Die Zusammenstellung des Teams ist eine Kunst für sich. Doch Trainer Stefan Kuntz hat bei der U21 gezeigt, wie schnell er Teams formieren kann. Deshalb darf man auch für das olympische Fußball-Turnier guter Dinge sein.
Wie er seine Jungs motiviert hat, hat Stefan Kuntz nach dem Endspiel der U21-EM verraten. Bei seinem dritten Turnier als Coach hatte der Europameister als Spieler von 1996 zum dritten Mal das Finale erreicht und zum zweiten Mal den Titel geholt. Und das mit einer Mannschaft, der das aufgrund ihrer Besetzung die allerwenigsten zugetraut hätten. Ein „Löwenherz und Adleraugen" habe er von seinen Spielern gefordert, berichtete Kuntz und verwendete noch eine dritte Metapher aus dem Tierreich, die am Tag danach die Schlagzeilen bestimmte: „Und wir müssen eine Hyänenbande sein. Die kann keiner leiden. Aber zum Schluss bekommen sie immer das, was sie wollen."
Das mit dem „keiner leiden" stimmte natürlich in Bezug auf Deutschland nicht. In einer Phase, als sich wegen des A-Teams großer Verdruss bezüglich Fußball-Auswahlmannschaften breitgemacht hatte, eroberten die deutschen Junioren unter Kuntz die Herzen der Fans. Aber – und das meinte der Trainer – nicht durch Zauber-Fußball, sondern durch Elemente, die jedem Gegner wehtun und bei diesem oftmals Ärger statt Bewunderung hervorrufen: kompaktes, diszipliniertes und gerne auch körperliches Agieren. Positiv gesagt: Geschlossenheit und Teamgeist.
„Wir müssen eine Hyänenbande sein"
Das sollen auch die Prunkstücke werden, wenn Deutschland unter Kuntz am olympischen Fußball-Turnier teilnimmt. Doch das wird längst nicht so leicht. Während der Trainer bei der U21 über einen Prozess von zwei Jahren hinweg ein Team aufbauen konnte, war die Auswahl der 18 Spieler für Tokio eine einzige Bastelstunde, die durch vieles erschwert wurde. Grundsätzlich durften alle Spieler gemeldet werden, die ab dem 1. Januar 1997 geboren wurden. Dazu drei ältere Profis, deren Alter egal war. Kuntz Vorgänger Horst Hrubesch wählte 2016 den Freiburger Stürmer Nils Petersen und die kurz darauf auch bei Leverkusen vereinten Defensiv-Zwillinge Sven und Lars Bender aus. Eine gute Wahl, denn 2016 holte Deutschland bei seiner ersten Teilnahme nach 16 Jahren Silber. Im Kader standen damals auch heutige EM-Teilnehmer wie Matthias Ginter, Lukas Klostermann, Niklas Süle, Serge Gnabry oder Leon Goretzka, die das Turnier durchweg als wichtige Erfahrung mit großem Lernwert bezeichneten. Dieses Mal sind Max Kruse, Nadiem Amiri und Maximilian Arnold als erfahrene Spieler dabei.
Einen schlechten Ruf hat Olympia also nicht. Im Gegenteil. Sogar Weltstars wie Brasiliens Neymar oder Frankreichs Kylian Mbappé hinterlegten ihr Interesse an einer Teilnahme in Tokio. Dass Frankreichs Verbandspräsident Noël Le Graët diesen Traum als utopisch bezeichnete, zeigt aber schon die Problematik der ganzen Sache. Genauer gesagt sind es mehrere Problematiken auf einmal.
Da ist zum einen der schwierige Termin vom 22. Juli bis zum 7. August. Die neue Saison beginnt in Europa meist Mitte August, in der Bundesliga zum Beispiel am 13. August. Die erste Runde im DFB-Pokal steigt sogar schon eine Woche vorher. Die betreffenden Spieler kommen also nicht nur belastet und mit Jetlag zurück, sie haben auch die komplette Vorbereitung verpasst. Was dann auch wiederum bei dem ein oder anderen Spieler zu Gewissenskonflikten führt. Denn gerade die jüngeren – und das sind ja die meisten – sind oft nicht Stammspieler in ihren Vereinen. Sie haben bei Olympia zwar eine große Bühne, gerade bei neuen Trainern aber auch nicht die Möglichkeit, sich zu zeigen und Automatismen im Verein einzuspielen. Vor allem aber sehen natürlich die Vereine die Abstellungen skeptisch.
Hinzu kommt als Erschwernis, dass in diesem Jahr gleich mehrere große Turniere stattgefunden haben. Eben die U21-EM, aber auch die „normale" EM und die Copa America. „Zwei Turniere in einem Sommer zu spielen, sehen wir kritisch", sagte Leverkusens Sportdirektor Simon Rolfes. Das war letztlich auch bei Mbappé das Problem. Der hätte an die Saison direkt die EM mit Frankreich angeschlossen, wäre dann zu Olympia und dann direkt in die Saison mit Paris Saint-Germain eingestiegen. Urlaub? Gar keiner.
Das gilt zumindest für die A-Nationalspieler. Und mit seiner Nominierung für die EM hatte Bundestrainer Joachim Löw Kuntz schon einige angedachte Optionen weggenommen. Thomas Müller zum Beispiel, der bei der ursprünglichen Austragung im Vorjahr wohl Interesse gehabt hätte. Oder Mats Hummels, der sogar auf der vorläufigen Liste stand, ehe ihn Löw doch zurückholte. Oder auch Florian Neuhaus.
Die U21-Spieler hätten wegen des früheren Termins zwar etwas Urlaub gehabt, doch da stachen die grundsätzlichen Argumente und vor allem die mit neuen Trainern weiterhin. Was Spieler wie Florian Wirtz aus dem Rennen nahm. Und zu guter Letzt kam noch ein Gentleman Agreement dazu, nach dem von keinem Verein mehr als zwei Spieler berufen werden, damit es in der Vorbereitung auf die Saison nicht zu Ungleichbehandlungen kommt.
Hertha-Geschäftsführer Fredi Bobic hat das Fehlen von Spielern von deutschen Topclubs im Olympia-Kader der deutschen Fußball-Nationalmannschaft dennoch beklagt. „Es ist eigentlich schade. Normalerweise musst du stolz drauf sein, den ein oder anderen wegzuschicken", sagte Bobic bei Magenta TV. „Es muss es uns wert sein, eine gute deutsche Mannschaft da hinzuschicken. Am Ende wollen wir doch alle Erfolg haben. Dann ist es eine Selbstverständlichkeit."
Zuvor hatte bereits Kuntz selbst Kritik an der mangelnden Unterstützung einiger Clubs geäußert. „Die Bereitschaft, das Olympia-Team zu unterstützen, war in der Bundesliga unterschiedlich." All das ist also hochkompliziert. Doch zum einen hatte Kuntz dieses Problem nicht exklusiv, es betraf sogar die meisten seiner 15 Kollegen auch. Und zum anderen hat Hrubesch vor fünf Jahren ja gezeigt, dass es gehen kann, aus einem solch zusammengewürfelten Haufen eine Truppe zu formen, die füreinander durchs Feuer geht. Was natürlich nicht selbstverständlich und immer wieder wiederholbar ist. Hrubesch war schon besonders.
Doch wenn das einer schaffen kann, dann Stefan Kuntz. Diejenigen, die sagten, dass es einen wie Hrubesch nie wieder geben wird, bestätigen längst, dass der Saarländer die großen Fußstapfen so gut füllt, wie es kaum jemand für möglich gehalten hätte. Kuntz ist vielleicht nicht der große Taktiker. Aber er hat ein gutes Team, er ist bereit zu delegieren, er weiß sehr genau, was er kann und was nicht. Und vor allem: Er hat einen unglaublichen Draht zu den Spielern. Weiß, wie man sie anpackt. Wie man sie motiviert oder stärkt oder auch mal an der Ehre packt. Er lässt es menscheln und erzählt Geschichten von seiner Oma, er lacht mit den Spielern, und er lacht vor ihnen auch über sich selbst. So einer hat die wichtigsten Fähigkeiten, die es für einen Trainer in einem solchen Turnier braucht: Er kann aus einer zusammengewürfelten Truppe junger Männer eine echte Mannschaft formen.
Und natürlich besteht das Ganze nicht nur aus Intuition. Schon in der Vorbereitung folgt das Ganze einem genauen Plan. „Die Ärzte empfehlen, möglichst früh zum Akklimatisieren und wegen der Zeitumstellung nach Japan zu reisen", sagte Kuntz und folgte dieser Empfehlung.
In Japan kann er dann früh daran basteln, dass in Sachen Fitness die Grundlagen gelegt sind und sich Automatismen einspielen.
Und der 58-Jährige brennt selbst auch für diese Aufgabe. Natürlich auch nochmal zusätzlich beflügelt durch den Titel-Gewinn bei der U21-EM. „Da bekommst du als Coach so viel zurück, das ist einmalig", sagte er: „Das ist eine andere Form von Freude, mehr für die Seele und fürs Herz."
Dennoch scheint zumindest offen, ob Kuntz nach Olympia beim DFB bleibt. Da die Vorbereitungen eben schon laufen, könnte er dann wohl eh nicht direkt zu einem Verein wechseln, aber er deutete durchaus auch an, sich trotz eines bis 2023 laufenden Vertrages Gedanken zu machen. Die „Bild" hatte berichtet, Kuntz sei verstimmt, weil der DFB bei der Bundestrainer-Suche nicht zumindest ein vereinbartes Gespräch mit ihm geführt habe.
Dazu hat sich Kuntz konkret noch nicht geäußert. Er kündigte an, „meine Gedanken zu ordnen und das Ganze wirken zu lassen. Da geht es auch darum, wie können neue Ziele aussehen?" Dies seien aber „normale Gedanken".
Beim DFB ist man jedenfalls schon aufgeschreckt. Man wisse, „wie sich Dinge entwickeln und sein Marktwert und dass viele Vereine jetzt auch hellhörig sind, mit den ganzen Erfolgen", sagte Joti Chatzialexiou, der sportliche Leiter Nationalmannschaften im Deutschen Fußball-Bund: „Was die Zukunft bringt, werden wir sehen." Man traue Kuntz grundsätzlich „viel mehr zu. Aber ich bin froh, dass er hier ist, wo er ist."
In jedem Fall gilt der Titel auch in Tokio als Ziel. Wie realistisch das ist, wird sich erst nach dem Start zeigen. Doch wie sagte Kuntz schon seiner U21: „Champions gehen ihren Weg bis zum Ende."