55 Jahre wartet das Mutterland des Fußballs auf einen großen Titel. So knapp wie diesmal war es seitdem nie. Und nun herrscht trotz des Erfolgs riesiger Frust.
Dass knapp vorbei so richtig daneben sein kann, wurde im Fußball lange nicht so deutlich wie nun bei Englands Nationalmannschaft. Die hatte erstmals seit dem WM-Triumph durch das berühmte „Wembley-Tor" 1966 wieder das Endspiel eines großen Turniers erreicht. Und das als Mutterland des Fußballs mit der sicher stärksten Liga der Welt. Doch im Moment fühlt es sich auf der Insel überhaupt nicht an wie ein Erfolg. Im Gegenteil. Es herrschten Frust, Ratlosigkeit und gar Wut. Eine Untergangs-Stimmung, als habe England die Qualifikation verpasst.
Dass die Reaktionen so extrem sind, hat viele Gründe. Zum einen wäre der EM-Titel eine riesige Erlösung gewesen. Viele Fans haben noch nie einen englischen Titel erlebt, das nagt am Selbstbewusstsein und sorgt für Spott der Konkurrenz. Das alles mit einem Mal wegzuwischen, wäre zu schön gewesen in einem Land, das den Fußball lebt wie nur wenige, ja vielleicht überhaupt kein anderes.
Zuletzt 1966 den Weltmeistertitel geholt
Zweitens schien es so, als seien alle Voraussetzungen gegeben. Bei der WM vor drei Jahren hatten die „Three Lions" schon mal das Halbfinale erreicht. Es gibt so viele junge Talente wie ewig nicht. Und dieses Turnier schien prädestiniert für die Erlösung. Eine machbare Gruppe mit drei Heimspielen, ein durchaus lösbarer Turnierbaum und die Tatsache, dass die Halbfinals und das Endspiel in Wembley steigen würden, ließen erstmals seit vielen Jahren wieder Träume und damit auch Erwartungen wachsen.
Und drittens waren die Engländer so nahe dran, wie man nur sein kann. Sie hatten tatsächlich das Finale erreicht. Sie gingen in diesem Finale nach 117 Sekunden in Führung. Und auch im Elfmeterschießen führten sie nach zwei Runden mit 2:1. Schon mehrmals an diesem Abend des 11. Juli fühlten sich die Briten als große Sieger. Mehrmals sangen sie aus lauten Kehlen „Football’s coming home". Umso größer war danach eben der Frust, als der Europameister am Ende Italien hieß und die Italiener sangen „Football’s coming Rome".
Und dieser Frust legte sich so schnell nicht. Trainer Gareth Southgate sah am Morgen danach jedenfalls schwer gezeichnet aus. „Es fühlt sich an, als hätte man mir die Eingeweide rausgerissen", sagte der 50-Jährige: „Ich brauche Zeit, um das alles zu reflektieren. Ich brauche eine Pause. Es gibt viel, worüber ich nachdenken muss." Die „Daily Mail" sah „Das Land in Tränen".
Southgate gilt nach 1996, als er im Halbfinale der Heim-EM gegen Deutschland als einziger Schütze vergab, erneut als Schuldiger in einem englischen Elfmeter-Drama. Die drei Spieler, die gegen Italien vergaben, waren der 19 Jahre alte Bukayo Saka und die unwesentlich älteren Jadon Sancho (21) und Marcus Rashford (21). Die beiden letzteren hatte Southgate im Turnier trotz hoher Ansprüche kaum eingesetzt, im Finale brachte er sie in der letzten Minute der Verlängerung, weil sie im Training die besten Schützen gewesen seien. Doch zum einen ist jedem klar, dass sich der Druck eines Elfmeterschießens im Training nicht simulieren lässt. Zum anderen waren Sancho und Rashford dort natürlich die ganze Zeit voll dabei und nicht gerade erst von der Bank gekommen. Aber im Bewusstsein des englischen Elfer-Dramas – seines und des umfassenderen – wollte Southgate alles so gut wie möglich vorbereiten. Auch, was sich kaum vorbereiten lässt. Und so traf der Coach nach vielen richtigen Entscheidungen in den vergangenen Jahren im falschesten Moment falsche.
„Werde mich nie entschuldigen, wer ich bin"
Aber schlimmer noch: Rashford, Sancho und Saka wurden in den sozialen Netzwerken rassistisch beleidigt. „Die Verantwortlichen für diese entsetzlichen Beschimpfungen sollten sich schämen", twitterte Premierminister Boris Johnson. Und Prinz William als Präsident des englischen Fußball-Verbandes sprach von inakzeptablem und „abscheulichem Verhalten", für das „alle Beteiligten zur Rechenschaft gezogen werden sollten". Marcus Rashford antwortete mit einem emotionalen Schreiben. „Ich kann mir Kritik an meiner Leistung den ganzen Tag lang anhören, mein Elfmeter war nicht gut genug, er hätte reingehen sollen, aber ich werde mich niemals dafür entschuldigen, wer ich bin und wo ich herkomme", erklärte er.
Doch die Rassismus-Diskussion, die nach dem Fußball-Turnier nahtlos in eine gesellschaftliche Diskussion überging, war nur der Gipfel einer EM, in der die oft für ihre Leidenschaft und Fairness gelobten Briten viele Sympathien verspielten. Pfiffe bei den gegnerischen Nationalhymnen oder Ballkontakten der Gegner, Laserpointer ins Gesicht des Torhüters beim Elfmeter, dazu Randale in der Stadt und rund um das Stadion am Final-Tag. All das ergab ein Bild, das die Hoffnung auf eine erfolgreiche Bewerbung für die WM 2030 zumindest nicht schürte. Und das, obwohl das englische Team mit dem Niederknien vor jedem Spiel eigentlich so ein schönes Zeichen gesetzt hatte.
Die Frage ist auch, ob das Elfmeter-Drama nicht die Hierarchie im Team gefährdet. „Ich habe gesehen, wie gestandene Spieler sich abwenden und vor einem Elfmeter gedrückt haben", sagte Verteidiger-Legende Rio Ferdinand und gab die Schuld eben nicht nur dem Trainer und schon gar nicht den Schützen. Sondern vor allem denen, die nicht schießen wollten und eigentlich hätten vorangehen wollen. Southgate stellte jedoch klar, dass die Auswahl der Schützen seine alleinige Entscheidung war.
Die Frage aller Fragen in England ist nun: Erholen sie sich alle von diesem bitteren Ende? Erholt sich Trainer Southgate? Erholen sich die drei traurigen Schützen? Die Mitspieler? Das Umfeld, der Verband? Torjäger Harry Kane glaubt, ja. „Es wird natürlich länger wehtun", sagte der Kapitän: „In einem Monat werden wir schätzen können, was wir erreicht haben und welche Liebe wir erlebt haben." Johnson erklärte: „Dieses England-Team verdient es, als Helden verehrt und nicht rassistisch beschimpft zu werden."
Das Mittelfeld ist eine Zentrale der Hochbegabten
In der Tat war das Erreichen des Finals ja ein großer Erfolg. Mit zwar wenig spektakulärem Fußball, aber doch beeindruckend ungefährdet, nicht nur beim 2:0 im Achtelfinale gegen Deutschland. Das erste Gegentor des gesamten Turniers kassierte England im Halbfinale gegen Dänemark. Es war das zum 0:1, das Spiel gewannen die Briten dennoch.
Und ihr Potenzial scheint riesig. Mit Jordan Pickford hat England zumindest mal wieder einen stabilen Torhüter. Dass die Defensive gut ist, hat das Turnier gezeigt. In der Offensive sind Kane (27) und der viermalige Turnier-Torschütze Raheem Sterling (26) noch lange nicht über den Zenit. Dazu kommen Rashford und Sancho. Und das Mittelfeld ist eine Zentrale der Hochbegabten. Außer Jordan Henderson (31) war kein für die EM nominierter Mittelfeldspieler älter als 25. Declan Rice und Mason Mount (22), die bei der EURO schon viel und gut spielten, sind dicke Kumpels. Sie kennen sich, seit sie acht sind und sind in ihrer Freizeit unzertrennlich. Laut Mount nennen die Kollegen sie nach einem Komödien-Klassiker „Dumm und Dümmer". Hinzu kommt noch der Dortmunder Jude Bellingham, gerade mal 18 und bei diesem Turnier schon dreimal eingewechselt. Mit Rechtsverteidiger Trent Alexander-Arnold (22) vom FC Liverpool und Rechtsaußen Mason Greenwood (19) von Manchester United fehlten noch zwei Ausnahme-Talente verletzt.
„Wir sind auf dem richtigen Weg", versicherte Kapitän Kane: „Die Jungs werden daraus lernen, und es wird uns Motivation für die WM geben." Dafür wird Southgate aber wohl noch etwas mutiger werden müssen. „Ich denke, wir müssen, einen Weg finden, offensiver ausgerichtet zu sein", sagte Stürmer-Ikone Gary Lineker: „Wir haben das Offensiv-Talent, andere Teams zu erschrecken. Aber im Moment scheinen wir Angst zu haben, dieses Talent freizusetzen."
So oder so muss England die richtigen Lehren ziehen. Obwohl nicht so falsch gewesen sein kann, wenn du zwei Schüsse vom EM-Titel entfernt warst. Die Voraussetzungen sind da, dass sich die Engländer endlich dauerhaft in der europäischen Spitze festsetzen können. Doch dafür müssen sie nun erst mal verkraften, dass ihr großer Erfolg in einem Trauma endete. Und dürfen nicht so oft daran denken, dass die Chance diesmal so groß war wie nie.