Mit knapp einer Milliarde Usern ist die chinesische Video-App TikTok derzeit die weltweit am schnellsten wachsende Social-Media-Plattform. Mit eigenen Mode-Trends und Star-Influencern im Teenie-Alter weckt sie zunehmend auch das Interesse der Fashion-Welt.
Als um das Jahr 2005 die ersten Blogger und Bloggerinnen in den sozialen Medien aufgetaucht waren, wurden ihre noch etwas unbeholfenen und wenig professionellen Selbstdarstellungsversuche von der traditionellen Fashion-Welt zuerst wenig ernst genommen und bestenfalls amüsiert belächelt. Dass sich aus diesen bescheidenen Anfängen in Windeseile eine einflussreiche Influencer-Community entwickeln würde, die den klassischen Verkaufs- und Marketing-Instrumenten des Mode-Business erhebliche Konkurrenz machen sollte, hätte damals kaum jemand für möglich gehalten. Ein vergleichbares Phänomen, nur mit einem noch rasanteren Tempo, ist derzeit bei der 2016 anfangs nur für den chinesischen Markt vom Unternehmen ByteDance in der Volksrepublik gegründeten und nach Übernahme der chinesischen Musik-Playback- und Tanz-Video-App musical.ly 2018 auch global auf User-Akquise gehenden Social-Media-Plattform TikTok zu beobachten.
Im vergangenen Jahr brach TikTok alle Rekorde, die Popularität der App, deren Erfolgsrezept auf von Usern selbst erstellten, maximal einminütigen Video-Clips meist mit Tanzeinlagen, schauspielerischer Mimik sowie Playback- oder Karaoke-Songschnipseln zu bereitgestellten Soundtracks basiert, war förmlich explodiert. Dabei stellt vor allem die Generation Z die Hauptzielgruppe von TikTok dar. 69 Prozent der aktiven User, deren weltweite Gesamtzahl ByteDance im September 2020 erstmals bekannt gegeben und auf 800 Millionen beziffert hatte, sind zwischen 16 und 24 Jahren alt. TikTok ist derzeit die global am schnellsten wachsende Social-Media-Plattform. Kein Konkurrent konnte 2020 auch nur annähernd vergleichbar hochschnellende Download-Anstiege verzeichnen. TikTok profitierte fraglos auch von den den häuslichen Smartphone-Konsum fördernden Corona-Einschränkungen.
Verspielt, spaßig und gleichsam ungefiltert
Neben den bislang dominierenden Lippen-Synchronisations-Formaten mit ihrer Symbiose von Musik, Tanz und Video drängen aktuell immer mehr sogenannte Hashtag-Challenges in den Vordergrund. Dabei es geht ums möglichst kreative Kopieren oder Nachahmen von Bekanntem in individueller Umsetzung, was die Challenges zu einer interessanten neuen Werbeplattform für Unternehmen, besonders auch aus der Mode- oder Beauty-Branche, werden lässt. Die Challenges können von Usern, Creatoren oder auch von Marken erstellt und platziert werden. Der Konkurrenz mit Facebook samt Instagram an der Spitze bereitet der rasante Aufstieg von TikTok große Kopfzerbrechen. Mit Reels versucht Instagram den Chinesen seit Herbst 2020 die Teenie-Klientel streitig zu machen. Auch Reels bietet Nutzern nun die Möglichkeit zu 15-sekündigen Videos mit unterlegter Audiospur. Nach der 2018 lancierten App Lasso ist es schon der zweite Instagram-Vorstoß in Richtung TikTok. Auch andere Media-Plattformen haben bereits TikTok-ähnliche Formate abgekupfert, man denke nur an Snapchat Spotlike oder Youtube-Shorts. Gerüchteweise soll Instagram bereits Abwerbeversuche bei TikTok-Stars unternommen haben. Aber es gibt auch einen Weg von Instagram hin zu TikTok, weil sich bekannte Instagram-Influencer wie Leonie Hanne natürlich sicherheitshalber auch ein zweites Standbein bei TikTok aufbauen. Sogar Bella Hadid postet inzwischen auch schon auf TikTok. Nur ist dieser Plattform-Wechsel nicht ganz so einfach. Weil auf TikTok eben nicht der künstlich-retouchierte Hochglanz-Look von Instagram gefragt ist, sondern eher ein verspielter, spaßiger und gleichsam ungefilterter Auftritt. Was renommierten Agenturen wie IMG-Models, die neue Gesichter für die Mode-Branche zunehmend bei TikTok scouten, die Arbeit sehr erleichtert.
Die internationale Designerwelt hat längst damit begonnen, das große Kunden- und Ideen-Potenzial von TikTok zur Kenntnis zu nehmen und seine Kreationen teilweise schon danach auszurichten. Denn auf TikTok werden inzwischen eigene Fashion-Trends geboren, die direkt bezogen auf die jugendliche Klientel durchaus von den aktuell angesagten Catwalk-Strömungen abweichen können. Die Shoppingplattform Stylight hat für das Jahr 2021 nach aufwendiger App-Analyse sieben TikTok-Fashion-Trends ermittelt: 1. Hosen im Stil der Nuller-jahre: von Cargo Pants bis hin zu weiten Baggy-Jeans. 2. Cut-Outs. 3. Matching-Jogginganzüge. 4. Oval-schmale Sonnenbrillen. 5. Faltenröcke. 6. Korsagentops. 7. Pullunder. Zudem wird vielen TikTok-Usern generell eine große Affinität zu nachhaltiger Mode und den entsprechenden Labels attestiert. Auch das Secondhand-Shoppen steht hoch im Kurs.
Als einer der ersten Designer hatte Hedi Slimane für Celine Kontakt mit der TikTok-Community aufgenommen und Ende 2019 den damals 18-jährigen, aus Atlanta stammenden Noen Eubanks zu seinem neuen Menswear-Gesicht gemacht. Für Slimane ein logischer Schritt, weil es seit jeher zu seinem persönlichen Markenzeichen gehört, den modischen Spirit von Jugendkulturen in High Fashion umzusetzen. Seine ersten diesbezüglichen Kreationen in der Celine-Menswear-Sommerkollektion 2021 ließ er von weiteren TikTok-Stars wie Luv Anthony oder Curtis Roach promoten. Eubanks hatte seinen TikTok-Account erst 2018 erstellt und war innerhalb eines Jahres als „Soft Boi" zum Shootingstar mit 100 Millionen Views und regelmäßig über einer Million Likes aufgestiegen. Inzwischen ist er nicht nur als Celine-Model unterwegs, sondern hat auch schon eine eigene Merchandising-Kollektion mit Pullovern, Jogginghosen und Shorts auf den Markt gebracht.
Die ungekrönte Queen der TikTok-Community namens Charli D’Amelio hat sich allerdings Miuccia Prada an Land gezogen. Prada ließ die damals 16-jährige US-Amerikanerin, die mit ihren Tanz-Videos inzwischen rund 108 Millionen Follower gewinnen konnte, im Februar 2020 in Klamotten des italienischen Luxus-Labels in der Mailänder Front Row anlässlich der Präsentation der Herbst-Winter-Kollektion 2020/2021 Platz nehmen. Obwohl sie inzwischen ein Social-Media-Star ist und noch im Lauf des Jahres 2021 eine eigene Reality-Show bekommen soll, ist sie bislang ein ganz normales Teenie-Mädchen geblieben, dessen Authentizität neben ihrer von Kindesbeinen an geschulten Tanzkunst für den Großteil ihres Überraschungserfolges verantwortlich ist. Louis Vuitton arbeitet schon geraume Zeit mit der TikTok- und YouTube-Influencerin Emma Chamberlain zusammen.
Große Modehäuser feiern Debüt auf Tiktok
Aber den meisten Luxusmarken genügt es offenbar nicht, die TikTok-Stars in eigene Klamotten zu stecken. Stattdessen mischen sie zum Brand Building bei der künftigen kaufträchtigen Generation kräftig selbst bei den Challenges mit. Beispielsweise bei der von Burberry angeregten Challenge, als User in Videos mit ihren Händen das Monogramm des britischen Traditionshauses nachahmen sollten. Oder bei der Strickanleitungs-Challenge für einen von der Stilikone Harry Styles getragenen Patchwork-Cardigan von J. W. Anderson, wobei das Label selbst zusätzlich eine handwerkliche Anleitung gepostet hatte. Das Schuhlabel Crocs hatte eine Challenge-Ausgabe platziert, bei der seine Plastiktreter von den Usern mit Pins, Stickern oder Farbe aufgehübscht werden sollten. Gucci nahm eine Challenge, bei der die User sich wie ein Gucci-Model anziehen sollten, zum Anlass, selbst bei TikTok einzusteigen. Auch Brands wie Marc Jacobs oder Ralph Lauren waren schon an Challenges beteiligt.
Im September 2020 erreichte das Engagement der Luxusmarken bei TikTok einen neuen Höhepunkt, als Labels wie Dior, Prada, Saint Laurent, Louis Vuitton oder Balmain die Präsentation ihrer Sommer-Kollektionen 2021 live auf ihren offiziellen TikTok-Accounts übertragen ließen. Und großes Interesse erwecken inzwischen regelmäßig auf TikTok auch Insight-Einblicke, bei denen Marken wie Balenciaga, Fendi, Moncler, Dior, Gucci oder Louis Vuitton die Community an ihrer normalen Alltagsarbeit teilnehmen lassen. So veröffentlichte Prada im Herbst 2020 beispielsweise ein Video eines hausinternen Gesprächs zwischen Miuccia Prada und ihrem Kollegen Raf Simons, danach beantworteten die beiden Kreativen auch noch ausgewählte Fragen aus den Reihen der Community. Balmain-Chefdesigner Olivier Rousteing, ein bekennender TikTok-User, ließ sich beim Skizzieren und Herstellen von Klamotten filmen. Aber all diese Designer-Aktivitäten dürften nur der Anfang einer künftig wohl noch viel stärkeren Zusammenarbeit mit TikTok sein. Denn laut den Angaben in dem vom Datenanalyse-Anbieter Lauchmetrics veröffentlichten „State of Influencer Marketing Report 2020" planen 42 Prozent der Modebrands künftig eine deutliche Ausweitung ihres TikTok-Engagement für Marketing- und Verkaufsaktivitäten. Allerdings ist dies mit vielen Unwägbarkeiten verbunden, weil auf TikTok Trends und Vorlieben bei Video-Inhalten ständig und völlig unerwartet zu wechseln pflegen. Und weil Stars auf dieser Social-Media-Plattform genauso schnell wieder in der Versenkung verschwinden können wie sie zuvor aufgestiegen waren.