Lieselott Beschorner blickt auf 70 Jahre künstlerisches Schaffen zurück. Die 93-Jährige gehörte als eine der ersten Frauen zur renommierten Wiener Secession und denkt nicht ans Aufhören.
Ich bin ein Recycle-Mensch", sagt Lieselott Beschorner. Die 93-jährige Künstlerin sitzt in einem Korbsessel auf der Veranda ihres Hauses in Wien und blickt auf eine Wand, eine Art Installation, die über und über mit alten Gerätschaften behängt ist: Verrostete Schlüssel, Drahtmasken, Bilderrahmen, Brennscheren, mit denen einst Locken in die Haare gedreht wurden, Waffelformen und Sicheln.
Ihr Schaffen hat eine große Breite: Tonköpfe, Puppen, Collagen, Textilfiguren, Zeichnungen. „Alles entsteht aus Material, das ich kriege", sagt die kleine Frau mit Schirmmütze über dem kurzen weißen Haar und den dick gerahmten Brillen. Löschpapier etwa regte sie zu Schichtenbildern an. Bienenwachsobjekte entstanden, als sie in einer Kommode Stricknadeln fand und diese dann mit Wachskugeln verband. Ihre Tonfiguren ergaben sich aus der spielerischen Herstellung von Puppen, weil einer Cousine Wollstoffreste übrig geblieben waren. Ihr Leben lang hat Beschorner Dinge gesammelt, um sie zu bearbeiten: Werkzeuge bewahrte sie vor dem Mistplatz, altes Geschirr fischte sie bei Wanderungen aus Bächen.
Als eine der ersten Frauen wurde Lieselott Beschorner 1951 Mitglied der Wiener Secession. Kürzlich wurde die „Albertina modern", die zeitgenössische Abteilung der Albertina im Wiener Künstlerhaus, eröffnet. In deren erster Ausstellung mit dem Titel „The Beginning. Kunst in Österreich 1945 bis 1980" ist Beschorner eine von 400 Künstlern und Künstlerinnen, deren Werke dort gezeigt werden. Eine zweite Ausstellung in diesem Jahr beginnt am 7. November in der Landesgalerie Niederösterreich und ist allein ihrem Werk gewidmet.
Löschpapier wird zu Schichtenbildern
„Ich bin ein sehr haptischer Mensch, ich muss alles angreifen", sagt die Künstlerin. „Ich muss Holz spüren, Papier spüren und was immer das ist. Erstens regt mich Material an zu meiner künstlerischen Tätigkeit." Wenn es sich um Wandgestaltung handle, wie am Lusthaus im Garten oder an der Verandawand, kommt noch zusätzliches Wissen hinzu: Diese Geräte hat ein Mensch in der Hand gehabt, hat damit gearbeitet, hat es vererbt. „Das hat Geschichte."
Hinter Beschorners Korbstuhl stehen auf einer Anrichte einige ihrer Tonköpfe: Nicht Mensch, nicht Tier, mit breiten Nasen und aufgerissenen Mündern und Augen. Im Treppenaufgang hängen Bilder der Künstlerin, im ersten Stock zieren Masken und Teppiche die Wände. Jede Technik ist Ausdruck einer bestimmten Schaffensperiode im mehr als 70-jährigen Schaffen der Künstlerin. „Ich habe für keine Galerie gearbeitet, die mich vermarktet." Sie musste sich keinen eigenen Stil zulegen, weshalb es auch keine „echte Beschorner" gibt. „Es hat sich durch die unterschiedlichen Lebensperioden ergeben."
Aber nicht nur der Stil in Lieselott Beschorners Werk ist besonders vielfältig, auch ihre Materialien und Techniken sind es. „Was ich gerade mache, mache ich besonders gern", sagt sie. Davon zeugt ihr Wohnhaus. Kein Quadratmeter, der lediglich die Tapete zeigt. Überall stehen, hängen oder lehnen ihre Objekte. Die Künstlerin lebt in ihrem eigenen Museum. Auf dem Klavier, auf dem sie einst als Kind das Spielen gelernt hat, liegt neben weißen Skulpturen eine alte Spieluhr. Ein bewusst gewählter Standort: „Als ich mit der Akademie angefangen habe, habe ich freudig gesagt: Jetzt habe ich keine Zeit mehr zum Üben. Jetzt muss ich malen." Deshalb wurde das Klavier ab da nur mehr als Postament verwendet. „Heute könnte ich nicht einmal ‚Kuckuck‘ spielen mit einem Finger. Total verlernt."
Für sich hat Lieselott Beschorner bei Weitem noch nicht abgeschlossen. „Ich bin körperlich eine Ruine, aber die Vitalität ist nicht weg", sagt sie. Abgeschlossen ist lediglich ihre letzte Periode, die der Impulszeichnungen. Es beginnt mit ein paar Zeichen auf dem Papier und entwickelt sich, sagt sie. Ein paar Hundert sind es in der Zwischenzeit geworden, vielleicht sogar 2.000, die Künstlerin weiß es nicht zu sagen. In ihrem Arbeitszimmer liegt ein Stapel von einem guten Dutzend Zeichenblöcken. Schwarze, abstrakte Zeichnungen mit schwarzer Wachsölkreide. Kräftige Striche, mitunter bedrohliche geometrische Figuren und Muster. Es ist ihre künstlerische Antwort auf die Corona-Krise. Die Zeichnungen der Viren, ihre aktuelle Periode.
„Die Viren haben mich wahnsinnig zerrüttet", sagt Lieselott Beschorner. „Für mich ist eine Welt eingebrochen und ich bin überzeugt, es wird nie mehr so wie es war. Und wir haben die Unschuld verloren, die Natürlichkeit." Inzwischen spürt die 93-jährige Künstlerin, dass auch die kurze Periode der Viren schon wieder zu Ende geht und etwas Neues kommen muss. Und so arbeitet sie unermüdlich weiter. „Ich habe den ganzen lieben Tag sonst nichts zu tun. Ich kann nichts machen. Ich kann nicht zusammenräumen, nicht abstauben, nicht stehen, nicht gehen – nix. Ich kann nicht lesen, weil ich überhaupt keine Schrift mehr sehe, aber ich kann noch mit der schwarzen Kreide auf diesem weißen Blatt arbeiten, und wie ich glaube, nicht einmal schlecht, und das ist das einzige, was ich noch hab’."
Somit ist sie wieder beim Zeichnen gelandet, wie in ihren Anfängen. Dazwischen hatte sie sogar mit dem Stricken begonnen. „Material ist die Anregung. Ich habe vorher keine Idee, es springt mich vielmehr an." Das mag mit ihrer Vergangenheit zusammenhängen. Denn sie begann ihre künstlerische Tätigkeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. „Material war immer etwas Kostbares", sagt sie. „Nach der Kriegszeit haben wir mit allem gearbeitet, was wir bekommen haben. Das war anders als heute, wo man alles umsonst bekommt." Mit Glück habe man da und dort Packpapier zum Zeichnen ergattert.
260 Werke schenkte die Künstlerin dem Land Niederösterreich
Gleich nach dem Krieg begann Lieselott Beschorner an der Akademie der bildenden Künste zu studieren, „mit geringen Mitteln und viel Freude", wie sie sagt. Sie erzählt davon, dass man damals noch den halben Tag Schutt schaufeln musste, weil die Akademie am Wiener Schillerplatz Bombenschäden hatte, erzählt von der dünnen Grießsuppe, die sie als Tagesration von daheim mitgenommen hatte, erzählt von den noch unterbrochenen Straßenbahnlinien und von der winterlichen Kälte im Zeichensaal, trotz einem großen Ofen in der Mitte. „Am Vormittag war immer Aktzeichnen. Das Aktmodell ist arm gewesen. Das war rot und blau gefroren und wir haben alles angehabt, was man so nach dem Krieg an alten Wintermänteln gehabt hat, und haben immerhin gearbeitet." Heimlich wurde dann der eine oder andere Malschemel verheizt, „damit es ein bissel warm war".
Einige Studienkollegen der Künstlerin sind später berühmt geworden: Arnulf Rainer, Friedensreich Hundertwasser, Arik Brauer. Lieselott Beschorner hingegen ergriff bald nach dem Studium einen Brotberuf und arbeitete jahrzehntelang als Zeichenlehrerin an einer Wiener Berufsschule. Ihre Frustration über das Leben als Angestellte, in der Unselbständigkeit, reagierte sie daheim in Zeichnungen ab. Sie nennt das ihre „groteske Periode". Als Mitglied der Wiener Secession konnte sie ihre Werke bei den Ausstellungen der Secession in aller Welt präsentieren. Irgendwann wurde sie nicht mehr dazu eingeladen.
Nun aber erfährt sie späte Anerkennung. „Man erweckt mich jetzt sozusagen von den Toten wieder ein bissel zum Leben", sagt sie in ihrer trocken-verschmitzten Art. „Das ist natürlich schon meiner Natur zuzuschreiben, dass ich es nicht zu mehr gebracht habe, denn ich war ein viel zu schüchterner und zurückgezogener Mensch. Ich habe mich nie irgendwo vorgestellt, und das ist sicher mein Verschulden."
Irgendwann hatte Lieselott Beschorner begonnen, sich Gedanken zu machen, was wohl einst mit den Tausenden Werken, ihren „Kindern", wie sie sie nennt, geschehen werde. Also schenkte die Künstlerin 260 Werke an das Land Niederösterreich und zehnmal so viel an das Wien Museum.
„Somit habe ich das bittere Gefühl, dass ich zwar nirgends gezeigt worden bin oder dass man mich herausgebracht hätte mit dem Gesamtwerk", sagt die Künstlerin ironisch. „Aber ich habe auch das angenehme Gefühl, es kommt nicht auf den Müll, sondern in irgendwelche Container hinter dem Zentralfriedhof. Und jetzt ist es halt hinter dem Zentralfriedhof begraben, aber es lebt als Toter noch weiter."