seinem Ursprung nach war das Ganze eine Einstellungskonzeption, also auf bestimmte Objekte bezogen, und nicht so stark generalisiert auf unterschiedliche Situationen wie heute. Heute glaubt man meist, dass Ambiguitätstoleranz eine Persönlichkeitseigenschaft ist. Wir finden noch aktuelle Literatur zu dieser Thematik, wenn auch recht selten.
Ist Ambiguitätstoleranz auch in unserer modernen Gegenwartsgesellschaft aktuell?
Das kommt auf die Betrachtungsweise an. Aus meiner Sicht kann man mit dem Begriff der Ambiguitätstoleranz recht viel anfangen. Man kann tatsächlich beobachtbares Verhalten – sowohl bei anderen als auch bei sich selbst – auf dieses theoretische Konstrukt zurückführen. Wenn wir den Begriff weiter fassen, als das seinerzeit Else Frenkel-Brunswik getan hat und aktuelle Entwicklungen in der Wissenschaft miteinbeziehen, ist Ambiguitätstoleranz immer noch relevant.
Während der Corona-Pandemie mussten wir neue Regeln für den Alltag und die Kommunikation verinnerlichen. Fällt es ambiguitätstoleranten Individuen leichter auszuhalten, wenn die Mitmenschen die Corona-Regeln problemloser beherzigen als man selbst?
Generell sind wir während der Pandemiezeit massiv mit Unsicherheiten, die teilweise von der Politik erzeugt werden, konfrontiert. Wir können davon ausgehen, dass Menschen unterschiedlich gut damit zurechtkommen.
Wer sich hohe Sicherheit wünscht und Ambiguitäten vermeiden möchte, reagiert darauf eher negativ, zum Beispiel mit Besorgnis und Abwendung. Menschen, die in hohem Maße ambiguitätstolerant sind, reagieren dagegen eher gelassen.
Zum Beispiel beim Einkaufen im Supermarkt lässt sich beobachten, dass einige die Maske nicht bis über die Nase gezogen haben oder nicht den gebotenen Mindestabstand einhalten.
Hier kommt ein anderer Aspekt hinzu. Geringe Ambiguitätstoleranz ist eng verknüpft mit dem Glauben an die Macht, dem Sich-Hingezogen-Fühlen zu Mächtigen. Einerseits möchte man Macht ausüben, auf der anderen Seite unterwirft man sich auch stärker. Wenn man bei anderen beobachtet, dass sie die Regeln nicht befolgen, dann wird bei niedriger Ambiguitätstoleranz auch eher eine negative Reaktion auftreten als bei einer hohen.
Was für eine Macht meinen Sie?
Das ist die soziale Macht unserer Regierung, der Gesetze und der Normen, die gelebt werden. Jemand mit geringer Ambiguitätstoleranz erwartet eher, dass die anderen sich anpassen wie er oder sie sich selbst auch. Man unterwirft sich den Vorschriften und reagiert negativ darauf, wenn andere das nicht tun. Wir kennen das alle aus eigener Erfahrung. Ich fahre 120 auf der Autobahn und dann überholt mich einer mit 160. Das ärgert mich verständlicherweise.
Wenn ich zum Beispiel mit einem Mann, der mir im Bus gegenüber sitzt, Blickkontakt aufnehme, dann entzieht sich meiner Kenntnis, was er über mich denkt. Kann uns Ambiguitätstoleranz davor bewahren, ein generelles Misstrauen zu den Mitmenschen zu entwickeln?
Wir wissen nicht, was der andere denkt, aber wir machen uns in dem Moment Gedanken, was er denken könnte. Darin steckt natürlich eine ganze Menge Mehrdeutigkeit. Selbst wenn mein Gegenüber mich anlächelt, kann er etwas Negatives über mich denken und das hinter seinem Lächeln verbergen. Damit kommen Leute mit einer hohen Ambiguitätstoleranz besser zurecht, ohne diese mehrdeutige Situation aufzulösen. Die Idee hinter der Ambiguitätstoleranz ist, dass, wenn man wenig tolerant ist, Mehrdeutigkeit aus der Situation herausnimmt und zwar möglichst schnell. Doppeldeutigkeit ist aversiv, wie wir dazu sagen, das heißt, sie löst negative Gefühle aus. Dieses negative Gefühl will man loswerden. Da kommt man auf den erstbesten Gedanken: „Der sieht mich gerade so und so an, weil…" Der niedrig Ambiguitätstolerante bleibt beim ersten Gedanken einfach hängen, während jemand anderes länger darüber nachdenkt und nicht in die Falle des erstbesten Gedankens tappt.
Das heißt, Sie würden nicht sagen, dass Ambiguitätstoleranz einen vor Misstrauen schützt?
Es kann durchaus auch sein, dass der erste Gedanke nicht unbedingt zu Misstrauen führt, sondern in die andere Richtung. Der erste Eindruck, bei dem man hängen bleibt, kann auch ein positiver über die andere Person sein. Es sagt nicht unbedingt etwas Negatives aus. Das ist aber dann der Fall, wenn die Zielperson in eine soziale Kategorie passt, zum Beispiel eine Person mit schwarzer Hautfarbe…
… oder eine Frau, die Kopftuch trägt.
Genau. Dann ist es wahrscheinlich, dass schneller eine negative Schublade aufgemacht wird und diese Zielperson in diese Schublade gesteckt wird. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass geringe Ambiguitätstoleranz eng mit Vorurteilen verknüpft ist.
Wenn man Ambiguitätstoleranz einmal erworben hat, muss man diese Eigenschaft im Laufe seines Lebens wach und lebendig halten?
Das ist eine schwierige Frage. Wo die Eigenschaft herkommt, ist bislang unklar. Im Grunde gibt es dazu auch keine Studien. Wir kennen das von anderen Eigenschaften. Zum Beispiel haben Zwillingsstudien gezeigt, dass ein genetischer Anteil vorhanden ist, was die Intelligenz betrifft. Wir haben einerseits von den Anlagen her etwas mitbekommen und zum anderen hat die Umwelt unsere Intelligenz gefördert oder behindert. Wenn wir von Frenkel-Brunswik ausgehen, müssen wir annehmen, dass Ambiguitätstoleranz eine soziale, sehr stark von der Umwelt geformte Variable ist und sich möglicherweise im Elternhaus oder in der Schule herausbildet. Wahrscheinlich ist, dass es sich um eine stabile Persönlichkeitseigenschaft handelt. Wir verlieren die nicht und müssen sie auch nicht trainieren. Dafür sprechen auch noch andere Wechselbeziehungen mit den Big Five (Anm. d. Red. Modell aus der Persönlichkeitspsychologie, wonach sich die Persönlichkeit des Menschen in die fünf Haupteigenschaften Aufgeschlossenheit, Perfektionismus, Geselligkeit, Rücksichtnahme und emotionale Verletzlichkeit einordnen lässt) Ambiguitätstoleranz steht in einer Wechselbeziehung zu Neurotizismus, also Ängstlichkeit und Unsicherheit, und in einer negativen Beziehung zur Offenheit, Erfahrungen zu sammeln. Das sind zwei fundamentale Persönlichkeitseigenschaften.
Wie kommt es aber, dass Menschen im Erwachsenenalter eine Aversion, einen Hass gegen andere entwickeln?
Jetzt sprechen sie an, dass wir auch Vorurteile haben und andere diskriminieren. Das ist zum Teil verknüpft mit dem Konzept der Ambiguitätstoleranz. Vorurteile liefern eine schnelle Antwort in Situationen, in denen offen ist, was mein Gegenüber von mir will oder über mich denkt. Dass sich der Ausdruck dieser Vorurteile im Verlauf eines Lebens ändert, ist eine ganz andere Frage. Wie verhält man sich? Als Jugendlicher ist man selbst unsicher und muss sich selbst erst finden. Sexuelle Entwicklung und Pubertät sind in dieser Altersphase schwierige Entwicklungsaufgaben. Im zunehmenden Erwachsenenalter hat man möglicherweise auch eine gewisse Machtposition – da kann man sich Vorurteile auch eher leisten. Man muss sich nicht so perfekt etwa an die Norm der Fairness anpassen. Das sind allerdings Aspekte, die mit der Ambiguitätstoleranz nichts zu tun haben.
Auch in der Ehe, in partnerschaftlichen Beziehungen müssen wir Ambivalenzen aushalten. Das heißt, ich liebe meine Ehefrau, muss allerdings auch die Macken meiner Partnerin aushalten. Fördert also gewissermaßen die Institution Ehe das Aushalten von Ambivalenzen – gleichgültig ob es sich um homo- oder heterosexuelle Ehepartner handelt?
In der Ehe finden wir immer dann glückliche Paare, wenn sie sich ähnlich sind. Wenn beide Ehepartner hoch oder niedrig ambiguitätstolerant sind, verstehen sie sich auch. Man bestätigt sich gegenseitig. Die Ähnlichkeit ist ein sehr guter Prädiktor für die Zufriedenheit mit der Ehe und für die Stabilität der Beziehung. Natürlich ist es einfacher, mit jemandem auszukommen, der nicht immer in Gut-Schlecht-Kategorien denkt. Kein Mensch ist immer nur gut und keiner ist ständig nur schlecht. Wenn hohe Ambiguitätstoleranz in einer Beziehung besteht, ist es einfacher, beispielsweise eine negative Eigenschaft bei meinem Partner zu akzeptieren. Das würde hier ein positiver Prädiktor sein.
Was verstehen Sie unter Prädiktor?
Von Prädiktoren sprechen wir in der Psychologie, wenn es sich um Variablen handelt, aus denen man Vorhersagen ableiten kann. Ein Prädiktor für Ehezufriedenheit ist eine Variable, die eingesetzt werden kann, um zum Beispiel vorherzusehen, wie lange das Paar zusammenbleiben wird.
Hat Ambiguitätstoleranz eigentlich auch Grenzen oder kann ich mich uneingeschränkt ambiguitätstolerant durch die Welt bewegen?
Wir gehen davon aus, dass das Merkmal in der Bevölkerung normal verteilt ist. Nur selten kann man extreme Ausreißer nach oben oder unten feststellen. Zwei Drittel der Menschen liegen auf mittlerem Niveau und fallen nicht sonderlich auf. Individuell verträgt jeder Einzelne ein unterschiedliches Level an Ambiguität. Wir alle stoßen irgendwann mehr oder weniger an unsere Grenzen, wenn wir herausgerissen werden aus allem Gewohnten und Vertrauten. Menschen, die gefoltert werden, wissen nicht, was sie als Nächstes erwartet – etwas Angenehmes oder etwas weitaus Schlimmeres. Wenn man die Kontrolle über alles verloren hat und alles um einen herum ambigue ist, ist das eine extreme Art der Folter – auch für Menschen mit hoher Ambiguitätstoleranz.
Können Sie uns ein anderes Beispiel geben?
Der eine fährt jedes Jahr nach Österreich in den Urlaub und steigt jedes Mal im gleichen Hotel ab. Für ihn ist das wunderbar, weil es da keine Ambiguitäten und immer Schnitzel mit Pommes frites und Salat gibt. Das verschafft diesem Menschen Befriedigung, weil er eine geringe Ambiguitätstoleranz hat. Ist wider Erwarten das Stammhotel ausgebucht ist, fängt er womöglich an auszuticken. Für einen anderen Menschen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz wiederum gibt es nichts Schlimmeres, als jedes Jahr in das gleiche Hotel nach Österreich zu fahren. Derjenige muss jedes Jahr etwas Neues erleben, er bucht womöglich auch kein Hotel im Voraus und lässt sich überraschen. Für ihn sind die Grenzen seiner Toleranz erst später erreicht.
Die Zuwanderung ist und bleibt eine Herausforderung für die Mehrheitsgesellschaften vieler Staaten. Brauchen wir mehr ambiguitätstolerante Menschen, damit wir eine dauerhafte Willkommenskultur etablieren können?
Eine geringe Ambiguitätstoleranz ist in der Tat mit Ethnozentrismus verknüpft, also mit der Vorstellung, dass die eigene Ethnie den übrigen Ethnien überlegen ist. Wir könnten uns auf der anderen Seite auch wünschen, dass diejenigen, die zu uns zuwandern, eine gewisse Ambiguitätstoleranz mitbringen. Eine hohe Ambiguitätstoleranz auf beiden Seiten – aufseiten der Mehrheitsgesellschaft wie aufseiten der Migrantinnen und Migranten – würde die Integration deutlich vereinfachen. Dadurch würde es weniger Vorurteile, weniger Dogmatismus geben. Anders gesagt, wäre man offener für die Erfahrungen mit zugewanderten Menschen und umgekehrt offener für die Erfahrungen, die man nach der Zuwanderung in der neuen Umgebung sammelt.
Antisemitismus beziehungsweise Antijudaismus bekommt in den letzten Jahren wieder Auftrieb und kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Wie sollte man am besten auf antisemitische, antijudaistische Ressentiments im Alltag reagieren, ohne gleich als penibler Political-Correctness-Typ dazustehen?
Ich kenne das Problem auch aus eigener Erfahrung. Auf der anderen Seite will man natürlich nicht als Mitläufer dastehen – zumal man ja nicht mit allen mitlaufen kann und will. Im Speziellen ist Antisemitismus eng verbunden mit geringer Ambiguitätstoleranz. Menschen, die sich antisemitisch oder antijudaistisch äußern, verfallen schnell in ein Schwarz-Weiß-Denken und vertreten ihre eigene Meinung mit hoher Selbstsicherheit. Andere Individuen, die Ambiguitäten wahrnehmen, wägen eher ab und denken nicht in festen Kategorien – das sind „die Juden" und das sind „wir Christen" oder umgekehrt. Wenn man auf Leute mit starken Vorurteilen trifft, sollte man das nicht persönlich nehmen. Vielmehr sollte man von der persönlichen Ebene wegkommen und inhaltlich argumentieren. Auf keinen Fall sollte man sich in die Enge drängen lassen, in dem Sinne, dass bei einem die Beweislast dafür liegt, dass das Vorurteil nicht stimmt. Stattdessen sollte man von der anderen Seite Evidenz einfordern und fragen, was die Belege für diese Ideen sind. Ob man solche Ressentiments dadurch gut abstellen kann, ist aber eine andere Frage, denn wir kämpfen seit Jahrzehnten gegen Antisemitismus.