Eine Absage der um ein Jahr verschobenen Sommerspiele in Tokio konnte verhindert werden. Dennoch verliert Olympia in diesem Jahr seinen Charme, die Freiheit der Athleten wird massiv eingeschränkt.
Tokio – das Olympia-Maskottchen Miraitowa lässt viel Raum für Interpretationen. Der Name der in Blau gehaltenen Figur, die aus einem japanischen Manga-Comic entsprungen zu sein scheint, ist aus den Wörtern „mirai" (Zukunft) und „towa" (Ewigkeit) zusammengesetzt. Doch dass die Olympischen Sommerspiele in Tokio zukunftsweisend sein werden, hofft niemand. Und dass sie Momente für die Ewigkeit liefern, glaubt kaum einer. Aufgrund der Coronapandemie und den damit verbundenen Maßnahmen werden die Spiele vielleicht als die trostlosesten der jüngeren Geschichte in die Historie eingehen. Doch selbst das wäre dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) mit Präsident Thomas Bach an der Spitze relativ egal – solange sie überhaupt stattfinden. Die Verschiebung um ein Jahr hat nach offiziellen Angaben 11,3 Milliarden Euro gekostet, Experten gehen aber sogar von einer doppelt so hohen Summe aus. Eine komplette Absage hätte den Ringe-Orden finanziell an den Rand des Ruins gebracht. Und so lautet das Motto wie schon bei so vielen Krisen zuvor: The show must go on!
Absage brächte IOC an den Rand des Ruins
„Abgesehen von einem Armageddon, das wir nicht sehen oder vorhersehen können, steht die Ampel auf Grün", hatte IOC-Mitglied Dick Pound Anfang Juni gesagt. Doch die Herausforderungen sind enorm, und das Risiko eines Fiaskos nicht gerade klein. Wenn rund 11.000 Athletinnen und Athleten aus 200 Nationen zusammenkommen und vor Zuschauern sportliche Wettkämpfe austragen, dann besteht die Gefahr eines Superspreader-Events. Es wäre „eine große Tragödie und auch noch in 100 Jahren Ziel der Kritik", meinte Japans Ärztechef Naoto Ueyama, wenn die ausländischen Gäste Virusvarianten aus aller Welt importieren würden, die sich dann zu neuen Mutanten vermischen und global reexportiert werden.
Der Druck auf das IOC und die Gastgeberstadt ist groß. Deshalb verkneifen sich die Macher im Vorfeld die sonst immer gepflegte Ankündigung, man werde die „besten Spiele aller Zeiten" erleben. Stattdessen sagt IOC-Boss Bach: „Wir wollen diese Spiele sicher und erfolgreich machen." Viel mehr ist nicht drin. Die Hoffnung, die Regierungschef Yoshihide Suga, der im Januar noch davon ausging, die Tokio-Spiele würden den Beweis liefern, „dass die Menschheit das Coronavirus besiegt hat" – sie wird sich nicht erfüllen. Dafür sind die Regeln viel zu streng, die Maßnahmen viel zu hart, die Ablehnung in der japanischen Bevölkerung noch immer viel zu groß.
Zumindest war der ausgerufene Corona-Notstand 36 Tage vor der Eröffnungsfeier beendet, was die Situation für die Veranstalter deutlich erleichterte. Denn damit schien das Horror-Szenario von „Geisterspielen" abgewendet. Geplant war, dass bis zu 5.000 einheimische Zuschauer in die Arenen dürfen. Die Beschränkungen könnten sogar „weiter gelockert" werden, „wenn keine Probleme auftreten". Ausländischen Sportfans wird der Zugang jedoch verwehrt. Damit will Japan verhindern, dass massenhaft Touristen einreisen, die eben nicht so leicht zu kontrollieren sind wie zum Beispiel die Athleten.
Biontech und Pfizer spenden Impfdosen
Die Sportler müssen sich auf massive Einschränkungen gefasst machen. Das Corona-Regelbuch („Playbook") beinhaltet viele Vorschriften – inklusive der Androhung harter Strafen bis hin zum Entzug des Startrechts, Disqualifikation und Ausweisung aus dem Land. Die Olympia-Teilnehmer werden täglich auf das Coronavirus getestet und sollen sich abseits des Trainings und des Wettkampfs möglichst isolieren. Sightseeing, zu anderen Wettkämpfen gehen oder sich einfach mal „unters Volk mischen" – fast unmöglich. Kontakte zur japanischen Bevölkerung sind ausdrücklich untersagt, genau wie die Benutzung anderer Verkehrsmittel als den offiziellen Shuttles. Als „Dein Wegweiser zu sicheren und erfolgreichen Spielen" stellte das IOC das Playbook den Sportlern vor, und denen ist nach dem Lesen klar: Für den Traum von Olympia müssen viele Freiheiten aufgegeben werden.
Einen Vorgeschmack hatte Patrick Hausding schon bei der Olympia-Qualifikation der Wasserspringer in Tokio Anfang Mai erhalten. „Das ist eine ganz schöne Einkerkerung", hatte der Rekord-Europameister damals über die strengen Maßnahmen der japanischen Behörden gesagt. Schon am Flughafen mussten etliche Dokumente ausgefüllt, Speichel- und Identitätstests absolviert und Telefonnummern sowie E-Mail-Adressen registriert und verifiziert werden. „Wir durften die Ortungsdienste niemals ausschalten", verriet Hausding, „mit Datenschutz ist hier nicht viel." IOC-Exekutivdirektor Christophe Dubi hält dagegen, dass die Maßnahmen einzig und allein dazu dienen, „die Spiele für alle Teilnehmer und die Menschen in Japan sicher zu machen".
Dafür sollen laut Playbook auch „körperliche Interaktionen mit anderen auf ein Minimum" beschränkt werden. Das olympische Dorf war immer auch ein Ort der Freizügigkeit und körperlichen Anziehungskraft. Deswegen werden seit den Spielen 1988 in Seoul großflächig Kondome an Athleten und Zuschauer verteilt. Das soll in reduzierter Zahl auch dieses Jahr der Fall sein – aber „die verteilten Kondome sind nicht dazu gedacht, im olympischen Dorf benutzt zu werden", wie das Organisationskomitee der französischen Nachrichtenagentur AFP mitteilte. Stattdessen sollen die Kondome in die Heimat mitgenommen und dort verteilt werden, um das Bewusstsein für Geschlechtskrankheiten zu stärken.
Olympia aber steht nicht im Zeichen von HIV, sondern von Corona. Tokios Ärztevereinigung machte monatelang mobil gegen das Mega-Event, es sei „unmöglich, sichere und geschützte Spiele abzuhalten". Man befürchte, dass das Gesundheitssystem des Landes zusammenbrechen könnte, wenn man auch Olympioniken, Trainer, Betreuer, Journalisten und Funktionäre versorgen müsse. Diese Gefahr sieht das IOC nicht – und verweist dabei vor allem auf den Impffortschritt. Auf eine Impfflicht wird zwar bewusst verzichtet, trotzdem geht das IOC davon aus, dass mehr als 80 Prozent der Bewohner im olympischen und später auch im paralympischen Dorf über einen Impfschutz gegen Corona verfügen. Auch bei den anderen Teilnehmern soll die Zahl deutlich über 50 Prozent liegen.
Das deutsche Unternehmen Biontech und der amerikanische Partner Pfizer hatten Impfdosen an das IOC gespendet. Das hilft auch, den rund 100.000 Volunteers, also den freiwilligen Helfern, ein Impfangebot zu unterbreiten. Das war zunächst nicht vorgesehen, weshalb etwa 10.000 freiwillige Helfer aus Angst vor Corona auf einen Einsatz bei Olympia verzichtet haben sollen. „Speziell die Volunteers, die in die Nähe von Sportlern kommen, müssen wie diese behandelt werden", erklärte nun OK-Chef Toshiro Muto.
Vieles wie die Impfthematik war im Vorfeld lange Zeit undurchsichtig, was auch am (sport)-politischen Kalkül der handelnden Personen lag. Hätten der heftig umstrittene Regierungschef Suga oder Tokios Bürgermeisterin Yuriko Koike nach dem Willen des Volkes gehandelt, würden die Spiele nicht stattfinden. Doch beide wissen, dass eine erfolgreiche Durchführung des Events ohne größere Probleme, vielleicht ja sogar mit Euphorie und freudigen Momenten, das Vertrauen in sie als Krisenmanager extrem stärken würde. Dass demnächst Wahlen zum Tokioter Stadtparlament (Juli) und für das japanische Unterhaus (bis Oktober) anstehen, dürfte den Spielen nicht geschadet haben. Im Gegenteil.
Einreiseverbot für Funktionäre gefordert
Und so wird die Sache durchgezogen. Man sei „voll darauf konzentriert, exzellente Spiele zu liefern, die die Welt zusammenbringen werden", sagte IOC-Sprecher Mark Adams. Auch sein Chef Bach betonte, der Ringe-Orden wolle „Teil der Lösung" des Corona-Problems sein. Pathetisch fügte der IOC-Boss hinzu, er sei froh, „dass am Ende dieses dunklen Tunnels" nun „die olympische Flamme ein Licht sein wird". Wenn in 339 Wettbewerben der 33 Sportarten um Medaillen und Plätze gekämpft wird, soll irgendwie auch das Coronavirus besiegt werden. So zumindest lautet der kühne Plan.
Japans Bevölkerung scheint dem zumindest eine Chance zu geben. Nach einer jüngsten Umfrage des öffentlich-rechtlichen Senders NHK lag die Zustimmung der Austragung unter bestimmten Bedingungen immerhin bei 64 Prozent. Klar ist aber auch, dass es zu Protesten gegen die Austragung kommen wird. Schon bei der Einreise von IOC-Vizepräsident John Coates nach Tokio hatten rund drei Dutzend Menschen mit Plakaten und Sprechchören demonstriert. Ähnliches ist für die am 12. Juli geplante Anreise von Bach zu befürchten. Bach will vor Ort vor dem Startschuss noch die finalen Koordinierungsmaßnahmen betreuen – und natürlich weiter Stimmung für die Spiele machen.
Wenn es nach Yukio Edano geht, würde es dazu aber gar nicht kommen. Japans Oppositionsführer hat Bachs Ausschluss von Olympia gefordert, weil dieser für die Austragung verzichtbar sei. „Wir sollten niemand anderes nach Japan lassen als jene, die absolut essenziell für die Spiele sind", sagte der Vorsitzende der Konstitutionell-Demokratischen Partei (KDP) Japans. „Bach und andere VIPs" sollten der Veranstaltung lieber fernbleiben.
Schon allein daran sieht man, wie fragil das Gebilde ist, auf dem die Olympischen Sommerspiele in Tokio stehen. Vieles wäre einfacher, wenn die Teilnehmer die Superkraft hätten, die dem Olympia-Maskottchen Miraitowa zugesprochen wird: Es kann sich superschnell von Ort zu Ort teleportieren.