Vor dem Ungarn-Grand Prix hat Lewis Hamilton den Rückstand auf WM-Rivale Max Verstappen bis auf acht Punkte verkürzt. Der Mercedes-Star hat nach fünf sieglosen Rennen seinen Heim-Grand Prix in Silverstone gewonnen — aber über dem Sieg liegt ein Schatten.
Lewis Hamilton kann doch noch gewinnen. Zehn Wochen nach seinem letzten Triumph (9. Mai GP Spanien) und fünf Rennen ohne Sieg ist der siebenmalige Weltmeister beim britischen Grand Prix in die Erfolgsspur zurückgekehrt. Zum achten Mal hat der britische Lokalheld sein Heimrennen in Silverstone gewonnen. Allerdings war es ein Sieg mit bitterem Beigeschmack, der für reichlich Diskussionsstoff sorgte. Für seinen Herausforderer Max Verstappen war dieser zehnte Saisonlauf ein Drama.
Die Startaufstellung für dieses denkwürdige Rennen wurde in der Uraufführung des 100-Kilometer-Sprints am Samstag ermittelt. Verstappen fuhr auf Platz eins und startete sonntags von der Poleposition vor Hamilton. Der Mercedes-Pilot baute hinter dem „Bullen" mächtig Druck auf, Verstappen hielt brutal dagegen. Ein erbitterter Zweikampf zog sich über mehrere Geraden und Kurven bis hin zu der ultraschnellen Rechtskehre Copse, die mit 290 km/h durchfahren wird. Hamilton wollte innen durchschlüpfen. Er saugt sich im Windschatten dicht an den Rivalen heran, täuscht einen Angriff auf der Außenseite an und erobert dann die Innenbahn. Es war sein „Jetzt-oder-nie"-Moment. Beim Einlenken erwischte sein linkes Vorderrad das rechte Hinterrad am Red Bull. Das Drama nahm seinen Lauf. Verstappen flog mit 280 km/h von der Strecke durchs Kiesbett und krachte in den Reifenstapel. Nach Auskunft seines Teamchefs Christian Horner war der „fliegende Holländer" bei seinem Einschlag Fliehkräften von 51g ausgesetzt. Das heißt: Bei dem Aufprall wirkte das 51-fache von Verstappens Körpergewicht (70 Kilo) auf den Bullen-Pilot ein. Zum Vergleich: In F1-Autos wirken in Kurven bei normaler Fahrt schon mal 5g auf die Piloten.
Verstappen flog mit 280 km/h aus der Kurve
Ordentlich durchgeschüttelt und sichtlich benommen konnte sich Verstappen aus eigener Kraft aus seinem völlig demolierten Boliden schälen. Der Schaden des Autos wird auf 750.000 Euro beziffert. Mit anhaltenden Schwindelgefühlen wurde der WM-Spitzenreiter in ein Krankenhaus gefahren, in dem er eingehend untersucht und am späten Abend wieder entlassen wurde. Lokalmatador Hamilton konnte seine Fahrt mit beschädigtem Frontflügel und beschädigter Achse fortsetzen.
140.000 Zuschauer tobten, waren aus dem Häuschen. In Runde drei wurde das Rennen wegen Bergungsarbeiten des Red Bull-Boliden für eine Dreiviertelstunde unterbrochen, Mercedes nutzte diese Gelegenheit, die angeknackste Felge an Hamiltons Auto zu wechseln.
Mit einem stehenden Start wurde das Rennen wieder aufgenommen, bei dem Ferrari-Pilot Charles Leclerc die Führung vor Hamilton übernahm. Dem Briten hatten die Rennkommissare wegen des Unfalls mit Verstappen eine Zehn-Sekunden-Strafe aufgebrummt. In Runde 28 von 52 Umläufen sitzt er diese Strafe in der Boxengasse ab, bekommt frische Schlappen aufgezogen und reiht sich als Fünfter wieder ein. Elf Runden vor Schluss ist Hamilton Zweiter, 8,7 Sekunden hinter dem Führenden Leclerc. Dann brennt der Stern-Pilot mit einer furiosen Aufholjagd ein Feuerwerk ab. In Runde 50, drei Runden vor Schluss, passiert es. In der Copse-Kurve – also an der gleichen Stelle, an der es in Runde eins mit Verstappen gekracht hat – „fliegt" Hamilton an Leclerc vorbei und übernimmt die Spitze. Der Mann in Rot macht artig Platz, will Rang zwei nicht gefährden.
Dritter wird der Finne Valtteri Bottas im zweiten Mercedes. Sebastian Vettel ging wieder leer aus. Nach einer selbstverschuldeten Pirouette kurvte er in seinem Aston Martin im Hinterfeld herum. Vor seinem Dreher lag Vettel noch an sechster Stelle und in den Punkten. Wegen technischer Probleme musste er seinen in „British Racing green" gehaltenen Boliden später vorzeitig (Runde 41) abstellen. Sein Teamkollege Lance Stroll holte mit Platz acht die Kohlen für Aston Martin aus dem Feuer.
Vettel aktiv als Umweltschützer
Da Vettels Rennen sozusagen für die Tonne war, betätigte sich der bekennende Umweltschützer nach dem Grand Prix als Müllmann. Säckeweise sammelte der „ordentliche Deutsche" den Abfall von den leeren Tribünen ein und schaffte ihn weg. Unterstützung bekam der „Ordnungsfanatiker" von etlichen Fans, die mit anpackten. Die Müllberge nach einem Rennen sind dem dreifachen Familienvater schon lange ein Dorn im Auge. Nun ging er mit gutem Beispiel voran. Im Internet wurde der Hesse als „Ehrenmann" betitelt. Bekannt ist, dass Vettel sich verstärkt für Umweltschutz einsetzt und starkmacht. Offen gestand er in Interviews: „Ich werde bei der Bundestagswahl die Grünen wählen und wünsche mir Annalena Baerbock im Kanzleramt". Diese Aussagen sorgten für reichlich Diskussionen und der Rennfahrer musste sich auch allerhand Spott anhören.
Auch Mick Schumacher erlebte einen Großbritannien-Grand Prix zum Vergessen. In seinem unterlegenen Haas-Auto wurde der Deutsche 18. und Letzter hinter seinem russischen Stallkollegen Nikita Mazepin. Für die „Bullen" bleibt die schnellste Rennrunde ihres zweiten Fahrers Sergio Perez ein schwacher Trost. Der Mexikaner stampfte sie in der letzten Runde in den Asphalt. Für Hamilton war es sein vierter Saisonsieg, der 99. Triumph in seiner Formel-1-Karriere und der achte Heimsieg im Home of British Motorracing. Verstappen kam mit 32 Punkten Vorsprung auf Hamilton auf die Insel, verließ sie aber nur noch mit acht Zählern (185:177).
Hamilton ist wieder zurück im WM-Kampf und im Titelrennen. Vor dem Ungarn-GP werden die Uhren fast wieder auf null gestellt.
Der Mega-Knall von Hamilton und Verstappen hat aufgewühlt. Noch während des Rennverlaufs gab es scharfe Schuldzuweisungen zum Hergang der beiden Alphatiere. Für die FIA-Rennkommissare steht jedenfalls eindeutig fest: Auslöser und Hauptschuldiger an diesem Highspeed-Abschuss von Hamilton und dem spektakulären Hochgeschwindigkeits-Abflug von Verstappen war der Brite. Die offizielle Begründung der Stewarts für ihre Strafe: Hamilton habe den Kontakt in der Kurve nicht vermieden, es kam zur Berührung, der Mercedes-Pilot wurde für „übermäßig schuldig" befunden. Die Verantwortlichen im „Bullen"-Lager bezeichneten den Weltmeister als „fahrlässig", gefährlich", „rücksichtslos". Teamchef Christian Horner: „Das war eine schlimme Fehleinschätzung von Lewis. Ein solches verzweifeltes Manöver erwartest du nicht von einem siebenmaligen Weltmeister. Ich denke, er kann diesen Sieg auch nicht zufrieden genießen, wenn das die Folge eines solchen Unfalls ist. Die Strafe passt in keiner Weise zu dem Vergehen."
„Respektlos und unsportlich"
Red Bull-Berater Helmut Marko wirft Hamilton „fahrlässiges, gefährliches Verhalten vor und forderte eine Sperre. Mercedes-Teamchef Toto Wolff konterte: „Zu einem Tango gehören immer zwei". Kurz nach der Zieldurchfahrt funkte der smarte Wiener Schlawiner an seinen Starpiloten: „Wir geben nie auf". Hamiltons Antwort: „Verdammt richtig". Später meinte der Sieger: „Ich habe mit dem Team alles versucht, das Auto dahin zu bringen, wo es hingehört. Heute hat es gepasst. Ich werde immer hart, aber fair Rennen fahren und denke nicht, mich entschuldigen zu müssen." Beste Wünsche schickte er aber an Verstappen. Der Bulle wiederum kritisierte bei Twitter und Instagram seinen WM-Rivalen scharf: „Ich bin sehr enttäuscht, dass ich so rausgenommen wurde. Die Sieges-Feiern von Hamilton während ich noch in der Klinik war, sind respektlos und unsportlich. Die Strafe wird dem gefährlichen Manöver von Lewis nicht gerecht."
Doch nicht nur Beschimpfungen und Anfeindungen übelster Art prasselten in den Netzwerken auf Hamilton nieder, er wurde auch rassistisch beleidigt. In einem gemeinsamen Statement wehren sich der Weltverband FIA und der Mercedes-Rennstall gegen die Hetzer und fordern eine Bestrafung. „Wir verurteilen dieses Verhalten in stärkster Art und Weise", heißt es in der Stellungnahme. „Diese Leute haben keinen Platz in unserem Sport, und wir drängen darauf, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden". In der Verlautbarung von Red Bull heißt es: „Als Team sind wir angewidert und traurig über die rassistischen Beschimpfungen, die Lewis ertragen musste. Dafür gibt es niemals eine Entschuldigung."
Am Sonntag (15 Uhr/Sky) wird der erbitterte Zweikampf der beiden Rennbahn-Rivalen auf dem Hungaroring fortgesetzt. Den Puzta-Grand Prix hat Hamilton seit 2007 achtmal gewonnen. Grand Prix-Sieg Nummer neun in der Steppe würde Würze und Hochspannung im Kampf um den WM-Titel bringen. Verstappen wird aber alles dransetzen, seinen Premierensieg im Land der Magyaren einzufahren, um Schärfe aus dem Titelrennen zu nehmen.