Abschnittsweise autofrei ist die Berliner Friedrichstraße bis Oktober. Bei dem Pilotprojekt geht es um eine neue Mobilität in den Innenstädten mit weniger Verkehr. Nach einer Zwischenbilanz ist die Luft schon mal besser geworden. Aber reicht das, um eine Stadt lebenswerter zu machen?
Es ist brütend heiß. Die Luft flimmert über dem Asphalt. Wer kann, flieht aus der Stadt. An diesem Samstagmittag sitzen in der Friedrichstraße nur wenige Leute unter den großen Sonnenschirmen am Straßenrand. Sie schauen den Rad- und Rollerfahrern zu, die auf der autofreien Straße an ihnen vorbeirauschen. Auf einer Bank hat sich ein Pärchen niedergelassen mit Salatbowls und Cola. Die beiden Düsseldorfer sind das erste Mal in der Friedrichstraße unterwegs. „Da vorne war es uns zu trubelig, hier ist es ruhiger." Die Idee mit der autofreien Straße finden sie gut, man müsse nur auf die Radfahrer aufpassen.
Seit Ende August 2020 ist die Friedrichstraße zwischen Leipziger und Französischer Straße autofreie Zone, und das soll bis Ende Oktober 2021 auch bleiben. Das ist ein Schritt in Richtung autofreie Stadt und saubere Luft, hoffen das Bezirksamt Mitte von Berlin, die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe sowie die Tourismus-Marketingorganisation Visit Berlin.
Langfristig ist geplant, die Magistrale in einen attraktiven modernen Stadtraum umzuwandeln. Das Pilotprojekt dazu ist die „Flaniermeile Friedrichstraße". Wobei nur die Fußgänger gemütlich an den Läden vorbeischlendern. Wer dabei schon mal die gekennzeichneten Radwege, die „Safety Lane", übersieht, wird heftig angeklingelt. Die Radfahrer sind hier mit Speed unterwegs.
Kritik vom Bund der Steuerzahler
Die Idee ist, die traditionsreiche Friedrichstraße wiederzubeleben und unter Berücksichtigung der Mobilitätswende neu zu gestalten. Verbesserte Luft, geringere Lärmbelastung und fehlender Autoverkehr sollen die Aufenthaltsqualität erhöhen und so mehr Kundschaft für Einzelhandel und Gewerbe anziehen. Begleitet wird das Projekt durch eine Marketingkampagne.
Viele stehen dem Vorhaben positiv gegenüber. Es gibt aber auch kritische Stimmen, insbesondere was die Verlagerung des Radverkehrs auf die Straßenmitte und des Wirtschaftsverkehrs in die Seitenstraßen betrifft. Für den Bund der Steuerzahler (BdS) sind die bisherigen Ausgaben von etwas mehr als eine Million Euro bis Ende Januar 2021 nicht gut angelegt. Der Berliner BdS-Vorsitzende, Alexander Kraus, hätte das Geld lieber in die Sanierung maroder Rad- und Gehwege gesteckt.
Im Dezember 2020 wurde eine erste Bilanz gezogen. Wegen des kurzen Zeitraums und der Pandemie konnten nur Tendenzen abgelesen werden. Klar war – der Radverkehr hatte zugenommen und bei den Luftschadstoffen wurde eine Entlastung festgestellt.
Der zweite Lockdown hatte erhebliche Auswirkungen, In der Friedrichstraße gibt es viele Unternehmen mit Büroarbeitsplätzen, deren Angestellte überwiegend im Homeoffice waren. Sie fielen wie die ausbleibenden Touristen als Kundschaft für Einzelhandel und Gastronomie weg, die ohnehin nur beschränkten Zugang gewährten oder ganz geschlossen waren.
Der begonnene Strukturwandel wurde durch die Pandemie noch beschleunigt, die Umsatzzahlen des stationären Handels brachen teilweise in erheblichem Maße ein. Gerade die Branchen, die zum Shopping einladen und in der Friedrichstraße stark vertreten sind, wie Uhren, Schmuck und Bekleidung, waren besonders stark betroffen. Die Flaniermeile und die Öffnungen im Sommer 2020 brachten zwar mehr „neugierige" Fußgänger in die Friedrichstraße, die aber nach den erneuten Schließungen nahezu wegblieben. Einen kleinen Lichtblick gab es, die sogenannten Showcases. Die kleinen Glaspavillons konnten von Unternehmen für eine Präsentation temporär gemietet werden und die stellten damit positive Effekte fest. Die Gastronomen nutzten im Sommer 2020 die Möglichkeit, ihre Außenflächen zu erweitern, mit dem erneuten Lockdown brachen die Umsätze aber wieder ein. Umso mehr Hoffnungen werden auf das diesjährige Sommergeschäft gesetzt.
Einen der Showcases hat sich das „Nanoosh" gesichert. Das Restaurant liegt nicht an der Friedrichstraße, sondern in der angrenzenden Mohrenstraße. Serviert wird dort handgemachte mediterrane Küche vom Hummus-Falafel-Wrap bis zum Tabouleh-Salat. Trotz des Gendarmenmarktes gleich um die Ecke ist es kein typischen „Ausgehlokal", es öffnet mittags und schließt um 20 Uhr. „Unsere Hauptkundschaft sind die Leute aus den umliegenden Büros und natürlich die Touristen", erklärt Geschäftsführer Khamzat Dzhamaldaev, „da bilden sich zur Mittagszeit schon mal Schlangen. Aber gegen Abend wird es merklich ruhiger." Er hatte schon nach dem Start des „Flaniermeile"-Projektes im vergangenen Jahr festgestellt, dass weniger Kundschaft kam. Im Lockdown wurde zwar ein Außer-Haus-Verkauf angeboten, aber der habe sich nicht wirklich rentiert. Dennoch sei man froh, alles gut überstanden zu haben, andere hatten weniger Glück. „Hier in der Umgebung haben drei, vier große Restaurants dichtgemacht." Mit dem Showcase auf der Friedrichstraße erhofft sich das „Nanoosh" mehr Zulauf, insbesondere von Touristen.
Der Tauentzien war drei Stunden autofrei
Die autofreie Friedrichstraße sieht Chef Khamzat Dzhamaldaev mit gemischten Gefühlen. Anfangs sei es schwierig gewesen, weil wegen der Umwege die Kunden mit Autos wegblieben. Aber eigentlich sei es eine gute Idee. Allerdings müssten mehr interessante Geschäfte her, damit die Leute auch flanieren könnten. Gut, dass das „Lafayette" geblieben sei, die nicht weit entfernten Shoppingmalls hätten viel Kundschaft abgezogen. Für ihn hat aber die Friedrichstraße noch immer eine große Anziehungskraft, schon allein wegen ihrer Geschichte. So wurde die 3,3 Kilometer lange Straße nach Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg benannt und führte einst über Wiesen und Äcker. In der gerade entstehenden Berliner Neustadt war sie die zweitwichtigste Straße nach Unter den Linden. Während der Märzrevolution 1848 ging man dort auf die Barrikaden, später bauten Investoren teure Hotels und noble Restaurants. Es wurde Berlins berühmt-berüchtigte Amüsiermeile mit Theatern und dem Varieté Wintergarten. Anfang des 20. Jahrhunderts drängelten sich Fußgänger neben Pferdebahnen, Droschken, Kraftfahrzeugen, Omnibussen und Radfahrern. Nach 1945 war die Friedrichstraße auch ein Spiegelbild der geteilten Stadt. Auf DDR-Gebiet entstanden neben Geschäften und Hotels, der neue Friedrichstadt-Palast und das Internationale Handelszentrum. Ihr südliches Ende auf Westberliner Seite wurde am Mehringplatz für die Internationale Bauausstellung 1984 umgestaltet. Die Schnittstelle war der legendäre Checkpoint Charlie, heute eine Touristenattraktion. Nach der Wende begann ein regelrechter Bauboom. Das „Kulturkaufhaus Dussmann", Boutiquen mit Edelmarken und die „Galeries Lafayette" sollten dem Kudamm in nichts nachstehen. Seit 2016 gibt es in der Friedrichstraße auch einen von drei Vorwerk-Stores in Berlin. Für das Unternehmen aus Wuppertal bietet die Lage eine große Kontaktreichweite und hohe Sichtbarkeit, der Store wurde von der Kundschaft gut angenommen. Probleme bei der Belieferung habe es wegen der autofreien Zone nicht gegeben, heißt es.
Aber nicht nur auf der Friedrichstraße, auch in der City West gab es einen Versuch mit einer „Flaniermeile". Auf Initiative des Vereins „Stadt für Menschen" wurde im Oktober 2020 ein Teilabschnitt der Tauentzienstraße für drei Stunden für den Autoverkehr gesperrt.
Das ist über ein Dreivierteljahr her, längst rollt der Verkehr wieder auf dem Tauentzien, Passanten bevölkern die Bürgersteige. Geschäfte locken mit erheblichen Rabatten, vor dem „KaDeWe" wird sogar mal Schlange gestanden. Anstehen vor Restaurants muss man noch nicht. Zwar wurde die Gastronomie mit den neuen Lockerungen wieder langsam hochgefahren, aber die Verluste seit dem vergangenen Jahr sind ziemlich heftig. Der Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses stellte im Dezember 2020 fest, dass das Berliner Gastgewerbe in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres einen Umsatzrückgang von 47 Prozent verkraften musste. Umso wichtiger scheint eine nachhaltige Perspektive für Gewerbetreibende in einer Stadt, die mit der Mobilitätswende die Zukunft gestalten will. Autofreie Zonen mit Rad- und Fußverkehr allein bringen offenbar nicht mehr Kunden zu Gastronomie und Einzelhandel. Es bleibt also spannend, welche Schlüsse aus dem Projekt „Flaniermeile Friedrichstraße" gezogen werden.