In Zeiten der Pandemie wird auch die Leitmesse „Altenpflege 2021" vom 6. bis 8. Juli virtuell. Veranstalter Dr. Dominik Wagemann über die Folgen des Coronavirus, die Digitalisierung und die Zukunft der Branche.
Herr Wagemann, wie steht es um die Altenpflege in Deutschland? Speziell im Hinblick auf die Corona-Situation und das damit verbundene Angebot und die Nachfrage.
Die professionelle Altenpflege in Deutschland leistet viel: Sie stellt die qualitätsgesicherte Versorgung und Betreuung pflegebedürftiger Seniorinnen und Senioren sicher, während die Rahmenbedingungen seit Jahren herausfordernd sind: Neben dem generellen Mangel an Pflegepersonal haben die Leitungskräfte in der Pflege mit hohen Krankenständen, Ausbildungsabbrüchen und zunehmender Berufsflucht umzugehen. Gleichzeitig steigt der Druck durch vielfältige Dokumentationsanforderungen sowie die Sicherstellung und Überprüfung von Ergebnisqualität.
Die Pandemie hat wie ein Brennglas auf diese vielschichtigen grundsätzlichen Herausforderungen gewirkt. Mit einem enormen Kraftakt und externer Unterstützung haben stationäre Pflegeeinrichtungen Hygiene-, Test- und Besuchskonzepte entwickelt, Quarantänesituationen und Infektionsgeschehen und Impfungen gemanagt.
Im Zentrum der Wünsche von Pflegebedürftigen und deren Angehörigen steht in dieser schwierigen Gesamtlage die bestmögliche Abwägung zwischen Schutz der Gesundheit und Gewährleistung von personenzentrierter Betreuung und sozialer Integration.
Welche Themen bewegen die Branche generell?
Das Thema, das die Branche am meisten bewegt, ist der anhaltende Mangel an Pflegepersonal. Während sich die Schere zwischen Bedarf und Verfügbarkeit immer weiter öffnet, liegen positive Erwartungen auf der Neuordnung der Personalbemessung und der damit einhergehenden Anpassung der Arbeitsorganisation im Pflegeprozess. Wenn sich neben den allgegenwärtigen Refinanzierungsfragen auch die Herausforderungen für Einsatz und Qualifizierung der zusätzlich geplanten Pflegehilfspersonen gut lösen lassen, wäre ein großer Schritt in Richtung eines bedarfs- und kompetenzgerechten Personaleinsatzes gelungen.
Bei all dem spielt das Einführen und nachhaltige Etablieren von Digitalisierungslösungen zur Unterstützung von Kommunikation bis Dokumentation, respektive zur Entlastung von Pflege- und Betreuungspersonal eine entscheidende Rolle. Auf den rund 200 Ausstellerständen sowie den Vorträgen auf den Informations- und Networking-Foren der virtuellen Leitmesse „Altenpflege 2021" und dem parallelen Messekongress „Altenpflege Zukunftstag" wird zu all diesen Themen Fachwissen geteilt, Praxiserfahrungen ausgetauscht, Kooperationen angestoßen und erstklassige Produktinnovationen und Dienstleistungen vorgestellt.
Wie wird die digitale Welt die Altenpflege verändern?
Die Digitalisierung bietet für die Pflege große Chancen. Die Anforderungen an die Pflegeeinrichtungen werden immer komplexer. Durch digitalisierte Prozesse wird die Steuerung erleichtert und qualitativ verbessert. Das gilt für die Steuerung des Pflegeprozesses am Bett ebenso wie in der Heim- oder Unternehmensleitung. Generell geht es darum, durch digitalisierte Prozesse die Pflegenden zu entlasten, damit diese wieder mehr Zeit für die Bewohner haben. Im Fokus steht nicht, Pflege zukünftig durch menschenähnliche Roboter durchzuführen.
Wie hat sich die Weiterbildung im Hinblick auf die neuen Berufsbilder in der Altenpflege verändert?
Die neue Pflegefachausbildung befähigt Pflegeschüler und Pflegeschülerinnen im Rahmen der dreijährigen Fachkraftausbildung zur Pflege von Menschen aller Altersstufen in allen Versorgungsbereichen. Sie soll in ihrer neuen Ausrichtung den Praxisbezug der Ausbildung stärken. Bei all den Veränderungen, welche die generalistische Pflegeausbildung mit sich gebracht hat, ist eines gleich geblieben: Die Langzeitpflege, ob stationär oder ambulant, hat weiterhin sehr spezifische Bedarfe und Zielsetzungen. Sie fokussiert sich zum Beispiel statt auf eine kurzfristige Heilung wie in der Akutpflege vielmehr auf langfristige, bedarfsgerechte und qualitätsgesicherte Versorgung und Betreuung, um auch im Fall zunehmender Einschränkung von Alltagskompetenzen den Pflegebedürftigen in Summe mehr Lebensqualität zu sichern. Pflege als verlängerter Arm oder gar als Gehilfe von Ärzten abzustempeln, wird unseren hoch qualifizierten Fachkräften nicht gerecht. Leider ist das in Deutschland aber noch immer der verbreitete Blick auf die Profession. Andere Länder sind uns da weit voraus. Hier gilt es also, dicke Bretter zu bohren.
Worauf kommt es bei der Altenpflege in der Zukunft an?
Pflege braucht Selbstbewusstsein. Der Applaus von den Balkonen in der Pandemie muss in wirkliche gesellschaftliche Wertschätzung münden. Das bedeutet eine angemessene Bezahlung von Pflegekräften genauso wie die Anerkennung unternehmerischer Leistung. Auch diese ist unersetzlich, wenn unser Pflegesystem funktionieren soll – und hier braucht es ein klares Bekenntnis der Politik.
Könnten Sie darauf näher eingehen?
Es ist ja mittlerweile zu einem beliebten Sport geworden, Arbeitgebern in der Pflegebranche das Misstrauen auszusprechen. Da lautet ein Vorwurf, Pflegeunternehmen würden ihre Mitarbeitenden generell unterdurchschnittlich bezahlen – branchenübergreifende Gehaltvergleiche widerlegen das immer wieder. Vonseiten der Pflege- und Krankenkassen wird die Pflege in regelmäßigem Turnus unter generellen Betrugsverdacht gestellt. Dazu kommen oberflächliche – angeblich investigative –
Reportagen, die das Klischee eines immer nur auf Gewinnmaximierung fixierten Pflegeunternehmers zeichnen. Wir wissen, dass die allermeisten Menschen in der Pflege einen einwandfreien Job machen, ohne den unser Gemeinwesen zusammenbrechen würde. Und die Politik beklagt gern eine „Überökonomisierung" der Pflege, und das kommt natürlich gut bei vielen an. Aber es wird dem Engagement der in erster Linie kleinen und mittelständischen Unternehmen, die die Versorgung in ihrer Kommune sicherstellen, nicht gerecht. Wie auch die frei-gemeinnützigen und kommunalen Unternehmen sind sie eine unverzichtbare Stütze. Deshalb brauchen wir Politikerinnen und Politiker, die sich an die Seite der Pflege stellen, die sich ernsthaft und vertiefend mit der gesellschaftlichen Herausforderung der pflegerischen Versorgung auseinandersetzen und sich zu denen bekennen, die den Karren ziehen.
Wie könnte man die Bezahlung von Pflegekräften verbessern?
Dazu gibt es verschiedene Ansätze. Die Regierungskoalition hat jetzt eine Reform beschlossen, die tarifliche Bezahlung einfordert und zur Bedingung für den Betrieb einer Pflegeeinrichtung macht. Diese Reform ist aus Sicht der meisten Branchenvertreter zu kurz gedacht und bringt viel Verunsicherung bis hin zu Existenzsorgen mit sich. Wir werden genau diese Reform im Rahmen unseres Messekongresses ausführlich diskutieren. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse dieses Austausches. Eines aber steht fest: Es muss in den Köpfen der Menschen ankommen, dass man Pflege nicht zu Billigtarif bekommt. Es wird uns als gesamte Gesellschaft schlichtweg mehr Geld kosten, wenn wir Gehälter für Pflegekräfte erhöhen wollen. Das muss uns allen klar sein.
Wie sieht das virtuelle Konzept der Messe aus?
Mit unserer digitalen Messeplattform bringen wir die Branche unabhängig vom Infektionsgeschehen im virtuellen Raum zusammen und bieten ein echtes Erlebnis. Innovative Produkte anschauen, mit Ausstellern und anderen Besuchern sprechen, Trendvorträge hören oder in Echtzeit an Diskussionen teilnehmen: Was das jährliche Branchenhighlight ausmacht, wird auch digital zu einem besonderen Erlebnis. Dank moderner 3-D-Technik sind alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen mitten im Geschehen, können live und interaktiv Kontakte knüpfen und Gespräche führen. Das Erfolgskonzept der Leitmesse „Altenpflege" bleibt auch im virtuellen Raum die Kombination aus Messe, Wissenstransfer und Vernetzung.