Es gibt Wissenschaftler, die hinter den meisten Gewalttaten bis hin zu Mord, Amokläufen und Terroranschlägen als Ursache oder Auslöser Beleidigungen, Demütigungen und Mobbing sehen. Was steckt dahinter?
Jeder Mensch ist in seinem Leben wahrscheinlich schon etliche Male gekränkt worden. In der Schule, auf der Arbeit, von Freunden, vom Partner, von der Partnerin. Häufig vielleicht sogar unbewusst, ohne, dass der Andere einem wehtun wollte. Man ist dann tief getroffen, ärgert sich, ist wütend, zweifelt an sich selbst, versucht es dem Kränkenden vielleicht sogar mit gleicher Münze heimzuzahlen. Im besten Fall spricht man ihn/sie darauf an und schafft so das Geschehene aus der Welt. Eher wenige würden jedoch auf die Kränkung mit Gewalt regieren. Trotzdem geschieht genau das in unserer Gesellschaft leider immer wieder. Sexuelle und häusliche Gewalt sind typische Bespiele dafür. Und: Es gibt Wissenschaftler, die hinter den meisten Gewalttaten bis hin zu Morden, Amokläufen und Terroranschlägen Kränkungen als Ursache oder Auslöser ansehen.
Doch was ist eigentlich eine Kränkung? Der Begriff ist weit gefasst, bisher nicht wirklich wissenschaftlich definiert und wird in der Forschung auch kaum behandelt. Im weitesten Sinne gehören in unterschiedlichsten Ausprägungen Demütigungen genauso dazu wie Erniedrigungen oder Mobbing als eine ständige Abfolge von Kränkungen. Allgemein kann man sagen: Eine Kränkung ist ein Angriff auf persönliche Werte, Gefühle und Vorstellungen, ein Verhalten, das bei dem Gekränkten zu einer psychischen Verletzung führt und zu einer „anhaltenden Erschütterung des Selbst und seiner Werte".
Je enger die Beziehung, desto tiefer die Verletzung
Dabei besitzt die Kränkung in der Regel einen wahren Kern. Je größer dieser ist, umso schwerer ist die Kränkung. Und je näher einem der Kränkende steht – Freund, Partner, Eltern – umso tiefer ist die Kränkung. So kann etwa durch eine unbedachte Äußerung eine langjährige Freundschaft in Feindschaft umschlagen. „Eine Kränkung ist anders als Wut, die man rauslassen kann, subtil. Sie breitet sich langsam aus, und dann reicht manchmal schon eine Kleinigkeit, um nach Jahren eine Katastrophe auszulösen", erläutert der österreichische Psychiater, Psychotherapeut und Gerichtsgutachter Prof. Dr. Reinhard Haller, der sich in seinem Buch „Die Macht der Kränkung" der Beziehung zwischen Kränkung und Gewalt gewidmet hat. Es handelt sich dabei dann quasi um eine unheilbare Kränkung (Verbitterung) mit seelischer Langzeitwirkung und psychosozialen Konsequenzen.
Dass manche Menschen schneller gekränkt sind als andere, ist nur normal. Es gibt jedoch Extremfälle, in denen Menschen pathologisch gekränkt sind. Besser gesagt, sie fühlen sich bei jeder Kleinigkeit gekränkt, ohne tatsächlich gekränkt worden zu sein. Jemand schnappt ihnen ein Schnäppchen vor der Nase weg? Die Kellnerin lächelt sie nicht an? Jemand lacht nicht über den schlecht erzählten Witz? Bei narzisstischen Persönlichkeiten beziehungsweise Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die zumeist kaum empathisches Empfinden haben, aber dafür besonders leicht zu kränken sind, können derartige „narzisstische Kränkungen" Rachegelüste, Wut oder Hass hervorrufen und sind so oftmals Auslöser von Gewalttaten. Voraussetzung ist dabei immer, dass die Kränkung konsequent verdrängt wird. „Man schämt sich, über Kränkungen zu sprechen, um nicht als ‚Warmduscher’ hingestellt zu werden", glaubt der Psychiater.
Generell können viele kleine Kränkungen denselben Effekt haben wie eine einzige schwere Kränkung oder sogar ein Trauma. Irgendwann ist die Leidensgrenze überschritten. „Objektiv sind es Kleinigkeiten, subjektiv aber Katastrophen. Kränkungen können wie ein eiternder Prozess schwelen und entfalten ihre destruktive Wirkung erst im Laufe der Jahre", erläutert Haller.
Der Amokläufer an einer deutschen Schule gab etwa als Grund für seine Tat an, dass auf einer Klassenreise in Rom acht Jahre zuvor niemand mit ihm auf ein Zimmer wollte. In diesem Fall richtete sich die Gewalt nur gegen andere Personen. Sie kann sich bei narzisstischen Tätern jedoch auch gegen die eigene Person richten. So enden Amokläufe häufig mit dem Suizid des Täters, der damit ein finales Fanal setzen will. Dabei handelt es sich normalerweise nicht um eine affektive Impulshandlung, sondern es gehen der Tat eine langfristige Planung und Vorbereitung voraus. Hinzu kommt meist der Wunsch, eine hohe mediale Aufmerksamkeit zu erlangen.
Bisher ist die Mehrheit derartiger Täter noch immer männlich. Es werden jedoch zunehmend auch narzisstisch gestörte Frauen gewalttätig. Welche Faktoren dafür verantwortlich sind, ob sich die Gewalt gegen sich selbst, gegen andere Menschen oder gegen beide richtet, ist unter Forschern bisher immer noch eine offene Frage.
Aber es gibt nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Kränkungen, die beispielsweise zur Basis von Terror und Kriegen werden können. Der Versailler Vertrag nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde etwa von vielen Deutschen als eine solche kollektive Kränkung empfunden.
„Attentäter erleben die Gesellschaft als übermächtig"
Ein aktuelleres Beispiel dafür sind die Mohammed-Karikaturen im französischen Satire-Magazin „Charlie Hebbdo", die zu den tödlichen Anschlägen in Paris führten. „Diese Karikaturen wurden von den Terroristen als Kränkung ihrer religiösen Werte gesehen. Und Rache ist eine Form der Kränkungsverarbeitung", ist Haller überzeugt. Zwar fühlten sich viele gläubige Muslime durch die Karikaturen gekränkt, jedoch nur einige wenige übten Gewalt aus. „Die Attentäter erleben unsere Gesellschaft als übermächtig. Sie empfinden sich nicht primär als die Starken und Bösen, sondern als die Gekränkten, die am Rande der Gesellschaft stehen", so der Gerichtspsychiater weiter. Aber durch die Tat werden sie zu Herren über Leben und Tod und erleben eine Art „narzisstische Heilung". Kränkungen führen natürlich nicht sehr oft zu Mord, Amokläufen und Terrorismus, sie können aber auch zu anderen Formen von Kriminalität führen. Bei Frauen ist beispielsweise Kleptomanie oft darauf zurückzuführen, vor allem bei jungen Männern wiederum ist Pyromanie typisch.
Und Kränkungen sind häufig Ursachen von Krankheiten. Schon Hildegard von Bingen wusste: „Was kränkt, macht krank." Das Spektrum reicht dabei von Migräne, Herzrhythmus- oder Stoffwechselstörungen über Neurosen und Depressionen bis zur posttraumatischen Verbitterungsstörung. In vielen Fällen sind sie auch Ursache von Suchterkrankungen (Alkohol, Drogen), Erschöpfungszuständen, Schlaflosigkeit und Burnout.
Maßlos unterschätzt würden im Übrigen, so Haller, Auseinandersetzungen in der Partnerschaft, denen fast immer Kränkungen, Demütigungen oder Erniedrigungen zugrunde lägen – vor allem, wenn einer der Partner, meistens der Mann, eine narzisstische Persönlichkeit besitzt. Neben „normaler" häuslicher Gewalt machen aber diese Beziehungsauseinandersetzungen auch „ungefähr zwei Drittel der Tötungsdelikte in Mitteleuropa aus". „Wer nicht Opfer eines Verbrechens werden will, muss nicht die dunkle Gasse meiden, sondern das eigene Haus", so der Rat des Psychiaters, der bisher als Gerichtsgutachter bereits mehr als 400 Mörder und Serientäter begutachtet hat.