Die Legenden sind zurück im „All England Lawn Tennis and Croquet Club" in Wimbledon, London, United Kingdom. Mit Erdbeeren, Sahne, großen Hüten – doch ohne Schlangestehen und Pause am Sonntag.
Alles haben die Organisatoren vom berühmten Club an der Church Road in Wimbledon penibel unter Kontrolle: die Länge des Rasens, das Tänzchen der Champions, die Vergabe von Privilegien an die Titelträger. Im vergangenen Jahr sogar eine Turnierabsage ohne finanzielle Verluste. Alles ist auch unter Infektionsschutzbedingungen gut organisiert, weshalb die Tradition beim traditionsreichsten aller Tennisevents zurückstehen muss. Zuschauer bekommen Tickets heuer ausschließlich im Internet. Das bedeutet: Schlangestehen und spielfreier Sonntag passen nicht in die Zeit.
Wenn vom 28. Juni bis zum 11. Juli (zu sehen auf Sky) die besten Tennisspieler der Welt, ganz in Weiß, dort aufschlagen, wo Boris Becker mit 17 Jahren seinen ersten Titel holte, werden in der Londoner Vorstadt die Einheimischen nicht wie sonst ihre Häuser räumen, um den Spielerinnen und Spielern ihre Domizile unterzuvermieten. Nach Hygiene-Reglement haben bei der 134. Ausgabe der Championships in England selbst Stars wie Novak Djokovic und Serena Williams keine andere Chance, als in Hotels einzuchecken. Die Qualifikation findet ohne Publikum statt – wird aber immerhin nicht ausgelassen, was die vielen guten Spieler, die nicht automatisch im Hauptfeld stehen, sehr schätzen.
Federer: „Wichtig ist, verletzungsfrei zu bleiben"
Viele Komfortzonen gibt es für die Besten der Besten: Etwa für Andy Murray, den die Queen zum Sir für seine Rettung der Tennisehre des Vereinigten Königreiches geschlagen hat. Der 34-Jährige, der zweimal Wimbledon gewann, kämpft nach seiner Hüft-Operation immer noch um Matchpraxis. Heuer bekam der Ritter der Herzen britischer Tennisfans für seinen Heim-Grand-Slam eine Wildcard. Wie all die anderen Legenden, die aus der Ahnengalerie von Wimbledon ihre Nachfolger für immer motivierend anlächeln, hat der Schotte lebenslang freien Zugang in den elitären Tennisclub.
Ein ungewöhnliches, wenig ehrenhaftes Privileg nahm sich Roger Federer im Vorfeld seines Lieblings-Grand-Slams heraus: Statt beim Sandplatz-Spitzenturnier in Paris zum Achtelfinale anzutreten, brach er seine Teilnahme ab. nachdem der 39-Jährige den respektabel kämpfenden Deutschen Dominik Koepfer in vier Sätzen verabschiedet hatte. Siegte, sprach’s und ging. Der 20-malige Grand-Slam-Sieger wollte sich der Schonung seiner Knie und der Vorbereitung auf Wimbledon, auf Rasen, widmen. „Das Wichtigste ist, dass ich verletzungsfrei bleibe", sagte der Schweizer im Vorfeld des Rasenturniers im westfälischen Halle, wo er gut eine Woche nach seinem French-Open-Abgang spielte. Zurück im leichtfüßigen Modus. „Ich brauche noch nicht einmal einen Tag, um mich auf Rasen wohlzufühlen", sagte der Halle-Titelverteidiger, der seinen Zeitvertreib während seiner eineinhalbjährigen Verletzungs- und Pandemie-Pause in Paris so kommentierte: „Mit vier Kindern hat man ordentlich zu tun."
Gnadenloser als in den zwei Jahrzehnten zuvor duellieren sich derzeit die „Big Three", Federer, Rafael Nadal und Djokovic: Im Kampf um die meisten Grand-Slam-Titel aller Zeiten, um die längste Verweildauer als Nummer eins der Welt, um nicht enden wollende Karrieren und ewigen Ruhm. Der Jüngste unter ihnen, der 34-jährige Djokovic, schreckte in seiner 58. Begegnung mit Nadal im Halbfinale von Paris nicht davor zurück, zum zweiten Mal den Sandplatzkönig aus dessen Wohnzimmer zu vertreiben. Drei Niederlagen gegenüber 105 Siegen schmerzen nunmehr den Spanier beim Gedanken an all seine Matches bei seinem Lieblingsturnier. „I feel under pressure", sagte Nadal, nachdem er den ersten Satz im Halbfinale beinah 6:0 gewonnen hätte. Ihm reichten 25 Sekunden nicht für Aufschlag und Riten, ohne unter Druck zu geraten. Djokovic beschwerte sich über zu viel Sand. Der Rasen von Wimbledon, die Chance, gleichauf mit seinen zwei Rivalen mit 20 Major-Titeln zu liegen, dürften ihm besser schmecken.
Verschiebung führt zu vielen Absagen
Matt verabschiedete sich Nadal nach seiner sehr intensiven Sandplatz-Saison ins heimische Mallorca. Der entthronte Sandplatzkönig gönnt seinem 35 Jahre alten Körper eine Pause und verzichtet gerade mal zwei Wochen nach den French Open auf Rasen in Wimbledon. Die French-Open-Verschiebung hinein in die Rasen-Saison führte zu manchen Absagen. Besonders hart traf sie Stuttgart und das neue 500er-Turnier der Damen in Berlin: Vor dessen Premiere zogen viele Spitzenspielerinnen wie Petra Kvitova, Ashleigh Barty, Naomi Osaka, Sofia Kenin, Jennifer Brady, Maria Sakkari und Iga Świątek ihre Zusagen zurück. Federer hingegen setzte, wie erwähnt, beim Turnier in Halle ein „Akzeptiert"-Häkchen. Ist ja Rasen, nicht Sand.
„Nole" will derzeit alles: Djokovic verwandelte sich im Viertelfinale der French Open in einen wütenden Stier, als er Matteo Berettini den Lohn fürs bessere Spiel nicht gönnte. Der junge Römer reagierte unerschrocken, präsentierte sich selbstbewusst und ist auf Sand der Beste des derzeit Furore machenden, italienischen Top-Quartetts, zu dem auch Lorenzo Musetti, Jannik Sinner und Fabio Fognini zählen. Die flackernden Augen von Novak Djokovic, seine entfesselten Schreie, die an Kriegsgebrüll aus grauer Vorzeit erinnerten, wirkten nach seinem Sieg im Halbfinale gegen Nadal aggressiv. Dieses Gebrüll in Richtung leerer Zuschauerränge wird in die Tennisgeschichte eingehen. So viel Energie hatte der Serbe dabei gelassen, dass er zwei Tage später im Finale in den ersten zwei Sätzen schwach gegen Stefanos Tsitsipas auftrat. Mit Elan jagte der Held der Griechen, die derzeit die Tennisclubs in seiner Heimat stürmen, jedem Ball hinterher. So akribisch, dass er rutschte, stürzte und sich mehrmals, mit Schläger in der Hand, um die eigene Achse drehte. Angeschlagen spielte der 22-Jährige weiter. Ein, zwei Schritte zum Ball fehlten ihm immer häufiger, nachdem er zunächst mit zwei Sätzen geführt hatte. „Nole" hingegen, der anfangs blass und unkoordiniert wirkte, kehrte symbolträchtig rot gewandet und konzentriert zum Gewinn der nächsten drei Sätze aus der Garderobe zurück.
Während Tsitsipas nach verlorenem Finale unter seinem Handtuch weinte, aß Djokovic einmal mehr ein wenig vom Belag des Platzes, auf dem er einen Grand Slam gewonnen hatte: Sein 19. Triumph, mit dem sich der Serbe noch nicht zufriedengeben will. „Ich werde weitermachen", sagte er bei der Siegerehrung in Frankreich, als er zum zweiten Mal den „Cup der Musketiere" in Empfang nahm.
Sein besonderer Antrieb in diesem Jahr: Als erster Spieler seit Steffi Graf vor 33 Jahren einen „Golden Slam", mit allen vier Top-Titeln plus Olympia-Gold, in einem Jahr zu holen. Tsitsipas konnte bei der Siegerehrung in Paris nicht einmal aufmuntern, dass Björn Borg und Mats Wilander die Trophäen überreichten. Keinen Blick warf er auf die beiden Legenden, wollte sichtlich nur noch fliehen: „Ich habe alles probiert, aber Novak war einfach der Stärkere. Hoffentlich kann ich die Hälfte von dem erreichen, was er erreicht hat", sagte er.
In Griechenland widmeten sich die Nachrichten tagelang intensiv den beiden neuen Tennishelden. Denn bei den Damen schaffte es Maria Sakkari bis ins Halbfinale. Die 25-jährige warf im Viertelfinale die Titelverteidigerin Iga Świątek aus dem Turnier und zuvor schon Vorjahresfinalistin Sofia Kenin. Kein Wunder: Durch tiefen Sand hüpft die durchtrainierte Griechin regelmäßig in der Fitnesshalle auf einem Bein. Sie baut Muskeln auf, um auf den Courts keinen Ball zu verschenken und ihrem Social-Media-Namen „Sakkattack" gerecht zu werden. Ihr Halbfinale gegen die spätere Championesse Barbora Krejcikova dauerte drei Stunden und 19 Minuten. Denn ihr perfekter Matchplan ging bei der unkonventionellen Spielweise der Tschechin nicht auf. Die spannende Partie der Halbfinalistinnen hielt Alexander Zverev und Tsitsipas im Wartestand, bis die beiden gen Abend selbst auf den Platz durften. Zverev, der nach langen Wartezeiten oft etwas verschlafen in die Partie startet, ärgerte sich nach seinem verlorenen Fünfsatz-Match gegen Tsitsipas: „Ich kann nicht gegen einen Top-Ten-Spieler die ersten beiden Sätze so spielen. Er ist jetzt im Finale, ich nicht."
Halep will ihren Titel verteidigen
Da hilft nur Abschütteln und weiter auf Rasen. Zverev und Jan-Lennard Struff sind reif für höhere Positionierungen – andere aber auch. In Wimbledon hat Simona Halep als Titelverteidigerin bei den Damen viele Konkurrentinnen. Nicht unbedingt aus deutscher Sicht. Auch wenn keiner den Sieg von Angelique Kerber gegen Serena Williams 2018 vergisst – und Andrea Petkovic sich immerhin respektabel wehrte, bevor sie nach der ersten Runde aus Frankreich abreiste.
Über den Rasen der Legenden in Wimbledon kreist traditionsgemäß ein Falke. Dort könnte heuer die 17-jährige Coco Gauff, die sich Tipps von Venus Williams holte, oder Petra Kvitová die Trophäe der Siegerinnen gen Himmel halten. Oder eine wie Barbora Krejcikova, die bisher nicht auf jedem Notizzettel auftauchte, die aber mit ihrem Finalsieg gegen Anastasia Pawljutschenkowa als erste Dame seit Mary Pierce im Jahr 2000 die French Open im Einzel- und im Doppel-Wettbewerb im selben Jahr gewann. Die 25-Jährige hatte die Worte ihrer jung verstorbenen Mentorin Jana Novotna im Ohr: „Versuch, mit Freude zu spielen und einen Grand Slam zu gewinnen." Ein guter Rat, für neue und alte Champions, auch für Wimbledon.