Warum der alte „Lappen" mehr als nur ein schnöder Führerschein ist
Schockschwerenot, ich muss den Lappen abgeben! Ja, ich bin einer der 15 Millionen Deutschen, die noch so einen alten, grauen Papierlappen haben, neudeutsch „Führerschein" genannt. Und bis spätestens Januar 2023 muss ich den gegen so ein Plastikding tauschen. Ich habe schon viel mitgemacht: habe D-Mark gegen Euro eingetauscht, meine Postleitzahl um eine Ziffer erweitert, Fernsehen und Telefon von analog auf digital umgestellt – alles ohne zu murren. Aber jetzt auch noch das?!
Laut EU-Richtlinie 2006/126/EG müssen in wenigen Jahren alle Führerscheine einheitlich und fälschungssicher sein. Fälschungssicher? Wer bitte soll meinen Lappen fälschen können? Der ist so unverwechselbar wie ein Fingerabdruck: Er ist mehrfach gefaltet (den kriegt kein Bügeleisen mehr glatt), wurde zwischen 1981 und 1997 dreimal versehentlich mitgewaschen (in der Waschmaschine, zum Glück in der Hosentasche im Geldbeutel steckend, so hat er den Schleudergang überlebt), und auf einer Party vor gut 40 Jahren hatte mein Kumpel Harry gerade kein Papier zur Hand, um sich einen Joint zu drehen. Gerade rechtzeitig bevor er die frisch gebaute Tüte anzündete, bemerkte ich, dass er mir für seinen Joint meinen Lappen aus der Tasche gezogen hatte (gegen einen 20-Mark-Schein hätte ich nicht protestiert).
Das Dokument konnte ich retten, aber Harry hatte damals einen so hochwertigen Stoff besorgt, dass mein Lappen bis heute den süßlichen Geruch bewahrt hat und Drogenhunde noch Jahrzehnte danach beim Vorweisen meiner Fahrerlaubnis sofort anschlagen. Kein eurogenormter Plastik-Führerschein wird je so nach den frühen 80ern duften wie mein Lappen.
Der kleine Brandfleck am oberen Rand rührt übrigens von einer anderen Party her, aber ich kann und will nicht alles preisgeben, was mein Führerschein schon durchgemacht hat.
Er ist ein biografisches Lebensdokument. Mein Passbild von 1979 ist ein Klassiker. Solche Frisuren gibt es heute gar nicht mehr, und auch den Oberlippenbart à la Magnum (eine gewagte Tom-Selleck-Kopie) glaubt mir heute kein Mensch mehr. Sogar spätpubertäre Akne-Reste sind auf dem Foto noch zu erkennen – ich hatte damals in der Bahnhofs-Fotokabine gerade keinen Clearasil-Stift zur Hand.
Es gibt Papyrusrollen, mit denen vor 4.000 Jahren Mumien eingewickelt wurden, die sich in einem frischeren Zustand befinden als mein Lappen – ich meine die Papyrusrollen, nicht die Mumien, wir wollen mal nicht übertreiben.
Und wieso spricht man eigentlich vom „Papier"-Führerschein? Ich weiß nicht genau, woraus mein Lappen besteht, aber bestimmt nicht aus schnödem Papier. Wenn man sachte drüberstreichelt, fühlt es sich an wie feinster Seidenstoff, und fast wundere ich mich, dass nicht irgendwo noch ein Goldfaden mit eingewebt ist.
Der Völkerverständigung dient mein Lappen ebenfalls. Was habe ich bei Polizeikontrollen in Italien, Großbritannien und Holland schon für beeindruckende und meist mitleidige Mienenspiele der dortigen Verkehrspolizisten erleben dürfen, während sie, ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen, meinen Führerschein auseinanderfalteten. Oft entstanden dabei inspirierende Gespräche über Fortschritt, Digitalisierung sowie den Modernisierungsstand der EU im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen. Also: Lappen abgeben kommt nicht infrage.
Bleibt nur Auswandern, und zwar irgendwohin, wo man einen anständigen Papierführerschein noch zu schätzen weiß. So ein nostalgisches Land muss es doch irgendwo geben, egal wie exotisch es sein mag: Samoa? Belize? Fidschi? Thüringen?
Am besten wird es wohl sein, ich tausche meinen Lappen einfach nicht um, vermeide es, viel herumzufahren und benehme mich das nächste Vierteljahrhundert im Straßenverkehr völlig unauffällig. Wenn ich bis 2048 in keine Verkehrskontrolle mehr gerate, komme ich auch mit dem alten Führerschein irgendwie durch. So viel steht fest: Meinen Lappen gebe ich erst zusammen mit dem Löffel ab.