Die Ukraine hat sich mit der Pipeline Nord Stream 2 zähneknirschend abgefunden
Die Ukraine befindet sich in keiner beneidenswerten Lage. Im Osten des Landes herrscht Dauerkrieg auf kleiner Flamme – Moskau munitioniert die prorussischen Rebellen im Donbass militärisch und politisch. Mehr als 13.000 Menschen wurden nach Schätzungen der Vereinten Nationen seit Ausbruch des Konflikts getötet. International hängt die Regierung in Kiew quasi in der Luft. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die bisher als treue Verbündete galt, ist nur noch wenige Monate im Amt. Frankreich wählt im nächsten Jahr einen neuen Präsidenten, Ausgang ungewiss. Und im Weißen Haus sitzt Joe Biden, über dessen Positionierung man in Kiew noch rätselt.
Angesichts so vieler Fragezeichen ist es zu begrüßen, dass sich in der Ukraine offenbar ein neuer Realismus breitmacht. Die Regierung hat sich von der Illusion verabschiedet, das deutsch-russische Pipeline-Projekt Nord Stream 2 doch noch verhindern zu können. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte zwar bei einer Pressekonferenz mit Kanzlerin Merkel am Montagabend in Berlin: „Nord Stream 2 ist eine potenzielle Bedrohung für die Sicherheit der Ukraine."
Aber das sind eher taktische Konfrontations-Szenarien, um den politischen Preis für eine Unterstützung des Westens nach oben zu treiben. Denn hinter den Kulissen herrscht Ernüchterung. „Aus unserer Sicht sieht es so aus, dass alles schon gelaufen ist", heißt es aus hochrangigen Regierungskreisen in Kiew. Man rechne damit, dass das Röhrensystem in wenigen Monaten ans Netz gehe. Eine Initiative beim Bundeswirtschaftsministerium, Nord Stream 2 rechtlich zu verhindern, sei gescheitert. „Uns wurde klar gemacht, dass es hierfür keine rechtliche Grundlage gibt", betonten Regierungsbeamte in Kiew.
Zuvor hatte Kiew die Hoffnung, dass in dieser Frage ein Hebel gegen Moskau vorliege. Sowohl CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet als auch Außenminister Heiko Maas (SPD) hatten die Option in den Raum gestellt, die Bundesregierung könnte Gaslieferungen durch Nord Stream 2 auf Eis legen, sollte Russland Druck auf die Ukraine ausüben.
Die ukrainische Regierung sieht sich durch Nord Stream 2 erpressbar. Sollte der Kreml bei Gaslieferungen, die bisher über die Ukraine in EU-Länder führen, den Hahn abdrehen, gingen Kiew bis zu drei Milliarden Dollar pro Jahr an Transitgebühren verloren.
Zwar ist die Interpretation der Kanzlerin, wonach es sich bei Nord Stream 2 um ein „rein wirtschaftliches" Vorhaben handele, zweifelhaft. Nach der Krim-Annexion durch Moskau im Jahr 2014 hat jedes größere Gasgeschäft mit Russland auch eine politische Komponente. Doch nun ist die hoch umstrittene Pipeline fast fertiggestellt, die Genehmigungen sind erteilt. Ein rechtliches Stoppsignal wäre mit vielen Milliarden Euro Entschädigungszahlungen verbunden. Nicht nur an beteiligte europäische Unternehmen – darunter die deutschen Firmen Wintershall und Uniper –, sondern auch an den russischen Energiekonzern Gazprom.
Merkel will Kiew jedoch in der Frage der Gasdurchleitungen aus Russland zur Seite springen. Bei der Pressekonferenz mit Selenskyj bekräftigte sie: „Für uns ist und bleibt die Ukraine Transitland, auch wenn Nord Stream 2 fertiggestellt werden soll." Der Transit gehöre zum „ganzen Gas-Portfolio". Man werde sich zudem dafür engagieren, dass der Vertrag über die Gaslieferung zwischen Gazprom (Russland) und Naftogaz (Ukraine) über 2024 hinaus verlängert werde, hieß es aus Regierungskreisen.
In Kiew weiß man das alles. Die Regierung hat zudem auf ihrer Rechnung, dass Gas eine fossile Brückentechnologie mit Verfallsdatum ist. Zwar will sie die vorhandenen Pipelines noch einige Jahre nutzen. Doch mittel- und langfristig ist es sinnvoll, sich bereits heute um die Energieproduktion mit alternativen Quellen wie grünem Wasserstoff zu kümmern. Das tut die Ukraine. Sie hofft auf die Investitionen deutscher Betriebe. Die Regierung in Kiew hat die politische und wirtschaftliche Rückendeckung durch Deutschland verdient.
Diese Schritte sind machbar und naheliegend. Das Langzeit-Ziel der Ukraine, Mitglied der Europäischen Union und der Nato zu werden, ist auf Sicht nicht umsetzbar. Dagegen sollte die im August 2020 grundsätzlich vereinbarte deutsch-ukrainische Energiepartnerschaft mit konkreten Projekten unterfüttert werden.