Keine Zuschauer, wieder Corona-Notstand. Olympia bereitet den Japanern im Moment keine große Freude. Auch die in Tokio angekommene olympische Flamme vermag keine Begeisterung zu entfachen. Die Organisatoren bleiben standhaft: Japan schafft das.
Düstere Regenwolken hängen über Tokio, passend zur getrübten Stimmung in Japans Olympia-Stadt. Als die olympische Fackel die von Corona geplagte Hauptstadt erreicht, ist von der bei Olympia sonst üblichen Vorfreude und Festtagsstimmung nichts zu spüren. Am Vortag haben Japans Verantwortliche entschieden, wegen der Pandemie die Spiele in der Hauptstadt ohne Zuschauer abzuhalten. Ein historischer Tiefschlag, der für breite Enttäuschung sorgt. Und doch lässt sich Japan nicht unterkriegen: Auch wenn die Flamme auf ihrem Weg durchs Land oftmals von Straßen verbannt werden musste, so habe sie die „schwierige Lage" doch bis zur letzten Etappe in Tokio geschafft, sagt Gouverneurin Yuriko Koike im fast leeren Komazawa Olympia-Park und beschreibt dies als den „Weg der Hoffnung".
Wie hatte sich Japan auf diese Party gefreut! Bis zu 40 Millionen Touristen aus aller Welt erhofften sich die Regierung und die krisengeplagte Wirtschaft des Landes im Olympia-Jahr. Neben zusätzlichen Einnahmen für die Tourismusbranche versprach sich die von vielen bereits abgeschriebene Japan AG einen beträchtlichen Prestigegewinn. Japans größter Werbekonzern Dentsu appellierte an die „patriotische Pflicht", wie die japanische Finanzzeitung „Nikkei" schrieb, und trommelte rund 60 japanische Unternehmen zusammen, die für die Spiele eine gigantische Rekordsumme von mehr als drei Milliarden Dollar für Sponsorenrechte hinblätterten.
Doch dann machte Japan seine Grenzen dicht, ausländische Olympia-Fans wurden ausgeschlossen. Und nun sind nicht einmal einheimische Zuschauer dabei. „Das haben wir nicht erwartet", lamentierte der Chef eines Reiseanbieters in Tokio gegenüber Reportern und sprach das aus, was viele Firmen empfinden. Frustriert über die ständige Verlängerung des Corona-Notstands und das monatelange Zögern der Organisatoren, eine Entscheidung zur wichtigen Zuschauerfrage zu fällen, hielten sich die Sponsoren mit Werbung für die Spiele bislang zurück. Kaum etwas deutet bisher in Tokio auf das große Spektakel hin, das mit dem Fanausschluss nun vollends zu einem sterilen Fernsehschauspiel wird.
Trotz der Verbannung der Zuschauer findet Athletensprecher Max Hartung das Festhalten an Olympia aus Sicht der Sportler richtig. „Ich habe jetzt fünf Jahre trainiert, ich bin froh, wenn ich antreten kann", sagte der Säbelfechter in den „Tagesthemen" der ARD. Diese Rückmeldung habe er auch aus dem deutschen Team erhalten: Die freuen sich, antreten zu können, die wollen Sport machen." Zwei deutsche Medaillenkandidaten freuen sich schon auf Tokio. „Diese Unterstützung wird uns Athleten fehlen, aber wir werden das Beste daraus machen und uns gegenseitig anfeuern. Der Sportsgeist bleibt ungebrochen", sagte Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo. Speerwerfer Johannes Vetter – Top-Favorit auf Gold (siehe Seite 8) – betonte allerdings bei Sport1: „Olympia ohne wenigstens ein paar Zuschauer ist verdammt schade. Beim Allvater Fußball zeigt sich wieder, dass da andere Gesetze gelten."
„Beim Allvater Fußball zeigt sich, dass da andere Gesetze gelten"
Andere haben nach dem Ausschluss aller Zuschauer keine große Motivation, anzutreten. Der australische Tennisstar Nick Kyrgios etwa hat seine Olympia-Teilnahme abgesagt. Der 26-Jährige erklärte seine Entscheidung auf sozialen Netzwerken zum einen mit einer Verletzung, die er sich in Wimbledon zugezogen hatte, vor allem aber mit den leeren Rängen in Japan. „Es war mein Traum, Australien bei den Olympischen Spielen zu vertreten, und ich weiß, dass ich diese Chance vielleicht nie mehr bekommen werde", schrieb Kyrgios in einer Mitteilung. „Aber ich kenne mich auch selbst. Der Gedanke, vor einem leeren Stadion zu spielen, gefällt mir einfach nicht. Das hat er nie." Auch der kanadische Weltklasse-Tennisprofi Denis Shapovalov hat seinen Verzicht auf die Olympischen Spiele mit den großen Einschränkungen in Tokio wegen der Corona-Pandemie begründet. Und auch Wimbledon-Sieger Novak Djokovic überdenkt gerade seine Teilnahme in Tokio.
Enttäuschung kommt auch bei den Zehntausenden freiwilligen Helfern auf, die einen enormen Aufwand betreiben mussten, um sich zu bewerben und sich dann monatelang auf ihre Rolle vorbereitet haben. Der Staat hatte gehofft, dass die Spiele zu einem stärkeren Zusammenhalt in Japans traditionell gruppenorientierter, aber rasant alternder Gesellschaft beitragen würde, in der immer mehr Menschen allein leben. Zudem freuten sich die Freiwilligen, Leute zu treffen, die man in Japans festgefahrenen Strukturen sonst nicht kennenlernt. Man wolle aber Anpassungen am Einsatzplan vornehmen, sodass alle Volunteers mitmachen können, sagte der Geschäftsführer des Organisationskomitees, Toshiro Muto
Was bleibt also noch für Japan? Die Hoffnung, dass die Spiele trotz aller Befürchtungen und Warnungen doch nicht zu einem Superspreader-Event werden. „Wenn es klappt, hätte das ausgesprochen viele positive Effekte für Japan", sagt Martin Schulz, Chefökonom beim Technologiekonzern Fujitsu in Tokio. Nach all den jahrelangen Zweifeln am rasant ergrauenden Japan könne das Land der Welt dann erneut zeigen, wie widerstandsfähig es ist. Wie häufig in Krisensituationen. Sei es die Katastrophe von Fukushima, als das Land erstaunlich schnell die Infrastruktur wieder aufgebaut habe. Oder die weltweite Finanzkrise von 2008, die Japans Banken und Industrie ohne nennenswerte Pleiten und ohne hohe Arbeitslosigkeit überstanden.
Und so plant das konservativ regierte Japan denn auch die Inszenierung des ganz großen Triumphs: Japan, und nicht der Rivale China als Gastgeber der Winterspiele 2022, hat das Virus besiegt. Hat mit sturer Durchhaltekraft, Disziplin und Widerstandsfähigkeit geschafft, was viele anzweifelten. Dieses Gefühl von Stolz und Nationalismus spielt denn auch eine wichtige Rolle, warum Japans Organisatoren trotz aller Widerstände auch im eigenen Volk an der Austragung festhalten.
Die Pandemie stelle für die ganze Welt eine enorme Herausforderung dar, sagte Japans Organisationschefin Seiko Hashimoto nach dem Ausschluss von Zuschauern. Dass Japan es schaffe, in dieser Situation die Spiele auszurichten, könne ein „großartiges Erbe" sein. Die Frage sei jetzt, wie positiv die „digitalen Spiele" in Tokio ablaufen werden, meint Ökonom Schulz. Werde es ein Erfolg, habe Japan zwar kein großes Geld verdient. Es habe aber dann gezeigt, was in Japan technologisch möglich sei. Japan würde seinen Ruf als „sicheres" Land in Asien, das auch unter schwierigsten Bedingungen seine Pläne und Versprechungen erfüllt, weiter stärken, ist Schulz überzeugt. In einer zunehmend unsicheren Welt sei das „Gold" wert.