Das Saarbrücker Quintett „Powerwolf" zählt zu den international erfolgreichsten deutschen Metalbands. Soeben erschien das neue Album „Call Of The Wild". „Leitwolf" Matthew Greywolf alias Benjamin Buss spricht über musikalische Identität, theatralische Inszenierungen und Standortvorteile.
Matthew Greywolf, wie aufwendig war die neue Produktion?
Wir haben uns mitten im Songwriting-Prozess entschieden, dass es uns zu riskant ist, wie sonst in Schweden ins Studio zu gehen. Deswegen sind die Aufnahmen diesmal in Holland entstanden. Mithilfe von Joost van den ÂBroek, (Anm. d. Red.: Blind Guardian, Epica) der wie schon beim Vorgängeralbum für die Orchestrierung und die Chöre verantwortlich war. Das hat sich als ein Glücksgriff erwiesen. Zwei Tage vor den geplanten Aufnahmen wussten wir nicht, ob wir über die Grenze können, aber wir wollten uns nicht unterkriegen lassen. Die Einstellung, keine Kompromisse eingehen zu wollen, hat dem Album sehr gut getan.
Sind die Songs unter dem Schock des Lockdowns entstanden?
Wir haben uns kategorisch geweigert, die aktuelle Situation Einfluss auf den künstlerischen Part des Album nehmen zu lassen. Powerwolf ist für uns ein eigenes Universum. Mehr denn je waren wir dankbar dafür, uns an diesen fiktiven Ort zurückziehen und kreativ sein zu können. Es war ein Stück weit eine gelungene Flucht vor dem, was uns im Moment alle umgibt und beschäftigt.
Ihre zum Teil bitterbös-zynischen Texte handeln von Phantastischem und Historischem. Ist die Pandemie, in der bizarre Verschwörungstheorien kursieren, für Sie wirklich keine Quelle der Inspiration?
Nein, das hat für mich eher etwas Amüsantes und ist definitiv nicht die Form von Legendenbildung, von der ich fasziniert bin. Ich bin ein wissenschaftlich geprägter Mensch, der mit dieser Seite wenig anfangen kann. Ich habe zwischen all den Tourneen sogar ein Studium abgeschlossen.
Was haben Sie studiert?
Informationswissenschaft. Das ist ein spezielles Feld der Kommunikationswissenschaft. Die Interaktion von Menschen und Kommunikationsgeräten jeder Art hat mir in Bezug auf die Band vieles mitgegeben.
Lohnt es sich in Zeiten des Streamings noch, teure Alben zu produzieren?
Ich selbst muss der Meinung sein, dass wir das Beste abgeliefert haben, was wir können. Der Hörer hört auch einen Unterschied, weil die Platte sehr organisch klingt. Beim Songwriting und bei der Vorproduktion nutzen wir ausgiebig den Rechner, aber bei der eigentlichen Albumproduktion sind wir altmodisch. Es ist wichtig, dass man eine Platte an einem besonderen Ort aufnimmt, wo man nichts anderes tut. Zwei der Songs habe ich am Klavier komponiert und dabei mit den Tonarten herumgespielt. Das hat den Songs sehr gut getan.
Als Band will man einerseits erkennbar bleiben, andererseits auch Neues wagen. Geht es immer darum, diesen Spagat zu vollziehen?
Ja, aber letzten Endes ist Songwriting eine intuitive Sache. Schon auf dem letzten Album „The Sacrament Of Sin" haben wir uns bewusst etwas breiter aufgestellt und Neues gewagt. Das hat uns darin beflügelt, bei „Call Of The Wild" noch offener ans Schreiben zu gehen. Wir waren uns bewusst, dass wir ohnehin eine starke musikalische Identität haben. Die Art, wie Attila singt und ich komponiere und die Kirchenorgel – diese Zutaten klingen alle sehr typisch nach Powerwolf. Wir haben diesmal einiges getan, was in der Vergangenheit undenkbar gewesen wäre. Zum Beispiel der Song „Blood For Blood", der von einer irischen Werwolf-Legende inspiriert ist und eine irische und keltische Instrumentierung aufweist. Ich habe ihn auf einer Akustikgitarre geschrieben, um einen Folk-Vibe mit reinzubringen. Die Metal-Keule haben wir erst ganz spät ausgepackt.
Ein Lied haben Sie der „Bestie des Gévaudan" gewidmet. Das ist die Bezeichnung für ein Raubtier, dessen Angriffen in den Jahren 1764 bis 1767 im Gévaudan in Südfrankreich rund 100 Kinder, Jugendliche und Frauen zum Opfer fielen. Was fasziniert Sie an dieser wahren Begebenheit?
Mich interessiert gar nicht so sehr die Bestie oder die Grausamkeit, sondern die Legendenbildung. Mich fasziniert die Tatsache, dass dieses Tier nie dingfest gemacht werden konnte. Man hat nie herausbekommen, ob es ein großer Wolf oder ein Serienmörder war. Geistliche sahen darin die Rache Gottes für das sündhafte Leben der Bevölkerung. Wissenschaftler glauben heute an ein ganzes Wolfsrudel. Auf diesem Nährboden schreiben wir gerne Texte.
Im saarländischen Merzig lebte der Wolfsforscher Werner Freund. Er sagte zu Lebzeiten: „Ich habe zwei Leben – eines als Mensch und eines als Wolf". War er für Sie eine Art Inspiration?
Soweit würde ich nicht gehen. Werner Freund lebt leider nicht mehr, aber der gleichnamige Park existiert immer noch. Ich finde es faszinierend, wie Freund sich auf diese Tiere eingelassen hat. Einen Song konkret über ihn gibt es von uns nicht, aber man soll ja niemals nie sagen.
„Call Of The Wild" heißt übersetzt „Ruf der Wildnis". Was verstehen Sie unter Wildnis?
Wir leben heute alle in einer Zivilisation und wissen wahrscheinlich nicht viel über die Wildnis. Aber diese Wurzeln tragen wir alle in uns. „Call Of The Wild" ist für mich eine Metapher in zweierlei Hinsicht. Zum einen für dieses Ursprüngliche, das uns alle innewohnt. Ich persönlich war im letzten Jahr der Natur wieder viel mehr verbunden als früher. Die andere Metapher ist der Ruf der wilden Musik. Unser Publikum kann verdammt wild sein. Zu unserer Musik kann man Frust ablassen und eine gute Zeit haben. Den Ruf der Wildnis brauchen wir alle mehr denn je dieser Tage.
Für Ihre Auftritte verwandeln Sie sich in düstere Wolfsgestalten. Sie wollen jetzt die bis dato größte Produktion Ihrer Bandgeschichte auf die Bühne bringen. Was können Sie über die „Wolfsnächte 2021" bereits verraten?
Man sieht an den Tourdaten, die Hallen werden größer. Das ist eine besondere Ehre für uns. Entsprechend werden auch die Bühnen größer. Wir freuen uns jedes Mal wie Kinder, wenn wir eine Bühnenshow erweitern können. Schon vor unserem ersten Konzert hatten wir die Vision, eine visuell spannende Performance abzuliefern. Diese bauen wir konsequent aus. Es wird definitiv eine opulente Produktion werden. Aktuell sind wir in der Vorproduktion, was eine schwierige Sache ist, weil sie coronakonform stattfinden muss. Pyros zum Beispiel müssen ganz real in einer großen Halle getestet werden. Wir hoffen, dass man im Herbst auf verantwortungsvolle Weise Konzerte spielen und feiern kann. Niemand hat je eine solche Situation erlebt.
Wie plant man in Pandemiezeiten eine Welttournee?
Das ist eine sehr komplexe Frage. Eine Welttournee kann man nicht fahren, wenn jede zweite Show aufgrund anderer Regeln in anderen Ländern ausfällt. Wenn es soweit ist, muss man sich den Herausforderungen stellen und kreativ und anpassungsfähig sein.
In welchen Ländern haben Sie besonders treue Fans?
Schwer zu sagen. Wir haben bislang noch kein Land bereist, wo es für uns unschön war. Metalfans ticken eigentlich weltweit gleich. Wir haben zum Beispiel wunderbare, fanatische Fans in Russland. Auf unserer letzten Tour haben wir wirklich von Novosibirsk bis Santiago de Chile gespielt. Ein Traum!
Ist das Touren für Sie manchmal noch ein Abenteuer?
Professionell geht es heute überall zu, aber die Gegebenheiten und Mentalitäten sind von Land zu Land unterschiedlich. Das ist gerade das Spannende daran. In manchen Ländern muss man mehr improvisieren als in anderen, weshalb auf Tour kein Tag ist wie der andere. Keine Reiseagentur könnte einem solch einen Trip anbieten.
Seit Wacken weiß jeder, dass langhaarige Lederjackenträger angenehme Zeitgenossen sind. Finden Sie das ein bisschen schade?
Ich persönlich habe nie Heavy Metal gemacht, um zu provozieren. Vielleicht auch deswegen, weil ich in einem Elternhaus aufgewachsen bin, in dem das nicht funktioniert hätte. Mein Vater ist auch ein großer Rockmusik-Fan. Letztlich finde ich es schön, dass jeder sieht: In Wacken laufen zwar Leute mit bitterbösen T-Shirts herum, aber eigentlich sind das 80.000 große Kinder, die Spaß haben. Ich habe in meiner langen Zeit als Fan und Musiker nie auf einem Festival aggressive oder feindselige Stimmung gespürt. Im Gegenteil. Der Heavy Metal ist eine große, friedliche Gesellschaft. Das finde ich immer wieder faszinierend.
Haben Sie sich im kleinen Saarland, wo es nicht gerade wimmelt vor weltberühmten Metalbands, anfangs als Underdogs gefühlt?
Ganz im Gegenteil. Der Vorteil eines „Naturschutzgebiets", wo Trends nicht sofort Halt machen, ist, dass man sich sehr frei entwickeln kann. Wir konnten hier als Wölfe wachsen. Powerwolf hatte gerade in den Anfangsjahren eine obskure Vision. Niemand hat so recht verstanden, was wir eigentlich wollen. Wir waren aber stur genug, diese Vision durchzuziehen und uns weiterzuentwickeln.
Haben Sie nie mit dem Gedanken gespielt, in die Musikmetropole Berlin umzuziehen?
Ich persönlich bin im Saarland sehr glücklich. Ich lebe mittlerweile auf dem Land. Wenn ich von einer Tour zurückkomme, wo man wenig Privatsphäre hat, genieße ich es, mal wenig Menschen um mich zu haben.
Warum macht Sie schnelle, harte und laute Musik eigentlich glücklich?
Weil ich sie liebe. Ich habe im Alter von fünf Jahren auf einer Familienurlaubsreise zum ersten Mal die Scorpions gehört. Damals hatte ich noch keine Ahnung von Musik, aber dieser Sound ist mir in die Knochen gefahren. Das war meine Musik! Heavy Metal begleitet mich jetzt schon ein Leben lang.