Den beinahe qualvoll langsamen Weg, wie man als Person vom Subjekt zum Objekt degradiert wird, zeichnet die famose Dokumentation „Seduced: Inside the NXIVM Cult" nach, die bei Amazon Prime zu sehen ist.
Der vierteilige Film (nicht zu verwechseln mit der ähnlich gelagerten HBO-Doku „The Vow") erzählt in jeweils rund 60 Minuten die stete Entfremdung von Catherine und India Oxenberg. Catherine, die Mutter, wurde Mitte der 80er-Jahre durch „Der Denver-Clan" zum Star und Sexsymbol. Ihre Tochter, India, gerät um 2011 herum in die Fänge der Sekte „NXIVM" (ausgesprochen: Nexium). Diese wird geleitet von Keith Raniere, einem schmierigen, übergriffigen, selbstherrlichen Selbstdarsteller – der aber das hat, womit man Menschen immer am einfachsten auf seine Seite zieht: Charisma.
Die Sekte tritt anfangs noch als eine Art „Selbstoptimierungs-Organisation" auf, die Coaching-Seminare gibt. Raniere selbst sagt über die Ziele des Unternehmens: „Das Hauptanliegen ist es, dass Menschen mehr Freude in ihrem Leben empfinden." Gleichzeitig schwingt er an den Seminar-Wochenenden, von denen es zahlreiche Ausschnitte zu sehen gibt, derweil menschen- und vor allem frauenverachtende Reden. Durch „NXIVM"-interne Machtspielchen kann man immer weiter aufsteigen – wenn man genügend Geld bezahlt und genügend Selbstachtung aufgibt. In diesen Abwärtsstrudel gerät India Oxenberg immer mehr und erliegt dem Charme des Sektenführers komplett.
Eine unrühmliche Rolle bei der immer größeren Verstrickung von India Oxenberg innerhalb der Sekte spielt Allison Mack, die zuvor eine Hauptrolle als Clark Kents, alias Superman, beste Freundin in der Serie „Smallville" hatte. Das Bedrängnis der Schauspielerin fängt mit harmlos scheinenden und freundschaftlich-belanglosen Messenger-Nachrichten an. Mit der Zeit wird offensichtlich, dass sie nicht nur immer häufiger schreibt, sondern dabei auch einen immer stärker ansteigenden Kontrollzwang ausübt – bis hin zu sexuell expliziten Nachrichten. Je mehr sich India Oxenberg Allison Mack und dem Sektenchef annähert, desto eher entfernt sie sich immer weiter von Freunden und Familie.
Keith Raniere wurde zu 120 Jahren Gefängnis verurteilt
Sie strudelt so weit hinab, bis sie sich komplett als Sexsklavin verdingt und sich als traurigen Höhepunkt sogar ein Brandzeichen mit den Initialen des Verbrechers setzen lässt. „Es gab keine Chance, Nein zu sagen", erinnert sie sich später. Fast scheint es zu spät, sie aus diesem Sumpf wieder herauszuholen. „Seduced: Inside the NXIVM Cult" zeichnet den Verlauf sehr ausführlich und nachvollziehbar nach. Zahlreiche weitere Opfer von Keith Raniere kommen ebenso zu Wort wie Experten zu Sekten-Fragen. Die Interviews mit diesen und kleine Animationssequenzen, in denen verschiedene Begebenheiten nachgezeichnet werden, lassen den Mechanismus einer Sekte mit Pyramidenaufbau konsequent auferleben. Zahlreiche veröffentlichte Nachrichten aus den Chats von Oxenberg und Mack lassen tief in die Seelen der Machtstrukturen blicken.
„Seduced" geht auch auf die Selbstzweifel der Mutter ein – die hatte ihre Tochter schließlich mit der so seriös auftretenden Organisation bekannt gemacht. Umso nachvollziehbarer wirken die Versuche, India nach diesem Fehler zuerst mit Gesprächen, dann mithilfe von Sekten-Experten wieder aus der Organisation herauszureißen. Die Verzweiflung über die Entfremdung und die erneute Annäherung erscheinen glaubhaft, die Erleichterung am Ende groß.
India Oxenberg wollte anfangs eigentlich nicht über ihre Erlebnisse sprechen. Doch nach einer Therapie und neu gefundener Stärke entschloss sie sich doch dazu, an die Öffentlichkeit zu gehen. Ein Treffen mit Filmemacherin Cecilia Peck, der Tochter von Hollywood-Legende Gregory Peck, machte ihr ebenfalls Mut, über diese Zeit zu reflektieren. Die Regisseurin war übrigens selbst ins Visier der Sekte geraten und bekam ein Angebot. Cecilia Peck antwortete nie auf diese Einladung, erhielt jedoch ein rundes Jahr später ein Entschuldigungsschreiben von der Frau, die sie rekrutieren wollte.
Bereits 2003 wies das Magazin „Forbes" auf die manipulativen Seiten des Sektengründers hin. In dem Artikel ging man auch darauf ein, dass es ein Ziel von „NXIVM" sei, eine „Demontage der Persönlichkeit" zu erreichen. Zu seiner eigenen Demontage dürften Kommentare beigetragen haben wie jener, in dem er sagt, dass die freie Presse mit ihren Falschinformationen eine zweite Justiz im Staat geworden sei, die keine Moral besitze. Raniere wurde Ende Oktober 2020 zu 120 Jahren Gefängnis verurteilt, wegen organisierter Kriminalität und für sexuell geprägten Menschenhandel.