Zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof kam es zu einem Streitfall wegen eines Anleihenkaufs der Europäischen Zentralbank. Doch das war nur der Anlass – unklar ist: Welches der beiden obersten Gerichte hat das Sagen?
Der Fall ist nicht nur für Juristen interessant. Wenn Deutschland laut BVerfG einem Urteil des EuGH nicht folgt, kann das Vorbildcharakter haben. Aus europäischer Sicht hat ganz klar das EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht. Verstöße gegen demokratische Prinzipien, die Ungarn und Polen von der EU vorgeworfen werden, verstoßen also auch gegen EU-Recht. Warschau und Budapest berufen sich aber auf ihre nationalen obersten Gerichte. Wenn nun auch ein prominentes EU-Mitglied wie Deutschland dem EU-Recht nicht folgt, könnte das Folgen für die gesamte EU haben. Bekommen wir einen Flickenteppich aus nationalen Regeln oder kann sich die EU behaupten? Fragen an Thu Nguyen, Policy Fellow am Jacques Delors Institut in Berlin.
Frau Nguyen, wer alle Instanzen durch hat und auch vor dem Bundesverfassungsgericht kein Recht bekommt, klagt halt weiter beim Europäischen Gerichtshof. Ist das richtig?
Nein, der EuGH ist kein Gericht der letzten Instanz. Er ist dafür zuständig, das EU-Recht auszulegen und zu gewährleisten, dass es in allen Mitgliedstaaten gleich angewendet wird. Nationale Gerichte können den EuGH anrufen, wenn sie sich bei der Auslegung oder Gültigkeit einer EU-Rechtsvorschrift unsicher sind oder Zweifel haben, ob ein nationales Gesetz mit EU-Recht übereinstimmt.
Traditionell hat das EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht. Jetzt hat sich das Bundesverfassungsgericht in einem Fall, der die Europäische Zentralbank betrifft, dagegen gewehrt und sich gegen eine Entscheidung des EuGH gestellt?
Was bedeutet das?
Aus europäischer Sicht hat das EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht, auch vor nationalem Verfassungsrecht. Denn wird EU-Recht nicht einheitlich ausgelegt und angewandt, verliert es nicht nur seine Daseinsberechtigung, sondern es würde auch zu einer Ungleichheit zwischen den Mitgliedstaaten führen. Nicht alle nationalen Gerichte teilen jedoch diese Sichtweise. Tatsächlich steht und stand aus deutscher Sicht das Grundgesetz immer über dem EU-Recht. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit immer wieder deutlich gemacht, dass es nicht davor zurückscheuen würde, der Anwendung des EU-Rechts, und damit der Vorrangstellung des EU-Rechts in der deutschen Rechtsordnung, unter bestimmten Voraussetzungen Grenzen zu setzen. Das hat es nun im Fall des Ankaufs von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (PSPP-Fall) getan – auch wenn in der Praxis das Problem recht einfach gemeinsam durch EZB, Bundesregierung und Bundestag gelöst werden konnte. So gesehen ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im PSPP-Fall daher lediglich der letzte Schritt einer jahrzehntenlangen Auseinandersetzung.
Wie hat der EuGH reagiert?
Der Fall liegt dem EuGH (noch) nicht wieder vor.
Ist das alles nur ein Fall für die Juristen?
Nein, ich glaube, das ist ein Fall, der sehr viele interessiert, auch Nicht-Juristen. Der Fall vereint viele verschiedene Themen in sich: Es geht um die Zukunft der europäischen Geldpolitik, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, die Auswirkungen des Urteils auf die europäische Rechtsordnung und nicht zuletzt auf das politische Geschehen in anderen Mitgliedstaaten … viele spannende Fragen also.
Werden jetzt überall in Europa hohe und höchste Gerichte um ihre Vormachtstellung konkurrieren?
Wie schon erwähnt, ist der Fall keine aus dem Nichts kommende Überraschung. Auch vor dem Urteil gab es nationale Gerichte, die den Vorrang des EU-Rechts nur unter bestimmten Bedingungen akzeptiert haben. Ebenso gab es nationale Gerichte, die einen solchen Vorrang des EU-Rechts bedingungslos angenommen haben. Diese Unterschiede und Konflikte bestanden schon immer und werden auch weiterhin bestehen.
Die EU-Kommission will die EuGH-Entscheidungen gegen Ungarn und Polen durchsetzen. Doch die berufen sich auf das Karlsruher Urteil. Was heißt das?
Das Karlsruher Urteil hat nicht nur Bedenken hinsichtlich seiner praktischen Auswirkungen auf die Programme der EZB geweckt, sondern auch in Bezug auf die Autorität des EU-Rechts. Die (sehr berechtigte) Befürchtung war, dass andere Mitgliedstaaten und ihre Gerichte sich auf das Urteil berufen würden, um zukünftig EuGH-Urteilen ebenfalls nicht zu folgen. Eine solche Entwicklung würde die Grundlage der EU-Rechtsordnung gefährden. Es ist aus dieser Perspektive daher ein gutes Zeichen, dass die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet hat, um eben zu verhindern, dass andere Mitgliedstaaten wie etwa Polen und Ungarn sich auf das Urteil aus Karlsruhe berufen können. Es ist ein starkes Signal seitens der Kommission als Hüterin der Verträge, dass sie Verstöße gegen EU-Vertragsverpflichtungen nicht hinnimmt – nicht einmal, wenn es um das mächtige deutsche Bundesverfassungsgericht geht.
Wie lässt sich der Konflikt entschärfen?
Das Vertragsverletzungsverfahren sieht mehrere Schritte zwischen der Europäischen Kommission und der deutschen Regierung vor, in denen der Fall entschärft werden kann, ohne vor dem EuGH landen zu müssen. Was den Machtkonflikt zwischen Karlsruhe und Luxemburg angeht, wird er sich vermutlich nie endgültig lösen lassen: Die europäische Rechtsverordnung ist auf Kooperation und einen (in)direkten Dialog zwischen den nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH angewiesen. Dieser Dialog ermöglicht es, konkrete Rechtsprobleme auf praktischer Ebene zu lösen, ohne dass eines der Gerichte auf seinen (theoretischen) Vorranganspruch verzichten müsste.
Wer hat künftig in Europa das Sagen: Karlsruhe oder Luxemburg?
Da kommt es vermutlich darauf an, wen Sie fragen. Fragen Sie Luxemburg, wird die Antwort Luxemburg sein. Aus Karlsruher Sicht, wird das letzte Wort wohl eher in Karlsruhe gesprochen werden.