Interview mit der Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, zur ungerechten Bezahlung von ausländischen Pflegekräften, die oft rund um die Uhr da sein müssen.
Ein Grundsatzurteil hat die Pflegelandschaft aufgemischt: Ausländische Betreuungskräfte, die pflegebedürftige Menschen in deren Haushalt oft rund um die Uhr betreuen, haben Anspruch auf den Mindestlohn – auch während der Zeit der Bereitschaft. Das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG)entschieden. Geklagt hatte eine bulgarische Pflegerin, die von einer deutschen Agentur vermittelt und vom ausländischen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt wurde, um in der „24-Stunden-Pflege" tätig zu werden. FORUM sprach über die Konsequenzen mit Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, einem Zusammenschluss von elf Pflegeverbänden.
Frau Vogler, wird der graue Pflegemarkt, also die Schwarzarbeit, nach diesem Urteil nicht eher zunehmen?
Natürlich ist die Gefahr groß, dass das Ganze in einen Arbeitsbereich abrutscht, der nicht mehr zu kontrollieren ist. Aber da wir wollen, dass die Pflege zu Hause anders finanziert wird, ja werden muss, gilt es bis dahin hier sehr aufmerksam zu sein. Unser Anliegen ist es, sowohl die Menschen, die die Pflege ausüben, als auch die, die gepflegt werden, besser zu schützen.
Und wenn die Betreuungskräfte, die aus dem Ausland zu uns kommen, alle zu Scheinselbstständigen werden? Dann ist doch jeder sein eigener Herr.
Da hilft nur Aufklärungsarbeit. Wir müssen den Betreuungskräften aus dem Ausland Angebote machen, zum Beispiel kommt zu einem unserer Verbände, lasst euch beraten, wir bringen euch in anständige Arbeitsverhältnisse, bei denen ihr nicht rechtlos seid und jederzeit kündbar oder wie Hilfskräfte behandelt werdet, denen man alles aufbürden kann.
Sie sprachen davon, dass die Betreuungskräfte über ein Konjunkturpaket eingebunden werden sollen. Wie soll das konkret aussehen?
Wir wollen, dass ein Förderprogramm aufgesetzt wird, das diejenigen für eine Übergangszeit unterstützen kann, die jetzt nach diesem BAG-Urteil besonders belastet werden. Betroffene, Angehörige, wie auch die Betreuungskräfte selbst. Denn es wird noch eine Zeit dauern, bis gesetzliche Regelungen umgesetzt sind, Finanzierungsfragen geklärt werden können und auch die Qualität der Arbeit, die abgeliefert werden muss, definiert ist. Vorstellbar ist auch eine Staffelung der Beiträge: Diejenigen, die sich eine Finanzierung einer Pflegekraft leisten können, sollten im Sinne einer einkommensabhängigen Mitbeteiligung verzichten, während die anderen, die das finanziell nicht stemmen können, unterstützt werden.
Wo kommt das Geld her für das Konjunkturpaket?
Ich denke, dass die Sozialversicherung, so wir sie heute haben, in der Zukunft nicht mehr funktionieren wird. Schon gar nicht bei dem, was an Pflegebedürftigkeit auf die Menschen in Deutschland zukommt. Wir brauchen hier eine Form der Bürgerversicherung, also ein steuerfinanziertes System der Versorgungsleistungen.
Eine hundertprozentige Steuerfinanzierung?
Man muss mal schauen, was auf uns zukommt, und auch über ein Gegengewicht nachdenken, eine Form der Entlastung finden. Das Wichtigste ist: Das Thema muss in die gesellschaftliche Debatte, da muss endlich ehrlich diskutiert werden: Wofür geben wir in Deutschland unser Geld aus? Und wenn dann die Gesellschaft entscheidet: nicht für die Pflege; dann werden wir halt eine schlechte Pflege bekommen oder keine – mit aller Konsequenz, die daran hängt.
Wie viele Stunden sollen denn bezahlt werden, wenn eine Pflegekraft 24 Stunden vor Ort ist?
24 Stunden. Da, wo ich Arbeit erbringe und verpflichtet werde, vor Ort zu sein, muss ich auch dementsprechend entlohnt werden. Jemand, der nur für acht Stunden bezahlt wird, würde doch nicht 24 Stunden arbeiten, wenn es gerecht zuginge. Ausnahme: Wenn Ruhezeiten wie Bereitschaftsdienst ausgewiesen werden kann, dann sind natürlich die nicht voll zu entlohnen. Aber wenn diese Bereitschaft dauernd unterbrochen wird, gibt es auch ganz klare Regeln, das muss dann auch bezahlt werden.
Und wer kontrolliert das?
Alle Pflegenden haben eine Dokumentationspflicht, aus der das hervorgehen muss, was geleistet wurde. Schwarze Schafe wird man nie ausschließen können, aber bei den professionellen Pflegekräften geht es ja auch um ihre Ehrbarkeit. Über eine digitale Dokumentation lässt sich das gut kontrollieren.
Soll die ambulante Pflege den ausländischen Kräften einen Teil der Arbeit abnehmen?
Es geht nicht um Arbeit abnehmen. Wir wollen, dass alle in die ambulante Versorgung entsprechend ihrer Qualifikationen integriert werden – auch die Kollegen aus dem Ausland. Wenn diese privat angestellt sind und Pflege gewissermaßen auf dem Grundniveau machen, dann muss natürlich die ambulante, voll ausgebildete Pflegekraft mit dazukommen, wenn etwa Spritzen zu setzen sind oder Wunden versorgt werden müssen. Das wird dann über die Krankenkasse finanziert, weil es eine medizinische Leistung ist.
Wollen Sie, dass die ausländischen Pflegekräfte erst einmal ausgebildet werden, bevor sie eingesetzt werden?
Genau das wollen wir. Das bedeutet Sicherheit für die Menschen, die vor Ort gepflegt werden sollen. Da sollten schon gewisse Kenntnisse vorhanden sein, damit wir auch wissen: Die können jetzt die Pflegearbeit übernehmen. Das geht über das Waschen und Kämmen hinaus, die Pflegekräfte müssen das Herz-Kreislauf-System kennen; wie verhalte ich mich im Notfall; welche Prophylaxe kann ich anwenden; wie erkenne ich frühzeitig, ob eine Verschlechterung eintritt et cetera. Wir haben ja die Pflegehelferausbildung in Deutschland, die sollten sie auf jeden Fall absolvieren. Sie dauert je nach Bundesland zwischen einem und zwei Jahre, es gibt eine Ausbildungsvergütung in Höhe von 800 Euro. Ein Voraussetzung dabei: die Sprache – sie müssen Deutsch lernen.
In vielen Fällen verstehen sich aber die Pflegekraft und die alte Dame oder alte Herr so gut, dass sie auch so wunderbar miteinander klarkommen – soll es das nicht mehr geben?
Die guten Geschichten gibt es überall, darum geht es uns ja nicht. Wenn jemand vernünftig bezahlt und gut behandelt wird und über die Monate und Jahre in die Praxis hineinwächst – natürlich würden wir das aus formalen Gründen nicht auseinanderreißen. Bei der Frau, die vor dem BAG geklagt hat, war es eben nicht so. Wir sprechen als Deutscher Pflegerat für alle, und da geht es darum, den Menschen in den Haushalten gute Bedingungen zu verschaffen, und denen, die versorgt werden, kompetente Menschen an die Seite zu stellen.
Letzten Endes müssen die Familien, also die Betroffenen zahlen. Brauchen wir höhere Pflegebeiträge in der Pflegeversicherung?
Da sind wir wieder bei der Frage des Finanzierungssystems. Wir dürfen die Kosten für Pflege nicht in Gänze auf die Betroffenen und die Angehörigen abwälzen. Wir haben die Situation zum Beispiel in den Heimen, dass der Eigenanteil nicht gedeckelt ist, er kann auf 700 bis 1.000 Euro steigen und mehr. Das darf so nicht weitergehen. Wir müssen in Deutschland ehrlich mit den Zahlen umgehen. Es bringt nichts, immer wieder zu äußern: „Wir haben so viele Pflegebedürftige, wer soll das denn bezahlen?" Wir sollten uns bewusst sein: Ja, wir sind eine alternde Gesellschaft, wir haben Pflegebedürftigkeit, und das müssen wir finanzieren. Und zwar so, dass es sozial gerecht bleibt und auch finanzierbar ist. Und Teile der Gelder nicht am Ende noch bei den großen Fondsgesellschaften, ich nenne sie Heuschrecken, landen, die unbedingt Renditen aus ihren Einrichtungen herausquetschen wollen.
Würde es helfen, wenn mehr Pflegebedürftige ins Heim wechselten?
Ambulant vor stationär muss unser erklärtes Ziel sein. Wenn jemand zu Hause sein will, haben wir alles dafür zu tun, dass er oder sie in der gewohnten Umgebung bleiben kann – und dazu brauchen wir eben auch eine gute ambulante Versorgung.