Die Große Koalition im Bund ist ein Auslaufmodell. Nicht nur, weil die Legislatur im September endet. Die Partner haben sich lange auseinander gelebt, und so wirklich groß ist diese Koalition ebenfalls schon lange nicht mehr.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich ist die Entspannung am Montagmorgen der vorletzten Bundestagssitzungswoche in dieser Legislatur anzumerken. „Wir sind auf der Zielgeraden" ruft er lachend auf der Plenarebene herumstehenden Fraktionskollegen bei ihrem Morgenkaffee zu. Als Mützenich vor zwei Jahren den Job übernahm, war keineswegs ausgemacht, dass die SPD tatsächlich in der Großen Koalition bis zum Ende durchhält. Gerade in den letzten Wochen hat der Druck auf die Bundestagsfraktion zugenommen, sich doch mehr von der Union zu distanzieren, sich „inhaltlich abzusetzen", wie es in einem Positionspapier der Partei heißt. Doch Mützenich hielt diesem Druck Stand und ermahnte seine Genossen im Parlament noch Mitte Mai, jetzt bis zum letzten Sitzungstag am 25. Juni zur GroKo zu stehen. Auf den letzten parlamentarischen Metern die gemeinsame Regierung in Frage zu stellen wäre unklug und politisch vor allem völlig unglaubwürdig.
Sperrfeuer aus dem Willy-Brandt-Haus
Doch einige Tage später kam wieder das Sperrfeuer aus der Parteizentrale. Die Co-Vorsitzende Saskia Esken erklärte die Große Koalition mehr oder weniger für beendet, die Gemeinsamkeiten seien aufgebraucht. Anfangs ging man beim Koalitionspartner CDU/CSU davon aus, dass dies ein abgekartetes Spiel zwischen SPD-Bundestagsfraktion und Parteizentrale sei. Im Bundestag regiert man zusammen und im Willy-Brandt-Haus opponiert man fleißig. Doch weit gefehlt, wie FORUM-Recherchen ergaben. SPD-Fraktionschef Mützenich soll regelrecht sauer auf die Bemerkung seiner Parteivorsitzenden nur wenige Tage vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt reagiert haben. Es war ganz offensichtlich die „Meinung einer einzelnen Person", wie es lakonisch hinter vorgehaltener Hand in der SPD-Fraktion hieß. Wieder mal. Denn die SPD-Co-Parteichefin hat in ihrer anderthalbjährigen Karriere als Vorsitzende schon öfter mit Bemerkungen für reichlich Ärger vor allem in den eigenen Reihen gesorgt. Das ging schon los mit der Kanzlerkandidatenfrage der SPD. Es war Saskia Esken, die diese bereits mitten im politischen Sommerloch Anfang August letzten Jahres ohne Not klärte. Sie verkündete bereits 13 Monate vor der Bundestagswahl, dass Bundesfinanzminister Olaf Scholz genau der Richtige wäre. Scholz selber, wie viele seiner Mitstreiter in der SPD, fanden den Termin noch viel zu früh, aber damit war die Katze aus dem Sack. Scholz musste sich hocherfreut zeigen, dass die SPD bereits sehr frühzeitig die wichtige Kanzlerkandidatenfrage geklärt hätte. Damals lagen die Umfragen noch bei 18 Prozent.
Damit war die Chance zu einer medialen Inszenierung der Kandidatur zum Start ins Wahljahr verschenkt. Das hätte die Partei in diesem Frühjahr nur zu gut brauchen können, sozusagen als Trägerrakete aus dem mittlerweile 14 bis 15-Prozentloch. Doch damit nicht genug stellte die Co-Vorsitzende Esken in einem Interview auch gleich klar, dass sie sich auch eine Koalition mit der Linkspartei vorstellen kann, wenn die Grünen den Kanzler stellen. Esken betonte, es geht nicht um „Eitelkeiten", sondern darum, „gute Politik für die Menschen im Land zu machen". Das klang nun nicht nach anstehendem Wahlkampf für den eigenen Kanzlerkandidaten, sondern eher nach Wahlergebnis abwarten. Im SPD-Bundesvorstand gab es den entsprechenden Ärger. Seitdem betont Esken bei allen sich bietenden Gelegenheiten, dass die SPD den nächsten Kanzler stellen will, was allerdings in Anbetracht von 14 bis 16 Prozent in den Umfragen auch eher leicht daneben wirkt.
In den letzten Wochen scheint die SPD-Co-Vorsitzende nun ihren Job als Scheidungsbeauftragte für die ungeliebte GroKo zu verstehen. Wobei sie sich geschickt vor allem auf Jens Spahn stürzt. Immerhin ist Spahn nicht nur Bundesgesundheitsminister, sondern er war auch im CDU-Kanzlerkandidatenteam Laschet. Jeder Angriff auf Spahn ist damit auch immer ein Angriff auf den Unionskanzlerkandidaten. Und Spahn bietet nach 16 Monaten Corona-Maßnahmen aus seinem Haus auch ideale Angriffsflächen. Egal ob Maskendealer in der Union, überteuerte Masken oder auch Masken ohne Zertifizierung, die an Obdachlose und Hartz-IV-Empfänger verteilt werden sollten, der Bundesgesundheitsminister steht derzeit im Mittelpunkt der Kritik. Das will auch offenbar die SPD für sich nutzen. Dabei mischt sich nun auch auffälligerweise der zweite SPD-Vorsitzende, Norbert Walter-Borjans, lautstark ein. Nachdem die Verteilpläne mit Masken ohne Zertifizierung bekannt wurden, forderte er von CDU-Chef Laschet, dieser solle Spahn sofort von seinem Posten entbinden. Nur blöd, dass Laschet als CDU-Chef und noch lediglich Kandidat in Richtung Kanzleramt blickt. In dem führt immer noch Angela Merkel die Geschäfte und denkt gar nicht daran, Spahn zu entlassen, im Gegenteil stellt sie sich natürlich voll hinter Jens Spahn.
Andrea Nahles hatte noch einen Plan
Derweil geht der Streit um die Masken, die inzwischen ihr Dasein als „nationale Reserve Gesundheitsschutz" für absolute Notfälle fristen, munter weiter. Das Arbeitsministerium unter Hubertus Heil (SPD) hat ebenfalls eine Zuständigkeit für die gelieferten Masken, sofern es eine Bewertung unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsschutzes und der Arbeitssicherheit gibt. Eine nachträgliche Zertifizierung verweigert das SPD-geführte Arbeitsministerium. Nun landen die Masken für rund eine Milliarde Euro nach dem Ablaufen ihrer Haltbarkeit im Müll.
So ist das eben bei Scheidungen: Viele Kosten könnten mit etwas Entgegenkommen vermieden werden. Doch davon will man in Teilen der SPD derzeit nichts hören, es geht um Abgrenzung vom langjährigen Partner. Die Sozialdemokraten versuchen nach insgesamt zwölf Jahren an der Seite der Union ein eigenes politisches Profil zu entwickeln. Einige in der SPD erinnern sich noch gut an den Plan für genau diesen Prozess, der aus der Feder der ehemaligen SPD-Kurzzeit-Vorsitzenden Andrea Nahles stammen soll. Nahles wollte auf keinen Fall Ministerin in der dritten GroKo-Auflage werden und sich stattdessen vor allem als Vorsitzende um die Partei kümmern. Ihre Idee damals war, dass die SPD spätestens im Herbst 2019 aus der GroKo aussteigen, aber eine Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel zumindest weiter dulden sollte. So sollten elementare Dinge wie die Verabschiedung des Bundeshaushalts für das anstehende Jahr garantiert werden. Damit wäre die SPD die Hauptverantwortung des Regierens los gewesen und hätte sich so um ihr politisches Profil kümmern können. Ganz abgesehen, ob dieser Plan in Pandemiezeiten politisch funktioniert hätte: Andrea Nahles blieben als SPD-Vorsitzender nicht mal 14 Monate vergönnt, diesen umzusetzen. Damit werden die jetzt noch anstehenden drei Scheidungsmonate in der GroKo reichlich rumplig werden. Ob es dem SPD-Profil hilft, darf bezweifelt werden. Denn auf dem Spielplatz, in der Kneipe und gerade in der Politik gilt: Wer stänkert, macht sich unbeliebt – und vergrault damit Anhänger und Wähler.