Dank Tik-Tok hat sich die Generation Z neue Internetkulturen erschaffen, wo die E-Girls derzeit noch vor Soft- und Vsco-Girls die Nase vorn haben. Auch vor den Boys hat das Phänomen nicht haltgemacht.
Ob Hedi Slimane da wohl was gänzlich falsch verstanden hatte? Der Chefdesigner von Celine ist schon immer dafür bekannt, sich seine Inspirationen am liebsten von jugendlichen Subkulturen wie Grunge oder Indie-Rock zu holen. Doch diesen Sommer hat er tatsächlich den Versuch unternommen, eine bislang ausschließlich im Internet verbreitete Teenie-Bewegung auf den Laufsteg zu bringen und sie dadurch aus der Welt der sozialen Medien mit Tik-Tok an der Spitze in die Alltagsmode zu transportieren. Das hat in Teilen der Generation Z für reichlich Irritation gesorgt. Die bekennt sich im Web in strikter Abgrenzung zu den gänzlich anders orientierten Soft- oder Vsco-Girls stolz zu den vorwiegend ästhetischen Idealen eines E-Girls oder auch E-Boys.
Punk, Anime-Ästhetik und sexy Lolita-Optik
Mit seiner Damen-Sommerkollektion 2021 dürfte Slimane endgültig die letzte treue Celine-Kundin des Pariser Traditionshauses aus vergangenen Phoebe-Philo-Zeiten vertrieben haben. Denn mit eleganter Fashion für die erwachsene Frau hat seine Mode, die den Look der E-Girls nachahmt, nichts mehr zu tun. Ob es tatsächlich eine Nachfrage nach einer Luxus-Variante des vor allem in den diversen Tik-Tok-Videos präsentierten E-Girl-Stils geben kann, bleibt abzuwarten. Die jugendlichen Anhängerinnen der Bewegung scheint Slimane auch nicht als kaufende Zielgruppe im Blick zu haben. Dafür wirkt seine Interpretation des E-Girl-Looks doch etwas zu glatt gebügelt: Anklänge aus Punk, Goth, Anime-Ästhetik oder sexy-angehauchte Lolita-Optik sind kaum zu erkennen. Die Kollektion lebt im Wesentlichen von überraschenden Klamotten-Kombinationen, beispielsweise Mom-Jeans zu Ballerinas, Flanell-Shirts zu Pailletten-Kleidern, Midi-Kleider zu Wellington-Boots, Radler-Shorts zu Socken in Sandalen, Anoraks zu Midi-Röcken, Baseball-Capes zu Tube-Minidresses oder Hemdblusenkleider zu Hoodies.
Das typische E-Girl dürfte sich in dieser Garderobe kaum wiedererkennen. Ähnlich zwiespältige Gefühle dürfte Slimane bei den E-Boys mit seiner Menswear-Sommerkollektion 2021 hervorrufen. Auch wenn der Designer hier wohl dank der Zusammenarbeit mit dem Tik-Tok-Star Noen Eubanks stilistisch deutlich näher an die Web-Originale heranreicht und mit seiner „The Dancing Kid" titulierten Präsentation einen Skater-Look mit femininen Accessoires wie kleinen Taschen, Wollmützen, Ohrringen und Ketten bietet. Einige Male-Models, deren Klamotten größtenteils einen wilden Mustermix von Leo auf Streifen oder Karos auf Sternchen beziehungsweise Streifen aufwiesen, hatten auch lackierte Fingernägel oder bunt gefärbte Haare vorgeführt.
Das E-Girl ist eigentlich keine Erfindung der Tik-Tok-App. Auch wenn die Teenies inzwischen das Videoportal zu ihrer ganz speziellen Plattform auserkoren haben. Das „E" steht als Abkürzung für „Electronic". Der Begriff des „elektronischen Mädchens" tauchte erstmals um das Jahr 2010 zur Bezeichnung von jungen Frauen auf, die ständig online unterwegs waren, vor allem in Sachen Gaming, Cosplay oder Animes. Anfangs war der Begriff E-Girl noch stark negativ aufgeladen, weil jugendliche männliche Gamer ihren gleichaltrigen weiblichen Pendants damit die Fähigkeit zu herausragenden Computerspielleistungen schlichtweg abgesprochen hatten. Das auf englische Slangausdrücke spezialisierte Online-Wörterbuch „Urban Dictionary" verwies darauf, dass unter Jugendlichen noch 2014 sogar die Beleidigung als „Internet-Schlampe" gebräuchlich war: „Ein Mädchen, das mit vielen Typen online flirtet, ihre Welt dreht sich darum, möglichst viel Aufmerksamkeit von professionellen Gamern zu bekommen." Doch inzwischen ist die negative Konnotation von E-Girl komplett verschwunden, nicht zuletzt dank Tik-Tok-Videoaufrufen im Milliardenbereich unter dem Hashtag #egirl. Dort können viele Mädchen eine reale Version ihrer Lieblingsfigur aus einem persönlich bevorzugten Cosplay darstellen. Für den perfekten E-Girl-Look stehen längst vielfältige Web-Anleitungen als praktische Hilfen zur Verfügung. So wird großer Wert auf bestimmte Erkennungsmerkmale gelegt, wodurch die für Teenager typische ästhetische Unsicherheit im Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenendasein überwunden werden kann.
Zerissene Jeans, Band-T-Shirts und Netzstrümpfe
Der typische Look eines E-Girls speist sich aus verschiedensten Quellen vornehmlich aus den Nuller- oder 1990er-Jahren. Wobei sie keinerlei Respekt auf aus ihrer Sicht veralteten Kleiderregeln nehmen und auf keinen Fall als braver Teenie next door rüberkommen möchten. Der wilde Stil-Mix bedient sich ebenso aus dem Emo-Punk der 2000er-Jahre wie von Düsterheiten aus der Goth-Szene. Anleihen à la Hello Kitty finden ebenso Platz wie Inspirationen aus K-Pop, japanischen Animes oder dem Goth-Lolita-Style mancher Harajuku-Girls, der im Westen durch Gwen Stefani bekannt gemacht wurde. Angesichts des daraus resultierenden großen Facettenreichtums der Klamotten ist es nicht ganz einfach, einen exakten Signature-Look der E-Girls zu skizzieren. Zumal manche Girls ihre Weiblichkeit „bis an die Grenzen des Fetischs" strapazieren, wie die „Welt" in einer Stil-Kolumne festgestellt hatte. Etwa „wenn sie Schulmädchenuniform tragen, mit Babystimme sprechen, sich mit Halsbändern oder in Lolita-Optik inszenieren". Die „Vogue" beschwor diesbezüglich das Bild einer „Femme Fatale aus dem Kinderzimmer" herauf.
Zu den Klamotten- und Accessoires-Standards zählen jedenfalls zerrissene Jeans, Band-T-Shirts über Langarmshirts, Miniröcke, hochtaillierte Hosen, Netzstrümpfe, bunte Crop-Tops, Beanies, Boots, Plateauschuhe, Vans, Doc Martens, Choker und Panzer- oder Hosenketten. Beim Make-up gilt gemeinhin die Devise: je mehr, desto besser. Das betrifft vor allem das Auftragen von Lidschatten und Rouge. Auch die Haare, wahlweise zu zwei hohen Pferdeschwänzen gestylt oder auch als Pony mit Stirnfransen geschnitten, werden häufig tief in den Farbtopf getaucht. Eine gewisse Selbstironie zeigen unterhalb der Augen aufgemalte Sommersprossen beziehungsweise kleine schwarze Herzchen oder Kreuzchen, was die Tik-Tok-Community gleichzeitig als mit Superstar Billie Eilish verbindendes Merkmal erzeugt.
Mit weichgefilterten Instagram-Influencern möchten die E-Girls nichts am Hut haben. Statt inmitten exotischer Traumziele präsentieren sie sich in ihren Videos meist im eigenen Zimmer. Zum alltagstauglichen Kopieren des Stils empfiehlt die „Vogue" karierte Röcke, Crop-Tops, T-Shirts über Longsleeves, Chunky Sneaker oder diverse Ketten-Accessoires. Häufig werden die E-Girls als die moderne Version der sogenannten Scene-Girls der frühen Nullerjahre bezeichnet, weil deren Stil auch nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen war und aus ähnlichen Inspirationsquellen von Emo-Punk bis Hello Kitty erwachsen war. Deutlich einfacher lässt sich der Look der E-Boys charakterisieren: Er ähnelt ziemlich stark dem Style eines Skaters aus den 90er-Jahren, geprägt von Baggie-Pants, Beanie und längeren, ins Gesicht fallenden Haaren. Neu hinzugekommen ist lediglich ein gewisser ins Feminine reichender Touch.
Nicht ganz ernst gemeinte Nachhaltigkeit
Konkurrenz innerhalb der Generation Z haben die E-Girls in den letzten beiden Jahren nicht nur auf Tik-Tok, sondern auch in anderen sozialen Medien durch die Soft-Girls und vor allem durch die Vsco-Girls – ausgesprochen „Visco" – erhalten. Die Soft-Girls, für die es kein männliches Pendant gibt, stellen das krasse Gegenteil zu den E-Girls dar.
Soft-Girls wollen ganz bewusst süß und liebenswert daherkommen, Kuscheltiere inklusive. Sie bevorzugen Pastellfarben und wollen einen kindlichen Look herbeizaubern. Am besten gelingt dies mittels Crop-Top, Tennisrock oder alternativ einem karierten Schulmädchenrock, weißen oder auch schwarzen Sneakers zu weißen oder bunten Socken, auffälligen Haarspangen oder als Armschmuck getragenen Scrunchies. Beim Make-up darf es reichlich Blush und Lipgloss sein, Wolken oder Herzchen als Gesichtsbemalung unterstreichen das Kindhafte ebenso wie der genüssliche Konsum von Lollis. Als Must-have gilt ein Rucksack von Fjällräven Kanken, natürlich nur in Pastellfarben.
Die Vsco-Girls sind nach einer gleichnamigen Bildbearbeitungs-App benannt, deren Filter den Fotos, die selbstverständlich mit hochpreisigen Polaroidkameras eingefangen werden, einen romantischen Retro- und Urlaubscharme verleihen. Das typische Vsco-Girl ist eine Markenfetischistin, gepaart mit einem gewissen, nicht ganz ernst gemeinten Umwelt- und Nachhaltigkeitbewusstsein, was sich im Gebrauch von Metallstrohhalmen oder einer wiederverwendbaren Wasserflasche –
die aber schon von Hydro Flask sein
muss – manifestiert.
Zum Strand in Tube-Tops und Jeans-Shorts geht’s allerdings meist mit einem spritschluckenden Jeep. Schließlich will sich das aus gut situiertem Hause stammende Mädchen – natürlich weiß, schlank und in der Regel blond – seinen Easygoing-Freigeist erhalten. Den Vsco-Girls fehlt es nicht an einer gehörigen Portion Selbstironie. Nur bei den Marken hört der Spaß auf. Die Crop-Tops müssen einfach von Brandy Melville sein, an den Füßen sind nur Birkenstocks, Vans oder Nike Air Forces erlaubt, die Freundschaftsarmbänder müssen von Pura Vida stammen. Selbst bei den Beauty-Produkten gibt es strenge Vorgaben: Kosmetik nur von Mario Badescu und Lip-Balm einzig von Carmex. Und das Apple Airpod darf natürlich nur in einem Fjällräven-Rucksack transportiert werden.