Das Gastspiel der weltbesten Motorrad-Piloten beim Großen Preis von Deutschland lockt normalerweise rund 200.000 Fans an den Sachsenring. Doch das Rennen wird am 20. Juni ohne Publikum stattfinden.
Das Szenario bei den MotoGP-Rennen der Saison 2021 erinnert im jeweils auf elf Teams verteilten 22-köpfigen Fahrerfeld ein wenig an das der Formel 1 der letzten Jahre. Denn nicht nur bei den Boliden pflegen renommierte Ex-Weltmeister wie Kimi Räikkönen, Fernando Alonso oder Sebastian Vettel dem Spitzenfeld häufiger hinterherzufahren. Bei der aktuellen MotoGP ist das Ganze noch viel krasser, weil sich mit Valentino Rossi (Jahrgang 1979) und Marc Marquez (Jahrgang 1993) die beiden Fan-Idole und Aushängeschilder der Motorrad-Welt oft nicht mal unter den Top Ten platzieren konnten. Wenig wahrscheinlich, dass sich daran etwas Grundlegendes ausgerechnet beim Großen Preis von Deutschland auf dem Sachsenring am 20. Juni ändern wird. Auf dem legendären Kurs, dessen Streckenlänge von 3,671 Kilometern von den Piloten 30-mal bewältigt werden muss, zählen andere Fahrer wie Fabio Quartararo (bislang drei Saisonsiege), Johann Zarco, Francesco Bagnaia, Jack Miller (bislang zweimal Sieger) oder Miguel Oliveira zu den Siegfavoriten. Wobei eine verlässliche Gewinner-Vorhersage angesichts der extrem geringen Zeitabstände zwischen den Top-Piloten kaum möglich ist. Zudem könnte der Wettergott ein entscheidendes Wörtchen mitreden. Vorab wird zwar jeder Grand Prix als Trocken- oder Regenrennen eingestuft. Doch bei unerwartet eintretender Nässe werden die Streckenposten die Fahrer durch Schwenken von weißen Fahnen in die Box leiten, wo die Piloten dann auf ihre Ersatzmaschinen mit Regen-Set-up wechseln können. Ein sogenanntes Flag-to-Flag-Rennen könnte für eine Zusatzportion Spannung sorgen. Und ausgewiesenen Regen-Spezialisten wie Jack Miller oder eben Marc Marquez unverhofft in die Karten spielen. Neu auf allen WM-Strecken ist in dieser Saison eine spezielle Penalty-Spur, die anstelle der bisherigen Durchfahrtsstrafe durch die Boxengasse getreten ist und die als Umweg bei Regelverstößen befahren werden muss.
Auch das Wetter kann entscheiden
Im Fall von Marquez gibt es eine einleuchtende Erklärung für den bisher enttäuschenden Saisonverlauf. Denn nach seinem Horrorunfall im Frühjahr 2020 und daraus resultierenden schwierigen Schulteroperationen ist der achtmalige Weltmeister der internationalen Motorradsport-Organisation FIM bislang noch nicht so richtig in Tritt gekommen. Auch wenn ihm viele Experten eine schnelle Rückkehr auf die Podiumsplätze zugetraut hatten und er nur bei den ersten beiden Saisonrennen durch den deutschen Honda-Test- und Ersatzfahrer Stefan Bradl ersetzt worden war. Mit dem siebten Platz bei seinem verspäteten Saisoneinstieg im dritten Rennen in Portugal und dem neunten Rang beim folgenden Rennen in Spanien hatte es noch ganz gut ausgesehen. Doch bei Rennen wie dem in Le Mans oder dem in Mugello brachten Stürze den Star des Werkteams Repsol-Honda, der zwischen 2013 und 2019 mit Ausnahme von 2015 alle WM-Moto-GP-Fahrertitel erringen konnte, um mögliche Punktgewinne.
Die Honda RCV213V gilt in der Szene als schwierig zu beherrschendes Gefährt und ist von Marquez daher nur in absoluter Bestform perfekt zu steuern. Marquez fährt zwar derzeit angriffslustig wie in seinen besten Zeiten, aber ihm fehlt neben dem nötigen Rennspeed auch noch die Sicherheit im Sattel, um den Nimbus der Unbesiegbarkeit zurückerobern zu können. Der frühere zweifache deutsche Motorrad-Weltmeister Dieter Braun hält eine Rückkehr von Marquez auf das Siegerpodest im Laufe der auf 19 Rennen angelegten MotoGP-Serie 2021 mit dem Finale am 14. November 2021 in Valencia für sehr wahrscheinlich. Aber trotzdem geht er davon aus, dass eine Wachablösung an der Spitze längst im Gange ist, wobei er vor allem auf den derzeit führenden in der Fahrerwertung, Fabio Quartararo vom Werkteam Monster Energy Yamaha auf der Yamaha YZR-M1, setzt: „Er fährt so schnell wie früher Marquez, er stürzt aber weniger."
In den Kampf um den WM-Titel wird der Spanier Marquez jedenfalls nicht mehr eingreifen können. Da haben Monster Energy Yamaha mit dem Franzosen Fabio Quartararo (Jahrgang 1999), Spitzname „El Diablo", und Ducati mit dem Italiener Francesco „Pecco" Bagnaia (Jahrgang 1997) sowie dem Australier Jack Miller (Jahrgang 1995) auf der Ducati Desmosedici GP21 in den bisherigen Rennen schon zu deutliche Duftmarken gesetzt. Etwas überraschend, dass kaum jemand den Sensations-Weltmeister des Jahres 2020, Joan Mir, im Titel-Rennen so richtig auf der Rechnung hat. Obwohl der Spanier (Jahrgang 1997) vom Team Suzuki MotoGP auf seiner Suzuki GSX-RR auch heuer schon für Podiumsplätze gut war. Und in Mugello hatte Ende Mai 2021 auch das Red Bull KTM Factory Racing Team seine Durststrecke mit dem zweiten Platz durch den Portugiesen Miguel Oliveira (Jahrgang 1995) beenden können, der dann sogar beim siebten WM-Rennen in Barcelona am 6. Juni triumphieren konnte.
Schlagabtausch zwischen den Werksteams
Dass es in der Saison 2021 mit den rund 300 PS starken, mindestens 157 Kilogramm schweren und mehr als 350 Kilometer pro Stunde schnellen MotoGP-Maschinen zu einem Schlagabtausch zwischen den Werksteams von Yamaha und Ducati kommen und Suzuki seinen Kompletttriumph des Jahres 2020 mit Sieg auch in der Hersteller- wie Teamwertung nicht wiederholen würde, hatten Insider schon vorab richtig prognostiziert. Was sich derzeit auch in der Hersteller-/Konstrukteurs-Wertung und in der Teamwertung mit Yamaha und Ducati ganz vorn niederschlägt. Zum besseren Verständnis: In der MotoGP gibt es drei WM-Wertungen. In der Fahrer- und Teamwertung zählt jeder errungene Punkt, in der Konstrukteurswertung wird lediglich der beste der beiden Fahrer jedes Herstellers in einem Rennen berücksichtigt (für Platz 1 gibt es 25 Punkte, für Platz 2 deren 20, für Platz 3 16 Punkte …).
Die aktuelle Stärke von Ducati wird zusätzlich noch dadurch deutlich, dass sich mit dem Franzosen Johann Zarco (Jahrgang 1990; er hält seit März den im Freien Training zum Grand Prix von Katar aufgestellten Geschwindigkeitsrekord von 362,4 km/h) ein Pilot aus dem werksunterstützten Ducati-Satellitenteam (häufig auch als Kundenteam bezeichnet) Pramac Racing ganz vorne auf Platz 2 in der Fahrerwertung platzieren konnte und damit den Piloten-Zwischenstand zwischen Yamaha (Quartararo) und Ducati (Zarco, Bagnaia und Miller) auf 1:3 ausbauen konnte (weil der Teamkollege von Quartararo, der Spanier Maverick Vinales, Jahrgang 1995, Gewinner des Saisonauftakts in Katar, noch zu unbeständig ist). Zarcos Erfolge sind ein deutliches Zeichen dafür, dass der Performance-Unterschied zwischen Werk- und Satellitenteams bei Waffengleichheit in Reifenfragen (Michelin liefert Einheitsreifen mit 17 Zoll in drei Mischungen: soft, medium, hard) inzwischen sehr gering geworden ist.
Valentino Rossis Zeit scheint vorbei
Was auch dadurch noch zusätzlich befördert wurde, dass für die Saison 2021 infolge der durch Corona verkürzten Rennserie 2020 für die großen sechs Hersteller Honda, Yamaha, Ducati, Suzuki, KTM und Aprilia (ab 2022 wieder mit eigenem Werksteam) ein Entwicklungsstopp in Sachen Motor- und Aero-Spezifikationen beschlossen wurde und daher die Leasingkosten für die Satellitenteams heuer deutlich niedriger ausgefallen sind. Die Leasingkosten wurden ohnehin schon gedeckelt. Die Rolle der Satellitenteams, deren Fahrer teilweise mit identischem Material wie die Werkspiloten ausgestattet werden, wird für die Hersteller immer wichtiger. Weil damit deutlich mehr Daten und Feedback gesammelt werden können. In der kommenden Saison 2022 wird daher Ducati mit Pramac Racing und den beiden Neuzugängen VR46 und Gresini gleich drei Satellitenteams beliefern und kann dann mit acht Bikes das größte Aufgebot im Feld stellen, gefolgt von jeweils vier Hondas, Yamahas und KTMs.
Spätestens an dieser Stelle muss auf die Person von Valentino Rossi eingegangen werden. Denn an dem inzwischen 43-jährigen Altstar, dem mit neun WM-Titeln, darunter sechs MotoGP-Triumphen (2002 – 2005 und 2008 – 2009), scheiden sich inzwischen die Geister. Rossi ist längst eine Legende und hat diese Saison das Werksteam Monster Energy Yamaha nach 15 Jahren Treue verlassen, um ins Satellitenteam seines bisherigen Arbeitgebers Petronas Yamaha SRT zu wechseln, verbunden mit allen nur erdenklichen Vorteilen wie der neuesten Yamaha-Werksmaschine. Womöglich hat sich „The Doctor", wie er ehrfürchtig in der Szene genannt wird, mit diesem Schritt einen neuen Leistungsschub versprochen, nachdem er in der Saison 2020 auf einem enttäuschenden 15. Platz in der Fahrer-Gesamtwertung gelandet war. Aber bislang konnte er sich in den Rennen des Jahres 2021 nur in Mugello Ende Mai unter die Top Ten einreihen. Es mehren sich daher die Stimmen, die Valentino Rossi zum Rücktritt raten, weil er seinen Zenit längst überschritten habe und nur noch jüngeren Talenten den Zugang zu einem der heiß begehrten Plätze in einem MotoGP-Teams verwehre. Für Yamaha wäre ein Rossi-Abschied allerdings nicht ganz einfach, weil das gesamte Merchandising des Teams auf den „Doktor" abgestimmt ist.