Wer andere Meinungen selbstgerecht niederbügelt, hat Widerspruch verdient. Sich auseinanderzusetzen, ohne den anderen als „Feind" zu betrachten, gehört zur Demokratie.
Es sind Szenen und Beobachtungen, die Fragen nach dem angemessenen Umgang aufwerfen. Alltagsszenen, wenn etwa am U-Bahnhof Moritzplatz ein Dutzend einigermaßen abgerissener Gestalten sich in einer unverständlichen Sprache anschreien, dabei auf Alufolie Drogen erhitzen. Obwohl sie die Passanten nicht belästigen, steht die Frage im Raum, warum die Polizei das duldet. Oder beim Gespräch über den Christopher Street Day die Frage: „Haben die das wirklich nötig, jedes Jahr so ein Riesenbuhei zu veranstalten?". Das war die falsche Frage, denn sofort wird dem Fragesteller vorgeworfen, er verkenne, dass Schwule nach wie vor diskriminiert werden. Oder dass in einem Kurs „Deutsch für Ausländer" regelmäßig nur noch die Hälfte der gemeldeten Teilnehmer auftaucht, nur zwei oder drei ernsthaft bemüht sind, die Lektionen zu lernen, während der Rest eher teilnahmslos herumsitzt, früher geht. Am Ende schreibt man beim Nachbarn ab, wenn es um das Zertifikat geht. Sanktionsmöglichkeiten? Nicht wirklich. Außerdem will der Träger seinen Kurs und damit die Zuwendungen nicht verlieren.
Einfluss der „Lifestyle-Linken"
Diese Beobachtungen sind selektiv unsd subjektiv zusammengestellt. Andere mögen andere Beobachtungen haben und sie anders einordnen. Das Problem dabei ist eine Tendenz in unserer Gesellschaft, Kritik an bestimmten Entwicklungen sofort als Diskriminierung zu brandmarken und damit zu diskreditieren.
Statt Fehlentwicklungen offen zu diskutieren, ist das Bemühen zu beobachten, mit immer ausgefeilteren Formulierungen jede Ahnung von Diskriminierung zu überwinden. Der Berliner Senat hat beschlossen, dass es keine „Menschen mit Migrationshintergrund" mehr gibt. Die Behörde hat die Formulierung „Menschen mit internationaler Geschichte" zu verwenden. Menschen „anderer" Hautfarbe sind jetzt „PoCs" (People of Color). Und zu den „Christopher Street Day"-Umzügen versammeln sich korrekt ausgedrückt LGBTQ-Menschen (noch eine Abkürzung, die man zu lernen hat).
Sahra Wagenknecht, die Linke-Politikerin, macht in ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten" die „Lifestyle-Linken" für dieses Klima verantwortlich. Ob es nun wirklich ehemalige Linke sind oder einfach die Besserverdienenden und Bessergestellten sei dahingestellt. Aus ihrem Buch geht hervor, dass sie große Teile der Medienwelt okkupiert haben, gehäuft bei den Grünen zu finden sind, aber auch in der FDP und bei der SPD. Der Aufstieg dieser Lifestyle-Linken begann Wagenknecht zufolge mit Gerhard Schröder und der Welle der wirtschaftsliberalen Reformen. Diese Reformen zerschlugen traditionelle Arbeitermilieus, machten Facharbeiter zu Teilzeitkräften, vervielfachten die schlecht bezahlten Minijobs und gaben den internationalen Investoren freie Hand. Gleichzeitig eröffneten sich für Akademiker in Medien, in der öffentlichen Verwaltung, in der Politik und nicht zuletzt in den Unternehmen ungeahnte Aufstiegschancen. Sie bestimmten das Meinungsklima, sie vermittelten ihre Deutung der Welt, inspiriert von den Diskussionen in den USA über Rassismus, sexuelle Diskriminierung und der Ablehnung der sogenannten „alten weißen Männer".
Der Bruch kam zum ersten Mal, als es in der Silvesternacht 2015 auf 2016 in Köln massenhaft zu sexuellen Übergriffen kam. Die Menschen begannen, der veröffentlichten Meinung zu misstrauen. Allzu euphorisch hatten Politik und Medien die eintreffenden Flüchtlingsströme begrüßt und gefeiert. Die Angst, dass Deutschland nicht so viele Einwanderer verkraften könnte, die Sorge um Kriminalität und die Bedenken, dass die Schulen überfordert sein könnten, trieb viele um – Antworten fanden sie bei den etablierten Parteien nicht, einzig die AfD konnte diese Stimmung auffangen und davon profitieren. Seitdem gerät jeder, der Krawalle in den Innenstädten auf die Präsenz zu vieler jugendlicher Migranten zurückführt, jeder, der den Islam als rückständige Religion kritisiert, sofort in Gefahr, als zumindest AfD-nah verschrien zu werden. Soweit die Analyse der in ihrer Partei, der „Linken", umstrittenen Autorin Wagenknecht.
Das hat Folgen: Eine Allensbach-Umfrage hat gezeigt, dass so viele Deutsche wie nie zuvor das Gefühl haben, sie dürften nicht sagen, was sie wirklich denken. Zwar äußern 45 Prozent, sie könnten ihre Gedanken nach wie vor frei äußern, aber 44 Prozent sagen das Gegenteil. Dabei geht es den Befragten um ein Meinungsklima, bei dem viele fürchten, sie könnten mit einer abweichenden Meinung anecken. Reden darf jeder, was er will – nur die Gefahr, als Rassist oder Sexist, als Klimaspinner und Aluhutträger abgestempelt zu werden, ist größer als früher. Und zwar deswegen, weil die vielen selbstgerechten Meinungsapostel immer auf der Lauer liegen, um die sozialen Medien wie Twitter, Facebook oder Instagram zu füttern. So wird ein Karnevalsscherz darüber, dass sich einige Parteien in Berlin eher um eine dritte Toilette für Transgender-Menschen streiten als über soziale Belange von prekär Beschäftigten, zu einem mittelprächtigen Skandal samt mächtigen Shitstorm.
Üben für den Gender-Stern
Das Gendern ist auch so eine Frage, die den Lifestyle-Linken am Herzen liegt, obwohl 71 Prozent der Bevölkerung eine gendergerechte Sprache ablehnt, auch die Jüngeren. Macht nix, das muss trotzdem durchgesetzt werden. Das führt dann zu solch grotesken Szenen, dass eine Spaßmoderatorin im Fernsehen mit ihrem Publikum übt, wie man beim Sprechen eine Pause macht, damit ja deutlich wird, dass hier zwei Geschlechter (und mehr) gemeint sind: Minister*innen, Lehrer*innen, Verbrecher*innen. Studenten sind Studierende, Radfahrer Radfahrende, Fußgänger zu Fuß gehende – und Köche Kochende(?).
Die Spaltung wird dann gefährlich, wenn die einen als Vegetarier oder Veganer ihre Konsumgewohnheiten zum Maßstab für alle machen – mit der tonnenschweren Begründung, anders sei der Klimawandel nicht aufzuhalten. Wer dagegen weiter seine Nackensteaks von Aldi isst, bedenkenlos grillt und seinen alten Diesel nicht abschaffen will, ist nicht nur ein Umweltschwein –
er ist der Feind. Ein sich gegenseitig respektierender Streit um die bessere Lösung scheint da nicht mehr möglich. Ganze Bevölkerungsteile nehmen am öffentlichen Diskurs nicht mehr teil. In den Medien wird darum gerungen, Frauen, Migranten oder sexuellen Minderheiten eine stärkere Stimme zu geben. Dass auch Busfahrern, Bauarbeitern, Monteuren oder Handwerkern mehr Vertretung eingeräumt wird, hat noch niemand überlegt.
Frank Überall, Vorsitzender der Deutschen Journalistenverbands (DJV) warnt: „Der Schritt von der Behauptung, man können seine Meinung nicht frei äußern, zum Duckmäusertum ist ein sehr kurzer." Und warnt davon, sich bei jedem Gegenwind wegzuducken. „Die Demokratie braucht Staatsbürger, die für ihre Ansichten streiten."