Nach dem hoffnungslos verstolperten Wahlkampfstart durch Annalena Baerbock soll es nun Mitte August endlich richtig losgehen. Doch bei der Endabrechnung am 26. September wird den Grünen wohl ein ganzes Bundesland bei der Auszählung der Stimmen fehlen.
Am letzten Freitag im Juli, kurz vor 15 Uhr am Nachmittag, dürften Michael Kellner endgültig die Gesichtszüge entgleist sein. Nach einem Anhörungsmarathon entschied der Landeswahlausschuss Wahlausschuss einstimmig: Die Grünen an der Saar werden nicht zur Bundestagswahl zugelassen. Als hätte der politische Geschäftsführer der Grünen und Wahlkampfchef auf Bundesebene nicht ohnehin schon unglaublich bittere Wochen hinter sich.
Noch im April freute sich Kellner unbändig im FORUM-Gespräch auf seinen dritten Bundestagswahlkampf. Er ist der Chef der Kampagne und hatte alles über drei Jahre vorbereitet, doch dann tappte die Spitzenkandidatin, von Kanzlerkandidatin spricht in der Grünen-Führung schon länger keiner mehr, Baerbock zielsicher von einem Fettnäpfchen ins nächste. Kellner war froh, dass seine Spitzenkandidatin Ende Juni per Sommerurlaub aus dem politischen Schussfeld kam. Doch dann sorgte bundesweit, sozusagen in Vertretung für Baerbock, der Landesverband an der Saar in Endlosschleife für die nächsten negativen Schlagzeilen. Aus Sicht des grünen Establishments tat sich dort Unglaubliches Mitte Juni auf dem Landesparteitag. Entgegen dem Frauenstatut, wonach, egal was kommt, Frauen immer auf Listenplatz eins zu stehen haben, wurde von den Saar-Grünen nicht eine Frau, sondern ein Mann zum Spitzenkandidat für die Bundestagswahl erkoren. Ex-Landesparteichef Hubert Ulrich (63) schien noch eine Karriere im Bundestag bevorzustehen.
Gut ein halbes Prozent könnte am Ende fehlen
Aus Sicht der Bundespartei hatte dieser Landesparteitag tatsächlich den Frevel begangen und das Frauenstatut einfach mal mit einer demokratischen Mehrheit ausgesetzt. Dass zuvor eine Frau in drei Wahlgängen die notwendige Mehrheit jeweils deutlich verfehlte, bevor Ulrich kandidierte, geriet schnell aus dem Blick. Es herrschte Alarmstufe Rot in der Berliner Bundeszentrale von Bündnis 90/Die Grünen. Was nicht sein kann, das nicht sein darf, entschied die Riege um Kathrin Göring-Eckardt, Renate Künast, Claudia Roth und Annalena Baerbock.
Das Bundesschiedsgericht der Partei fand schließlich einen Grund, die Wahl Ulrichs als nicht rechtmäßig einzustufen. Bei der Wahl der Delegierten von Ulrichs starkem Ortsverband, der fast ein Drittel der Parteitagsdelegierten stellt, sei es zu Unregelmäßigkeiten gekommen. In der Folge sei Ulrichs Wahl zum Spitzenkandidaten eben auch unrechtmäßig. Die 49 Saarlouiser Delegierten waren entsprechend laut Bundesschiedsgericht dann auch nicht bei der Neuauflage des Parteitags stimmberechtigt.
Gewählt wurde nun die Sprecherin der Grünen Jugend, Jeanne Dillschneider: Die 25-Jährige sollte nun die Partei in den Bundestagswahlkampf führen. Doch dazu wird es nun nicht wohl nicht kommen, weil Bündnis90/Die Grünen auf dem Wahlzettel nicht stehen werden. Sie sind für die 700.000 Wahlberechtigten nicht wählbar, so die Entscheidung des Landeswahlausschusses.
Der Noch-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Landeschef Markus Tressel versucht im FORUM-Interview den Schaden für die Bundestagswahl kleinzureden. Denn bei der letzten Bundestagswahl hätten die Saar-Grünen ohnehin nur sechs Prozent geholt. „Rechnet man das auf die jetzigen Umfragen hoch, wird der Anteil aus dem Saarland in der Gesamtrechnung bei der Bundestagswahl zwischen 0,5 und 0,8 Prozent liegen", so Tressel. Der 44-Jährige wird nach zwölf Jahren Bundestag nicht mehr für die Saar-Grünen kandidieren und bereitet sich auf seine Karriere als politischer Berater vor. Darum will er sich auch nicht weiter zu den jüngsten Vorgängen äußern. Aber auch für ihn ist nicht ganz nachvollziehbar, warum wegen eines Dogmas die ganze Bundespartei in Sippenhaft genommen wird. Gemeint ist das Frauenstatut, denn darum geht es unterm Strich in der ganzen Angelegenheit. Nach dem ersten Landesparteitag, der Wahl Hubert Ulrichs auf Listenplatz eins trotz Frauenstatut, hatte die Spitzenkandidatin Baerbock scharf kommentiert: „Wir haben uns das anders gewünscht."
„Wünsch dir was" als Parteidoktrin, das ist so neu nicht in der Politik, aber eben kein Garant für einen Erfolg. Im Gegenteil kann es auch ganz schön nach hinten losgehen. Zwar scheint der Verlust von 0,5 bis 0,8 Prozent der Stimmen in der Endabrechnung bei der Bundestagswahl überschaubar, aber bei knappem Wahlausgang – der immer wahrscheinlicher wird – könnte das über Platz zwei oder drei entscheiden. Dass die Grünen es tatsächlich schaffen, noch zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz eins mit der Union aufzuschließen, ist nach derzeitigen Umfragen eher unwahrscheinlich. Aber es geht um den bislang als sicher geglaubten Platz zwei und darum, endlich vor der SPD zu landen. Selbst dieses Ziel ist in Gefahr. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ist nicht der brillanteste Wahlkämpfer, aber ein solider Macher. Der gebürtige Hamburger kann sich als Bundesfinanzminister auf dem Parkett prima inszenieren, ohne viel sagen zu müssen. Obendrein ist Scholz seit zwölf Jahren der erste Kanzlerkandidat seiner Sozialdemokraten, der nicht unter Dauerfeuer aus den eigenen Reihen steht. Damit ist er in den letzten Wochen aus dem 14-Prozent-Umfrage-Keller den Grünen gefährlich nahe gerückt. Die Grünen ihrerseits sind von 30 Prozent (INSA) auf 20 Prozent runtergerutscht. Beim Kopf-an-Kopf-Rennen mit der SPD könnte ein halbes Prozent auschlaggebend werden. Eben jener Anteil aus dem Saarland, der in der Gesamtabrechnung fehlt.
Partei-Eigenleben hat sich verselbstständigt
Dass es überhaupt so weit gekommen ist, ist für die Grünen-Funktionäre auf der oberen Parteiebene schockierend. Noch Ende Mai studierten die Mitarbeiter in der grünen Parteizentrale am Platz vor dem Neuen Tor in Berlins Mitte das Organigramm des Kanzleramts. Sie überlegten sich schon mal, wo sie denn ihr zukünftiges Büro, in dem nicht mal 2.000 Meter entfernten Gebäude unter Bundeskanzlerin Baerbock nach dem
26. September so einrichten könnten. Damals ahnte niemand, dass innerhalb von acht Wochen aus der grünen Hoffnungsträgerin („Bereit, weil ihr es seid") eine Entschuldigungsmeisterin werden sollte. Erst die mehrfach vergessene Meldung der Partei-Weihnachtsgratifikationen, dann die Corona-Hilfe der Partei, die Rallye um ihren Lebenslauf, ein Buch, das wohl in Teilen ohne korrekte Quellenangabe verfasst wurde.
Jüngst nun die Entschuldigung zu einer Einlassung in einer Talkshow, wo es um das Wort „Neger" ging, das Baerbock tatsächlich wörtlich gesagt hatte, um so glaubhaft einen rassistischen Vorgang in einer Schule zu umschreiben. Umgehend sah sie sich einem riesigen Shitstorm gegenüber, weil sie das N-Wort gebraucht hat. Für ein bestimmtes Wählerklientel geht so was gar nicht. Ob allerdings breitere Wählerschichten in Zeiten von Pandemie und Flut einen Streit um das N-Wort und damit auch noch eine Entschuldigung verstehen, sei dahingestellt.
Wenn nun in diese Atmosphäre ein Landesverband nicht zur Wahl zugelassen wird, weil er sich an einen Beschluss des Bundesschiedsgerichts der Partei gehalten, schlägt das mehr durch, als Zahlen- und Prozentspiele erkennen lassen. Das, was die Parteizentrale in einem innerparteilichen Konflikt an Konfliktmanagement gezeigt hat, wirkt alles andere als professionell. Das Vertrauen in die Kanzler-, korrekterweise: Kanzlerinnenfähigkeit der Grünen ist damit jedenfalls nicht gewachsen.