Der THW Kiel bleibt das Maß der Dinge im deutschen Handball, auch wenn der neue alte Meister im Saisonfinale etwas Glück brauchte. Aufgrund der enormen Strapazen besitzt der 22. Titel einen besonderen Stellenwert.
Einen Pilotenschein besitzt Domagoj Duvnjak zwar nicht, aber die Crew ließ den Kroaten trotzdem ins Cockpit. Dort stieß er nach der Landung auf dem Rollfeld des Flughafens Kiel-Holtenau die Dachluke auf und reckte stolz die Meisterschale in die Höhe. Die Freiwillige Feuerwehr war zur Gratulation gekommen, genau wie rund 70 Fans sowie Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer und nicht zuletzt Daniel Günther. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident, geriet etwas in die Bredouille, weil er nicht nur dem THW Kiel zum 22. Titel in der Handball-Bundesliga gratulieren durfte, sondern auch die knapp geschlagene SG Flensburg-Handewitt trösten musste. „Es ist natürlich ein Luxus, Ministerpräsident zu sein in einem Bundesland, wo die beiden Vereine vorne weg sind", sagte Günther, dem man eine völlig neutrale Rolle aber nicht ganz abkaufen konnte. Der 47-Jährige ist bekennender THW-Fan, und das nun schon seit 36 Jahren. Trotzdem versuchte er, seine Freude über den Triumph seines „Lieblingsvereins" aus Rücksicht vor dem ärgsten Rivalen zu unterdrücken.
Am Ende hatten beide 68:8 Punkte
Zumal die Meister-Entscheidung in der HBL-Saison kaum hätte dramatischer ausfallen können. Am Ende hatten beide Nord-Rivalen 68:8 Punkte auf dem Konto – aber nur die Kieler die Schale in der Hand. Der Titelverteidiger hatte das direkte Duell der beiden Topclubs für sich entschieden, deswegen reichte die Punktgleichheit. Zum Glück für den THW, denn im Saisonfinale rettete man mit Mühe und Not den Mini-Vorsprung über die Ziellinie. Beim hart erkämpften 25:25 bei den Rhein-Neckar Löwen hätten beinahe die Kieler mit leeren Händen dagestanden, doch Rückraumspieler Andy Schmid setzte in der Schlusssekunde und in Überzahl den Ball am rechten Torpfosten vorbei. Die Kieler atmeten erleichtert auf – und feierten danach umso ausgelassener.
Immer mittendrin: Filip Jicha. Beim Meistertrainer musste die ganze Anspannung der vergangenen Monate raus. „Was die Jungs geleistet haben, ist bewundernswert", sagte der Tscheche, „wir sind alles andere als ein Zufallsmeister." Was Jicha meinte: Kiel hatte für den erneuten Coup enorme Anstrengungen unternehmen und Widerstände überwinden müssen: 59 (!) Pflichtspiele bestritt die Mannschaft, für die Nationalspieler kamen noch zahlreiche Länderspiele dazu. Die Meisterschale sei daher „die richtige Belohnung für die unglaublich harte Arbeit der Zebras", sagte Kiels Oberbürgermeister Kämpfer. THW-Kapitän Duvnjak sprach von der „schwersten Saison meines Lebens", er habe „wirklich alles auf dem Spielfeld gelassen".
Da die Handball-Bundesliga in der aufgrund der Corona-Pandemie abgebrochenen Saison 2019/20 keine Absteiger benennen wollte, ging die aufgestockte Bundesliga verspätet ab Oktober mit 20 Vereinen an den Start. Allein dadurch war der Spielplan mit 380 Partien auf Kante genäht, durch insgesamt 41 verschobene Begegnungen und einige Quarantäne-Maßnahmen (auch die Kieler mussten aufgrund von Corona-Erkrankungen in Isolation) geriet das Kartenhaus mächtig ins Wanken. Aber es fiel nicht. Man sei „wirtschaftlich und organisatorisch" an die Grenzen gestoßen, sagte HBL-Geschäftsführer Frank Bohmann, der aber das oberste Ziel erreicht hatte: Keine Entscheidung musste am Grünen Tisch gefällt werden.
Kiel und Flensburg qualifizierten sich für die prestigeträchtige und lukrative Champions League, der SC Magdeburg, die Füchse Berlin und die Rhein-Neckar Löwen vertreten Deutschland in der European League. Torschützenkönig wurde der Magdeburger Omar Ingi Magnusson mit 274 Treffern. Zum „Trainer der Saison" wurde Florian Kehrmann gewählt, der Ex-Meister TBV Lemgo zum ersten Gewinn des DHB-Pokals seit 19 Jahren geführt hatte. Als Absteiger stehen Eulen Ludwigshafen, HSG Nordhorn-Lingen, TUSEM Essen und HC Coburg fest. Aufgestiegen sind dagegen der HSV Hamburg und die TuS N-Lübbecke.
Die Entscheidungen fielen allesamt auf dem Feld. „Das gibt uns ein gutes Gefühl für die neue Saison", sagte Bohmann. Nicht nur er hofft, dass beim Startschuss für die Spielzeit 2021/22 mindestens genauso viele Zuschauer zugelassen werden wie im Endspurt der abgelaufenen. „Der Fuchsbau soll wieder brennen und 9.000 Fans in der Halle uns immer ein paar Extra-Körner geben", sagte zum Beispiel Trainer Jaron Siewert von den Füchsen Berlin. Doch im Hintergrund warnen die Mahner wegen der zu erwartenden vierten Welle im Herbst durch die aggressive Delta-Variante vor zu optimistischen Prognosen und Planungen.
„Das hat eine Menge Kraft gekostet"
Aber noch so eine Hammer-Saison kann sich Maik Machulla eigentlich nicht vorstellen. „Eine solche Saison mit Spielabsagen und Quarantäne möchte ich nie wieder erleben", sagte der Trainer von Vizemeister Flensburg. „Das war Wahnsinn und hat eine Menge Kraft gekostet." Und vielleicht sogar noch mehr. Seine Spieler seien teilweise über die Belastungsgrenze hinausgegangen: „Wir waren seit Monaten mit acht Leuten unterwegs. Jim Gottfridsson humpelte von Spiel zu Spiel, alle anderen sind auch angeschlagen." Auch deshalb sei der Kampf, den sein Team den besser besetzten Kielern bis zum Ende bot, gar nicht hoch genug zu bewerten: „Wir hatten so viele Probleme und uns trotzdem als Mannschaft gefunden. Der Titel wäre das i-Tüpfelchen gewesen." Auch Nationalspieler Johannes Golla meinte, die SG könne „im Großen und Ganzen stolz sein" – und trotzdem ärgerte er sich über verschenkte Punkte zum Beispiel gegen Lemgo oder in Göppingen: „Es ist natürlich ärgerlich, weil ein Punkt fehlt und – wenn man zurückblickt – wir es uns selbst versaut haben." In der neuen Saison wird Flensburg aber den nächsten Angriff auf Kiel starten, die Unwägbarkeiten im vergangenen Jahr könnten dann sogar hilfreich sein. „Wir haben gelernt, dass wir eine unglaubliche Moral haben", meinte SG-Kapitän Lasse Svan. Der Däne richtete nach dem 38:26-Kantersieg zum Abschluss in der heimischen Arena gegen Balingen das Wort an die 2.300 Fans, die keineswegs enttäuscht reagierten.
Großen Respekt vor dem sportlich Unterlegenen zeigte auch der Sieger. „Handball-Deutschland kann stolz auf diese Liga sein", sagte der kroatische Weltklassespieler Duvnjak. „Das war ein Kampf zwischen den Vereinen, und wir waren am Ende ein wenig glücklicher." Auch THW-Superstar Sander Sagosen, der sich nach seinen Stationen in Aalborg und Paris schon zum fünften Mal in Folge zum nationalen Meister krönte, meinte: „Das war richtig knapp." Dass eine Saison mit 38 Spieltagen quasi in der letzten Sekunde entschieden wurde, sei „der Wahnsinn". Gefeiert wurde der Titel vom THW-Tross auf der „MS Düsternbrook", die an der Kiellinie entlang schipperte und am Ufer von rund 1.000 Fans begleitet wurde. Die Anhänger durften mit ihren Helden abklatschen, Duvnjak ließ Kinder sogar Selfies mit der Meisterschale machen. „Das hat gefehlt, in der letzten Saison war das alles so steril", verglich Linksaußen Rune Dahmke. „Eine Übergabe der Schale mit Handschuhen und ohne Fans war seltsam, aber das heute ist ein Stück Normalität." Abwehrhüne Patrick Wiencek war „froh, unsere Fans wenigstens zu sehen und zu hören, auch wenn es nicht auf dem Rathausplatz ist." Das, versprach der Nationalspieler, „machen wir dann hoffentlich wieder im nächsten Jahr".
„Das heute ist ein Stück Normalität"
Die ganz große Sause fiel aber aus – und das nicht nur wegen Corona. Die Spieler waren einfach platt, und viel Zeit zum Krafttanken blieb zumindest den Nationalspielern nicht: Nur eine Woche nach dem Bundesligafinale bat Bundestrainer Alfred Gislason den Olympia-Kader zur Vorbereitung auf die Sommerspiele in Tokio. Nicht mit dabei ist Wiencek. Der Kieler Abwehrchef war im letzten Spiel gegen die Löwen zwar wieder mit von der Partie („Das Spiel lass’ ich mir nicht entgehen"), seinen Olympiastart hat er aber schweren Herzens abgesagt. Nach seinem im Mai erlittenen Wadenbeinbruch fühlt sich Wiencek, der schon die WM aus persönlichen Gründen verpasst hatte, nicht fit genug für die Spiele. „Ich habe alles investiert, um mir den Traum von Tokio zu erfüllen", sagte der 32-Jährige. „Es tut mir in der Seele weh, dass ich verzichten muss." Für Bundestrainer Gislason ist Wienceks Verzicht ein „herber Verlust". Gut möglich, dass noch ein paar weitere Absagen dazukommen. In der Terminhatz bleibe „kaum Zeit für die Nationalmannschaft", klagte Gislason kürzlich in der Berliner Morgenpost, „darüber müssen sich alle im Klaren sein, das ist der Preis." Auch wenn die Liga künftig wieder mit „nur" 18 Teams an den Start geht, kommen Top-Profis wie Wiencek oder Henrik Pekeler auf bis zu 80 Spiele pro Saison. Regeneration? Kaum möglich. Sommerpause? Kurz. „Wenn du in Deutschland spielst, bist du nach der Saison körperlich am Ende", klagte Pekeler. „Viele Spieler schlucken mehr Schmerzmittel, als es medizinisch ratsam wäre." Und Kiels ehemaliger Rückraumstar Nikola Karabatic hat die Belastungsschraube einmal so kommentiert: „Im Handball bekommst du nur frei, wenn du verletzt bist."
Die Lösung? „Eine Liga mit 16 Clubs scheint mir die optimale Größe. Die sollten wir mittelfristig anstreben", sagte Gislason. Doch dass es wirklich dazu kommt, ist zumindest nicht absehbar. Kleinere Teams würden diesem Vorschlag nicht zustimmen. Und so bleibt den Profis wohl keine andere Wahl, als auf die Zähne zu beißen und durchzuhalten. „Wir sind nur dazu da, den Spielplan zu erfüllen", meinte Flensburgs Trainer Machulla.