Neue Ansätze und europaübergreifende Politik sind die Ziele der jungen Partei Volt. Die Co-Vorsitzende von Volt in Deutschland, Friederike Schier, über die einzige europäische Partei, die in den Bundestag will, erste Wahlerfolge und den Reiz, von Best Practice in Europa zu profitieren.
Frau Schier, mittlerweile ist die Partei Volt durch Wahlerfolge in den Kommunen, den Niederlanden, aber besonders natürlich durch die Europawahl bekannter geworden. Was hat sich dadurch für Sie geändert? Haben Sie viele neue Mitglieder gewinnen können und fällt Ihnen auf, dass ihr bekannter geworden seid?
Ja, definitiv. Vor allen Dingen der Wahlerfolg in Europa, wo wir ein Mandat erringen konnten, hat uns einen guten Schub gegeben. Die Erfolge bei den vergangenen Kommunalwahlen in Bayern, in Hamburg, in Nordrhein-Westfalen und in Hessen oder die Parlamentswahlen in den Niederlanden haben selbst die politische Berichterstattung überrascht und konnten uns zu neuen Mitgliedern verhelfen. Das steigert alles unsere Bekanntheit, ich würde aber davon ausgehen, dass wir einer großen Personengruppe noch unbekannt sind. Das wollen wir in den Monaten bis zur Bundestagswahl verändern. Ich glaube, dass wir dazu jetzt auch gute Chancen haben, weil wir in unserem Land dringend einen echten Wandel brauchen. Ganz viele Leute wissen nicht mehr, wie es weitergeht, und sind von der Politik während Corona und der Bekämpfung der Pandemie frustriert.
Das heißt, Sie hoffen und arbeiten auf einen Einzug in den Bundestag hin?
Auf jeden Fall. Wir möchten im Bundestag die Stimme der europäischen Einigung vertreten und uns für neue Politik in einem neuen Europa einsetzen. Wir wollen uns für Neuerungen, die wir dringend brauchen, stark machen und die Stagnation, in der sich Deutschland im Moment befindet, beenden. Wir müssen jetzt die Schritte einleiten, dass die Mitgliedsstaaten der EU in Zukunft viel enger und intensiver zusammenarbeiten und dadurch etwas verändern können.
Gemeinsam mit Paul Loeper führen Sie Volt in Deutschland. Wie sind Sie überhaupt zu dieser doch noch recht neuen Partei gekommen?
Eine Begegnung mit Mitgliedern der AfD im Auswärtigen Amt hatte mich so richtig politisiert. Daraufhin habe ich beschlossen, mich ernsthaft für Europa zu engagieren. Nach einem Auslandssemester in Kopenhagen habe ich mich für meine Bachelorarbeit mit der europäischen Unionsbürgerschaft, also der Staatsbürgerschaft für die EU, beschäftigt und nach einer Partei gesucht, die sich genau dafür einsetzt. Dadurch bin ich auf Volt gestoßen und war im Frühsommer 2018 auf dem ersten „Meet & Greet" der Partei in Berlin. Dort hat mich ziemlich begeistert, wie mich die anderen aufgenommen und mir das Gefühl vermittelt haben, dass meine Meinung und meine Stimme zählen. Davor bin ich davon ausgegangen, dass das in einer Partei überhaupt nicht so sein kann. Das hat mich von Volt überzeugt.
Dass man als Neumitglied so schnell wie möglich eingebunden wird, inhaltlich mitarbeiten kann, ist ja auch ein Ziel von Volt, oder?
Ja, genau. Wir wollen integrative und zugängliche Politik machen, die wir in unseren Strukturen abbilden. Wir integrieren Elemente der Bewegungspolitik und binden dadurch Personen vor Ort direkt ein, was in den starren Strukturen anderer etablierter Parteien in Deutschland nicht so leicht möglich ist. Wir dagegen denken wie eine Partei und handeln wie eine Bewegung: Unsere Mitglieder sollen nicht nur das Gefühl haben, dass ihre Stimme gehört wird, sondern ab Tag eins etwas bewegen können. Ich sage immer, flache Hierarchien, starke Strukturen.
Volts Strukturen weichen auch noch in anderen Themenfeldern deutlich von den größeren Parteien in Deutschland ab. Zum Beispiel, dass Volt als eine europaweite Partei funktionieren möchte. Wie wird das umgesetzt?
Um europaweit aktiv und vernetzt zu sein, erledigen wir vieles über unsere interne Arbeitsplattform, die ein bisschen wie Facebook funktioniert. Das heißt, wir sehen und reagieren auf die Postings von Engagierten aller anderen europäischen Chapter, so nennen wir unsere verschiedenen nationalen Einheiten. Außerdem arbeiten wir viel über Videokonferenzen und tauschen uns so permanent über Zoom-Calls, Google Hangouts oder das Telefon aus. So sind wir wirklich intensiv digital vernetzt, auch über die Ländergrenzen hinaus. Außerdem haben wir nicht nur deutsche Generalversammlung, sondern auch digitale europaweite Generalversammlungen. Damals, vor der Pandemie, war es wahnsinnig schön, dass wir uns dazu immer an verschiedenen Orten in Europa zusammenfinden konnten.
Und in welcher Sprache kommunizieren Sie dann miteinander? Englisch?
Genau. Auf der europäischen Ebene kommunizieren und koordinieren wir alles auf Englisch. Innerhalb von Deutschland beziehungsweise den anderen Chaptern sprechen wir natürlich untereinander die Landessprache.
Sie haben jetzt schon Corona angesprochen: Ich nehme an, die Pandemie-Bedingungen machen es gerade für eine so junge Partei nicht einfach, Unterstützer zu finden oder wird das durch die hohe digitale Vernetztheit und Infrastruktur ausgeglichen?
Corona macht unsere Arbeit nicht einfacher. Uns fallen seit Monaten echte Treffen vor Ort weg, was sehr schade ist, da diese natürlich die Strukturen stärken und unsere Arbeit verbessern. Wenn man Personen wirklich persönlich kennt und einen Draht zu ihnen aufgebaut hat, kann man viel besser mit ihnen zusammenarbeiten. Auf der anderen Seite erreichen wir durch die digitalen Möglichkeiten wie Social Media und die digitalen „Meet & Greets" viele Personen, die sich bei uns engagieren möchten. Ich glaube, dass wir den Spagat aktuell schon ganz gut hinbekommen – in den letzten Monaten sind wir stark gewachsen.
Volt hat sich aufgrund des Brexits gegründet und möchte einem europäischen Auseinanderdriften entgegenwirken. Wie sieht für Sie denn eigentlich ein ideales Europa aus?
Es ist unser Ziel, dass wir eines Tages in einer föderalen europäischen Republik leben. Dafür ist es uns enorm wichtig, die Europäische Union mit ihren Institutionen zunächst umfassend zu reformieren. Wir wollen, dass Europa von unten, also von den Bürgerinnen und Bürgern, gestaltet wird. Vielen Menschen ist wahrscheinlich gar nicht genau klar, wie derzeit Entscheidungen auf der europäischen Ebene getroffen werden und genau dort möchten wir ansetzen. Die Union soll handlungsfähiger, transparenter und effizienter gemacht werden, das ist der Kern unserer europaweiten Arbeit. Das Europäische Parlament muss das Zentrum unserer Demokratie in Europa werden. Dafür braucht es das Initiativrecht für neue Gesetze und auch die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament. Außerdem betrachten wir Wahlrechtsanpassungen auf der europäischen Ebene als extrem dringend. 2019 mussten wir in Deutschland, um zur Europawahl zugelassen zu werden, 4.000 Unterschriften sammeln, in Italien waren es 150.000 und in Frankreich müssen wiederum alle Parteien, also auch wir, ihre Wahlzettel selbst finanzieren. Diese Regelungen wollen wir angleichen.
Inwieweit profitiert Volt denn in der inhaltlichen politischen Arbeit davon, europaweit gut vernetzt aktiv zu sein?
Uns geht es immer um den Blick über den eigenen politischen Tellerrand hinaus. Wir schauen uns an, was in anderen europäischen Ländern funktioniert, beispielsweise die guten Radwege in Kopenhagen, und entwickeln Konzepte, wie wir das auch in anderen Ländern adaptieren können. Solche gelungenen Politikbeispiele aus anderen Nationen nennen wir Best Practices". Dazu muss man sich natürlich anschauen, in welchem Rahmen und in welchem Maß es jeweils möglich ist, sie zu adaptieren. Wenn wir uns zum Beispiel anschauen, wie die Digitalisierung in Estland funktioniert, sind wir uns dessen bewusst, dass die estnische Bevölkerung eine ganz andere Struktur und Größe als die deutsche hat. Will man eine Best Practice übernehmen, muss man sich zunächst auf die Suche nach cleveren Lösungen begeben.
Nun haben Sie mit Volt in Deutschland, zum Beispiel in Hessen, einige Wahlerfolge auf der kommunalen Ebene erzielt. Wie geht es jetzt weiter und ist Volt auf die Bundestagswahl vorbereitet? Welche Themen stehen dabei für Sie im Vordergrund?
Seit dem 18. April sind wir in allen Bundesländern mit Landesverbänden vertreten, haben in einem zweimonatigen Prozess alle Parteitage zur Listenaufstellung hinter uns gebracht und unser Bundestagswahlprogramm beschlossen. Davon würde ich gern drei Bereiche hervorheben: Natürlich setzen wir uns auch auf nationaler Ebene für ein starkes Europa ein, also die Stärkung der europäischen Demokratie und der europäischen Zusammenarbeit. Das betrifft zum Beispiel die Migrations- und Asylpolitik, die Klimadiplomatie oder auch unser Ziel einer intensiveren Bürgerbeteiligung in Europa. In Sachen Klimaneutralität steht für uns im Fokus, wie wir es schaffen, einen Finanz- und Wirtschaftssektor zu gestalten, der alle Chancen hin zu einer ökologischen Wende ergreift und wie es uns gelingt, gesellschaftlich eine sozialliberale Transformation hin zur Klimaneutralität bis 2040 in Gang zu setzen. Und auch in der Bildungspolitik setzen wir uns für einen flächendeckenden Neustart ein.
Wie sieht denn die Mitgliederstruktur bei Volt Deutschland aus? Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass Sie primär die urbane und junge Bildungsklientel mit ihren Forderungen ansprechen.
Mittlerweile haben wir innerparteilich ein Gleichberechtigungsteam aufgebaut, um ein besseres Bewusstsein dafür zu schaffen, an welchen Stellen wir die Gesellschaft wie repräsentieren und wo wir uns noch mehr einsetzen müssen. Wir haben erstaunlich viele Mitglieder, die um die 60, 70 Jahre alt sind und ein gutes Gleichgewicht zu den vielen jungen Menschen in unserer Partei darstellen. Unter dem Strich liegt unser Altersdurchschnitt damit bei ungefähr 35 Jahren. Uns ist auf jeden Fall bewusst, dass wir gerade auch BPoC, also nicht weiße Menschen und Personen mit Migrationsgeschichte intensiver ansprechen müssen. Glücklicherweise funktioniert das in einigen lokalen Teams, wie in Frankfurt am Main, schon ziemlich gut. Gleichzeitig wollen wir über unsere Themen auch im ländlichen Raum überzeugen. Gerade über den Bereich Nachhaltigkeit, also bei Themen wie Mobilität und Agrarpolitik, sehen wir da Chancen.
Wie würden Sie Volt eigentlich auf dem klassischen politischen Spektrum abseits des Europathemas einordnen? Links, liberal oder ökologisch?
Wir sind in erster Linie die Partei der europäischen Einigung. Darüber hinaus verstehen wir uns eigentlich als Querschnittspartei mit den besten und pragmatischsten Elementen progressiver Politik. Wir wollen eine neue Art der Politik, die nicht ideologisch denkt, sondern Zukunftsentscheidungen auf Basis praktischer Erfahrungen und wissenschaftlicher Fakten trifft.