Nahrungsmittel, Medikament, Biosprit: Algen können einen wichtigen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten. Die Forschung dazu läuft auf Hochtouren.
Die Zuchtanlage sieht aus wie ein Hallenbad, in das man lieber nicht hineinspringen möchte: 18 Becken, gefüllt mit 30 Grad warmem, schleimig-grünem Wasser, auf dem sich Blasen bilden. Die Luft ist so feucht wie in den Tropen; die Angestellten, die hier arbeiten, laufen selbst im tiefsten Winter mit T-Shirts umher. In diesem Gewächshaus, gelegen im niedersächsischen Rockstedt, entwickelt sich ein zukunftsträchtiges Produkt. Davon jedenfalls sind die Inhaber der Anlage überzeugt.
„In Mikroalgen ist alles Gute aus dem Meer drin", schwärmt Johannes Heins, der sich seit 2016 mit deren Aufzucht beschäftigt. Der 50-Jährige ist eigentlich Landwirt; in den Ställen neben dem Gewächshaus tummeln sich 1.000 Mastschweine und 1.600 Legehennen. „Wir waren schon länger auf der Suche nach einem alternativen Standbein", sagt Heins, weshalb er zusammen mit seinem Sohn Maarten (24) die Wasserbecken gebaut hat. In ihnen gedeihen Cyanobakterien namens Spirulina, besser bekannt als Blaualgen.
Zweimal pro Woche ernten die Männer ihre Spirulina, um sie danach zu trocknen und zu pressen. Im Anschluss verkaufen sie das Produkt an die Nahrungsmittelindustrie, die daraus Flakes, Pulver oder auch Tierfutter herstellt. „Schmeckt etwas fischig", sagt Maarten Heins und lacht. „Aber es entgiftet und entschlackt." Wissenschaftlich bewiesen ist das nicht, doch der Run auf sogenannte Superfoods, die gesundheitsfördernde Fähigkeiten haben sollen, ist ungebrochen. Auch Algen erfreuen sich – im Smoothie gemischt oder im Zitronenkuchen verrührt – zunehmender Beliebtheit. Vorsorglich haben die Landwirte ein paar Rezepte auf ihre Website gestellt.
Die Alge als Multitalent
Trotz aller Euphorie bilden Zuchtanlagen wie in Rockstedt aber noch immer die Ausnahme. „Selbst Öko-Banken waren skeptisch, als ich nach einem Kredit gefragt habe", sagt Johannes Heins. „Die wussten, dass ich mich mit Schweinen auskenne. Aber so was? Damit konnten die Bänker nichts anfangen." Am Ende schaffte es der Landwirt trotzdem, seine Hausbank zu überzeugen. 400.000 Euro hat er nach eigenen Angaben in die Mikroalgen-Produktion gesteckt. Langfristig wollen die Bauern ihre Spirulina selbst vermarkten, um unabhängig von den Abnehmern zu werden. „Theoretisch könnte man sich nur von diesen Algen ernähren", sagt Maarten Heins, rudert dann aber wieder zurück: „Zumindest Mangelernährung kann man gut damit ausgleichen."
Dabei sind Smoothies und Hunde-Leckerlis längst nicht die einzige Anwendungsmöglichkeit für Algen. Während sie in Asien schon lange auf dem menschlichen Speiseplan stehen, gelten sie in westlichen Ländern oft noch als exotisch oder lästig, wie der Grünspan im Aquarium, den es zu entfernen gilt.
Unter Wissenschaftlern und in der Privatwirtschaft hat sich aber inzwischen eine andere Erkenntnis durchgesetzt: die Alge als Multitalent. Oder, je nach Sichtweise, als mögliche Goldgrube. Weltweit wird in Laboren daran geforscht, wie man Mikroalgen in Kosmetik oder Medizin verwandeln kann. Ein neues Krebsmedikament auf Algenbasis? In Zukunft durchaus denkbar. Biologisch abbaubare Verpackungen aus Algen? Sind schon auf dem Markt.
Die grünen Lebewesen enthalten nicht nur Mineralien und Vitamine, sondern auch Fette und Kohlenhydrate, weshalb sie als Grundlage für künftige Biokraftstoffe infrage kommen. Zum Beispiel in der Luftfahrtindustrie: Ab 2030, so will es die Bundesregierung, gilt in Deutschland eine branchenweite Beimischquote von zwei Prozent. Wenn der Biosprit nicht aus Lebensmitteln wie Soja oder Mais stammen soll, braucht es andere Lösungen. Algen bieten hier augenscheinlich viele Vorteile, weil sie ohnehin im Meer wachsen, der Landwirtschaft also keine Anbauflächen wegnehmen. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht: Längst nicht jede Alge lässt sich für jeden Zweck einsetzen. Und nicht alle Arten gedeihen so prächtig wie die lästigen Exemplare im heimischen Aquarium.
Für dieses Problem haben Forschende der University of Southern California nun möglicherweise eine Lösung entwickelt. Mithilfe eines „Seetang-Aufzugs" ist es ihnen gelungen, die größte bekannte Algenart viermal schneller wachsen zu lassen als gewöhnlich. Das schildern sie in der Fachzeitschrift „Renewable and Sustainable Energy Reviews". Der „Aufzug" sorgt dafür, dass die Algen sich stets wohlfühlen: Tagsüber können sie an der Meeresoberfläche das Sonnenlicht optimal zur Photosynthese nutzen. Nachts hingegen fährt sie das Gestell in bis zu 80 Meter Tiefe, weil dort die Nährstoffkonzentration höher ist. Getestet wurde das Verfahren bereits in der Praxis: in den Gewässern der kalifornischen Insel Catalina Island, südlich von Los Angeles.
Beim ersten Versuch war der „Aufzug" noch eine verankerte Boje, an der der Seetang heruntergelassen wurde. Doch schon bald soll das Verfahren mithilfe einer Drohne deutlich professioneller ablaufen. „Wenn wir es mit dem Klimaschutz ernst nehmen, können wir sehr schnell mit der massenhaften Zucht beginnen", sagt Cindy Wilcox, Co-Vorsitzende der US-amerikanischen Firma Marine Bio-Energy Inc., die den Prototypen des Seetang-Aufzugs entwickelt und gebaut hat. „Im Prinzip kann unsere Technologie in allen Weltmeeren genutzt werden", sagt Wilcox. „Außer im Mittelmeer. Da ist die Nährstoffkonzentration zu gering."
„Wir denken, dass unsere Vision Funktioniert"
Laut Marine Bio-Energy hat die US-Regierung das Pilotprojekt mit 2,1 Millionen Dollar bezuschusst. „Wir hoffen, dass sich das Budget in der nächsten Phase verdoppelt", sagt Wilcox. Denn trotz der anfänglichen Erfolge gibt es durchaus offene Fragen: Welche Algen gedeihen in welcher Region am besten? Wie beeinflussen Meeresströmungen ihr Wachstum? Was passiert, wenn sich herrenlose Fischernetze oder Plastikmüll in der Anlage verfangen? „Wir wollen keine falschen Hoffnungen wecken", sagt Wilcox. „Aber wir denken, dass unsere Vision funktioniert."
In Deutschland ist Peter Kroth zurückhaltender. Der Biologie-Professor der Universität Konstanz forscht seit Jahren an Algen. Das Seetang-Experiment in Kalifornien hat ihn positiv überrascht: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Nährstoffaufnahme im Dunkeln so gut funktioniert", gesteht Kroth. Doch er sieht ein anderes Problem: „Wenn man das im Küstenbereich macht, greift man sehr intensiv in die Natur ein." Würde man hingegen bestehende Seetang-Felder abernten, könne das diese schnell dezimieren. „Wir dürfen nicht vergessen, dass in diesen Kelp-Feldern sehr viele Tiere leben", bemerkt der Wissenschaftler.
Dennoch sieht er langfristig ein großes Potenzial. Ob als Biosprit, Nahrung oder sogar als Grundlage für Impfstoffe: Wenn genügend Geld für die Forschung zur Verfügung steht – da ist er sich mit seinen amerikanischen Kollegen einig –, könne noch viel bewirkt werden. Und Mikroalgen als Nahrungsergänzung? Kroth winkt ab. „Es gibt bis heute keine ernsthaften Hinweise, dass das gesund ist", sagt der Biologe. „Jedenfalls auch nicht gesünder als ein Salat."