2008 in Peking waren es Sprint-Gigant Usain Bolt und Gold-Hamster Michael Phelps. 2012 in London Englands Nationalhelden Mo Farah und Andy Murray. 2016 in Rio de Janeiro noch mal Phelps mit seinem goldenen Abschied und Turn-Teenagerin Simone Biles. Und 2021? Wer drückt den um ein Jahr verschobenen Olympischen Spielen in Tokio seinen Stempel auf? Wir stellen die größten Stars vor.
Noch nie hatten so viele Frauen die Chance und das Zeug dazu, der Superstar der Olympischen Spiele zu werden. Lediglich ein Mann mischt sich unter das Feld unserer persönlichen Topfavoriten.
Naomi Osaka (Japan)
Alle Augen sind auf Naomi Osaka gerichtet – sofern sie denn startet. Eigentlich war der Tennisstar als DAS Gesicht der Olympischen Spiele in Japan eingeplant, doch Osaka hat ihren eigenen Kopf. Das hat sie mit ihrem Medien-Boykott während der French Open im Juni bewiesen, der mit einem Rückzug vom Grand-Slam-Turnier und viel Aufregung endete. Osaka begründete ihre Ablehnung für Pressekonferenzen mit einer Depression, unter der sie seit den US Open 2018 immer wieder leiden würde.
Während sie von der Turnier-Direktion gerügt wurde, gab es von zahlreichen Größen aus dem Sport Unterstützung. Novak Djokovic, Usain Bolt, Stephen Curry und viele mehr sprachen ihren Respekt für Osaka aus. Die viermalige Grand-Slam-Siegerin wollte danach erst mal Abstand vom Tenniscourt haben und verzichtete auf einen Start in Wimbledon. „Sie nimmt sich eine private Auszeit mit Freunden und der Familie", teilte ihr Management mit: „Sie wird für Olympia bereit sein und freut sich, vor ihren heimischen Fans zu spielen."
Osaka taugt auch aus anderen Gründen nicht für die Promotion der Spiele. Japans Sport-Heldin, die in Florida lebt, spricht offen das aus, was ein überwiegender Teil der Bevölkerung denkt: Sie sei sich „nicht sicher", ob die Austragung der Wettkämpfe in Zeiten einer Pandemie eine gute Idee ist: „Wenn die Leute nicht gesund sind und sich nicht sicher fühlen, dann ist das definitiv ein wirklich großer Grund zur Sorge."
Die erste Asiatin an der Spitze der Tennis-Weltrangliste, die öffentlich auch für die Bewegung „Black Lives Matter" und soziale Gerechtigkeit eintritt, lässt sich nicht verbiegen – und ist auch gerade deshalb für die Öffentlichkeit so interessant. Der Streamingdienst Netflix hat Osaka auf ihrem Weg zu Olympia mit der Kamera begleitet und zeigt die Dokumentation im Juli. Langweilig dürfte die Serie jedenfalls nicht sein.
Katie Ledecky (USA)
Schon als Teenagerin wurde die US-Amerikanerin Katie Ledecky als „weiblicher Michael Phelps" bezeichnet. Nicht wenige würden unter diesem Erwartungsdruck zusammenbrechen, aber Ledecky nicht. Sie scheint „nicht von diesem Planeten", wie ihre spanische Konkurrentin Mireia Belmonte einmal sagte. Sie war schon mit 20 Jahren Rekordweltmeisterin, hält aktuell die Weltrekorde über 400, 800 und 1.500 Meter Freistil und hat bereits fünf olympische Goldmedaillen gewonnen. In Tokio könnten maximal fünf dazukommen, auch wenn es die Programmgestalter nicht gut mit ihr meinten: Die Rennen über 200 und 1.500 Meter finden am selben Tag statt.
„Ich freue mich sehr auf diese Herausforderung", sagt sie, „und dass ich meine ganze Bandbreite an einem Tag zeigen kann." Typisch Ledecky: immer positiv denken, immer hart arbeiten. Für Olympia hat sich die 24-Jährige noch mehr als sonst abgeschottet, um den totalen Fokus im Training zu bekommen. „Ich habe meine Familie seit mehr als einem Jahr nicht gesehen, nicht ein einziges Mitglied", verrät die Ausnahmeschwimmerin: „Ich möchte sie stolz machen, wenn ich an den Start gehe. Eigentlich sogar jeden Menschen in Amerika."
Ledecky ist trotz ihrer riesigen Erfolge auf dem Boden geblieben. Das hat sie Rekord-Olympiasieger Phelps, der zwischenzeitlich mit Drogenkonsum und Fahren unter Alkoholeinfluss negativ in die Schlagzeilen gekommen war, schon mal voraus. Seit Jahren verzichtet sie auf Millionen US-Dollar, weil sie ihren Amateurstatus nicht aufgeben will, sondern lieber weiter für das College-Team der Stanford University schwimmt. „Ich achte nicht darauf, mit welchen Zahlen die Leute um sich werfen. Ich will mit meinen Freunden zusammen schwimmen und studieren", sagt sie.
Von ihrer Freundlichkeit und Sympathie darf man sich aber nicht täuschen lassen, im Wasser kennt Ledecky kein Erbarmen. Sie ist auf Sieg getrimmt – und das immer. Neben diesem Ehrgeiz kommen körperliche Voraussetzungen, die für den Kraulstil ideal sind. Und so ist Ledecky in Tokio „die Gejagte", wie die deutsche 1.500-Meter-Vizeweltmeisterin Sarah Köhler sagt, „und alle, die hinter ihr her sind, schauen natürlich: Was macht sie anders, was macht sie besser als wir?"
Shelly-Ann Fraser-Pryce (Jamaika)
Es gibt viele Bilder, auf denen die jamaikanischen Sprintstars Shelly-Ann Fraser-Pryce und Usain Bolt zusammen zu sehen sind. Und nahezu alle Bilder zeigen den 1,95-Meter-Hünen Bolt in gebückter Haltung. Denn Fraser-Pryce hat ihren Spitznamen „Pocket Rocket" nicht umsonst: explosiv und klein. Die nur 1,52 Meter große Sprinterin ist mittlerweile zwar 34 Jahre alt, hat von ihrer Schnellkraft aber nichts eingebüßt. Beim jüngsten Meeting in Kingston lief die neunmalige Weltmeisterin die 100 Meter in 10,63 Sekunden und schockte damit die Konkurrenz. Das bedeutete nicht nur Weltjahresbestleistung, sondern es war auch die viertbeste jemals erzielte Zeit in der Geschichte. Einzig die US-Amerikanerin Florence Griffith-Joyner war dreimal schneller, unter anderem 1988 bei ihrem Weltrekord (10,49).
„Dafür habe ich gerade keine Worte", sagte Fraser-Pryce selbst überrascht: „Für so eine Zeit habe ich so hart gearbeitet, war immer geduldig – und jetzt ist es passiert. Ich bin überwältigt." Die inzwischen zurückgetretene Carmelita Jeter aus den USA, die von Fraser-Pryce als Nummer zwei der ewigen Rangliste abgelöst wurde, gratulierte herzlich via Twitter: „Das ist einfach nur verdient. Du bist nach der Geburt deines Kindes zurückgekommen und hast der Welt gezeigt, wie talentiert und leidenschaftlich du bist."
Und erfolgshungrig. 2008 und 2012 ist Fraser-Pryce bereits Olympiasiegerin geworden, in Tokio soll Gold Nummer drei folgen. Diesmal gibt es auch keine Ablenkung wie 2016, als sie als Fahnenträgerin das jamaikanische Team ins Olympiastadion führte, im 100-Meter-Finale dann aber „nur" Bronze gewann.
Wer über einen so langen Zeitraum so erfolgreich ist, bei dem läuft immer auch der Zweifel mit. Bei Fraser-Pryce ist das nicht anders, zumal sie 2010 beim Diamond-League-Meeting in Shanghai positiv auf das morphinhaltige Narkotikum Oxycodon getestet wurde. Ihr Trainer soll ihr damals das Mittel wegen ihrer Zahnschmerzen gegeben haben, gab sie an. Dass es auf der Dopingliste steht, habe sie nicht gewusst. Die Sperre wurde immerhin auf sechs Monate reduziert, am letzten Tag dieser Strafe heiratete sie ihren langjährigen Freund Jason Pryce.
Allyson Felix (USA)
Innerlich hatte Allyson Felix Olympia schon abgehakt. 2018 wurde der Leichtathletik-Star schwanger, was für viele Frauen in der Branche das Ende ihrer Karriere bedeutet. „Auch für mich sah es so aus, als könnte man nur eins machen", verriet Felix. Doch die 200- und 400-Meter-Läuferin belehrte sich selbst und die ganze (Sport-)Welt eines Besseren. Noch bevor ihre Tochter Camryn ein Jahr alt wurde, kehrte Felix bei der WM 2019 in Doha triumphal zurück: Mit ihrem zwölften WM-Gold in der Mixed-Staffel überflügelte sie sogar Sprint-Legende Usain Bolt.
Auch abseits der Tartanbahn gab Felix Gas. Die 35-Jährige kritisierte den Ausrüster-Giganten Nike, der bei schwangeren Athletinnen oft die Sponsoren-Zahlungen einstellt. Auch setzt sie sich für die Gleichbehandlung von Schwarzen ein, allen voran unterstützt sie Projekte gegen die Muttersterblichkeit von schwarzen Frauen, die in den USA etwa dreimal so hoch ist wie bei weißen Frauen. „Mutter zu werden hat meinen Fokus auf die Welt, in der meine Tochter aufwächst, verändert", erklärte Felix: „Ich möchte nicht, dass sie den gleichen Kampf führt." Erst durch ihre Mutterrolle habe sie den Mut und die Kraft gefunden, „wichtige Themen anzusprechen" und „meine Stimme zu erheben". Vielleicht auch bei den Olympischen Spielen, obwohl politische Botschaften streng sanktioniert werden sollen.
Sportlich will Felix auf jeden Fall für Schlagzeilen sorgen, und die Chancen auf Erfolge bei ihren fünften Sommerspielen stehen herausragend gut. Im Mai lief sie in Prairie View/Texas in 50,88 Sekunden ihr schnellstes 400-Meter-Rennen seit vier Jahren. Mit sechs Gold- und drei Silbermedaillen ist Felix schon jetzt die erfolgreichste Leichtathletin der Olympia-Geschichte, in Tokio soll weiteres Edelmetall dazukommen. Auch dank der kleinen Camryn. „Mutter zu sein bringt dich auf ein nächstes Level und liefert dir Gründe, deine Ziele zu verfolgen", sagte die US-Amerikanerin und betonte: „Es gibt keinen Grund, dass man nicht auch als Mutter seine beste Leistung abrufen kann."
Simone Biles (USA)
Ein Handstand ist für die meisten Menschen eine nicht zu meisternde Herausforderung, für Ausnahmeturnerin Simone Biles aber natürlich kein Problem. Aber kann sie sich dabei mit den Füßen auch eine Jogginghose ausziehen? Diese Herausforderung nahm die US-Amerikaner an, ließ sich dabei für ihren Youtube-Kanal filmen – und sorgte für einen viralen Clip. Binnen 55 Sekunden entledigte sich Biles der Hose und sorgte einmal mehr für Begeisterung unter ihren Fans.
Biles ist ein Phänomen. Rekordweltmeisterin, viermalige Olympiasiegerin von Rio, dreimal Weltsportlerin des Jahres, Idol einer ganzen Turn-Generation. Die 24-Jährige hat mit ihrer Klasse und ihrem Auftreten dem angestaubten Image der Hallen-Sportart einen neuen Glanz verliehen, nicht nur in den USA. „Was Simone zeigt, gibt dem Turnen weltweit einen Schub", sagte die deutsche Turnerin Elizabeth Seitz: „Wenn man jemanden hat, der so viel Aufmerksamkeit erzeugt, tut das diesem Sport nur gut."
Auch in Tokio steht Biles im Fokus, und sie genießt diese Aufmerksamkeit. Auch Druck scheint ihr nichts auszumachen, dabei erwarten alle von ihr nicht weniger als bis zu sechs Goldmedaillen. Damit würde das Jahrhunderttalent an der Ukrainerin Larissa Latynina, die neun Olympiasiege für die damalige Sowjetunion holte, als Rekordturnerin vorbeiziehen.
Biles reist in Topform nach Tokio, bei den US-Meisterschaften sammelte sie im Mehrkampf mit zahlreichen Höchstschwierigkeiten herausragende 59,55 Punkte. Das sei „wirklich gut", meinte Biles, die jedoch mit ihrer Leistung am Boden haderte: „Ich weiß, dass ich mein Adrenalin ein bisschen besser kontrollieren sollte."
Rikako Ikee (Japan)
Ihr Leben lang war Rikako Ikee auf Bestzeiten und Siege getrimmt, und nach Platz sechs bei Olympia 2016 als gerade einmal 16-Jährige wurden erst recht große Triumphe von der Schwimmerin erwartet. Doch ausgerechnet bei den Olympischen Spielen in ihrer Heimat geht sie ohne großen Druck an den Start. Sie hat bereits gewonnen. „Egal, welchen Platz ich jetzt bei den Spielen belege, ich bin glücklich, dabei zu sein", sagt die Japanerin. Im Februar 2019 war bei der heute 20-Jährigen Leukämie diagnostiziert worden. Das hätte das eindeutige Olympia-Aus bedeutet, doch die Sommerspiele wurden bekanntlich coronabedingt um ein Jahr verschoben. Das gab Ikee die Zeit, ein weltweit beachtetes Comeback zu starten.
Nach fast zehn Monaten Aufenthalt im Krankenhaus stieg die Athletin wieder ins Becken und nahm das Training auf. Und schnell war Ikee fast wieder die Alte. Bei den nationalen Meisterschaften im April gewann sie schließlich das Rennen über 100 Meter Schmetterling und sicherte sich damit das Olympia-Ticket. Es brauchte eine Weile, bis die in Tränen aufgelöste Ikee danach aus dem Becken kam. Sie wurde von den Emotionen überrollt. „Ich habe nicht gedacht, dass ich die Norm schaffe, ich bin so glücklich", sagte sie tränenüberströmt: „Ich dachte, dass ich erst viel später in der Lage sein würde zu gewinnen."
So ein Kampfgeist imponiert auch den IOC-Präsidenten. „Olympioniken geben niemals auf", schrieb Thomas Bach in einem Brief: „Ich kann es nicht abwarten, Dich in Tokio zu sehen." Sollte Ikee dort ins Finale schwimmen, wäre das Schwimmmärchen endgültig perfekt. Aber gewonnen hat sie schon jetzt.
Gregorio Paltrinieri (Italien)
Florian Wellbrock will bei Olympia Historisches schaffen: Gold im Becken und im Freiwasser hat noch kein Schwimmer jemals gewonnen. Wellbrocks größtes Problem bei dieser Mission ist Gregorio Paltrinieri, denn der Italiener hat dasselbe Ziel. Bei der WM 2019 hatte Wellbrock sowohl über 1.500 Meter als auch über zehn Kilometer die Oberhand behalten, doch das scheint seinen Rivalen nur noch mehr angestachelt zu haben. Bei der jüngsten EM in Budapest sicherte sich Paltrinieri alle drei möglichen Titel im Freiwasser, im olympischen Zehn-Kilometer-Rennen erteilte er seinem deutschen Widersacher, den er mit einer Attacke vor dem Ziel abgehängt hatte, sogar eine taktische Lehrstunde.
„Es ist immer spannend, gegen ihn zu schwimmen. Und es hat großen Spaß gemacht", feixte Paltrinieri hinterher. Der 26-Jährige hat ganz offensichtlich viel im offenen Gewässer trainiert. Was auch damit zusammenhängt, dass er nun mit dem Coach der italienischen Freiwasser-Nationalmannschaft zusammenarbeitet und nicht mehr mit seinem langjährigen Trainer und Mentor Stefano Morini.
Im Becken ist Paltrinieri schon vor fünf Jahren in Rio de Janeiro Olympiasieger über 1.500 Meter Freistil geworden, seitdem ist der Schwimmer in seinem Heimatland ein Star. Die Rivalität mit Wellbrock hilft auch seiner Popularität. Privat verstehen sich beide bestens, sie schreiben sich Nachrichten und machen bei Wettkämpfen Späße. Doch wenn es zum Startblock geht, will jeder vor dem anderen landen. Als Wellbrock vor der EM über 1.500 Meter die Weltjahresbestzeit von Paltrinieri knackte, sagte der Deutsche im TV-Interview: „Einen schönen Gruß nach Italien." Der Italiener schlug in Budapest zurück. Die Fortsetzung folgt in Tokio.