Das Gold durch Johannes Vetter war im deutschen Leichtathletik-Team fest eingeplant, doch der Speerwerfer erlebte Olympische Spiele zum Vergessen. Sein Kampf gegen die Anlaufbahn hatte etwas Tragisches.
Johannes Vetter und Mondo werden wohl keine Freunde mehr. Mondo, das ist die italienische Firma, die im Olympiastadion von Tokio den Bodenbelag verlegte. „Mondotrack WS“ heißt das benutzte Modell, und es soll aktuell das Beste vom Besten sein. Der zweischichtige Belag ist 13,5 Millimeter dick, unter der Gummi-Oberfläche befinden sich mit Luft gefüllte Kammern, die das Abfedern begünstigen. Die Läufer lieben diesen Belag, zahlreiche Weltrekorde wurden in Tokio geknackt. Aber Vetter liebt ihn nicht, ganz im Gegenteil. Er macht ihn für seine völlig verhunzte Gold-Mission hauptverantwortlich.
Scharfe Kritik am Veranstalter
„Der Belag ist gut für Weltrekorde und olympische Rekorde auf der Bahn“, sagte er, „für Speerwerfer wie mich ist das einfach tödlich.“ Er sei „keiner, der Ausreden sucht. Bis auf den Belag kann ich auch keine finden.“ Er fühle sich fit und gut – aber deshalb irgendwie auch um den Sieg betrogen. Als absoluter Favorit war Vetter nach Tokio gereist, 19 Siege in Serie, sieben Würfe über 90 Meter und die Jahresbestweite (96,29 m) haben die ohnehin breite Brust des Offenburgers nochmal wachsen lassen. Wer sollte ihn, den Speerwurf-Dominator, stoppen? Ob es am Ende wirklich der Belag der Bahn oder vielleicht doch eher der Kopf des 28-Jährigen war, wird sich wohl nie endgültig klären. Fakt ist: Vetter erlebte im wichtigsten Wettkampf einen Ausrutscher – und das nicht nur im übertragenen Sinn.
Auf dem weichen Anlaufbelag bekam er überhaupt keinen Halt. Dabei ist das 100-Kilo-Kraftpaket aufgrund seiner Wucht auf einen sicheren Stand des Stemmbeins besonders angewiesen, um genügend Energie auf den Speer abzugeben. Wer weiß, wie diffizil so ein technisches System beim Speerwerfen ist, der kann sich ausmalen, welch enorme Auswirkungen ein problematischer Anlauf für den Athleten hat. Und wie stark das auch seine Psyche beeinflusst. Was in Tausenden Trainingswürfen perfekt funktionierte, gerät plötzlich außer Kontrolle.
Schon in der Qualifikation mühte sich der Weltmeister von 2017 mit dem letzten Versuch ins Finale. Auch dort kam er ins Rutschen, obwohl die Verantwortlichen den Belag extra mit Hunderten Eispacks heruntergekühlt hatten, um für einen festeren Stand zu sorgen. Vetter half auch das nicht. 82,52 Meter, Platz neun – im Rückblick war es sportlich betrachtet vielleicht die größte Olympia-Enttäuschung im deutschen Team. „Zum Kotzen“ sei das, „man ist machtlos“, schimpfte Vetter hinterher. Die Bedingungen seien „gefährlich“ und „nicht gesund“ gewesen. Es grenze „an ein Wunder“, dass er unverletzt aus dem Wettkampf gekommen sei. Zumindest äußerlich blieben keine Schäden zurück. Emotional hat ihn das Drama mit Sicherheit tief verletzt.
„Es tut mir mega leid für Johannes. Der Belag hat seiner Power nicht standgehalten“, sagte der Mainzer Julian Weber, der als Vierter noch vor Vetter landete und mit den Bedingungen weniger Schwierigkeiten hatte. Genau wie Überraschungs-Olympiasieger Neeraj Chopra aus Indien, der sich mit 87,58 Metern Gold abholte. Eine Weite, die Vetter locker imstande ist zu überbieten. Doch eben nicht in Tokio, nicht auf diesem Untergrund. „Ich vergleiche es mit Aquaplaning auf nasser Fahrbahn“, beschrieb Vetter seine Probleme: „Versuch‘ da mal zu bremsen vor der Mauer, man knallt halt dagegen.“ Für Vetter gab es in Tokio den Totalschaden.
„Es ist bitter, bei Olympischen Spielen so einen Kindergartenbelag zu verlegen“, meckerte auch sein Trainer Boris Obergföll: „So ist quasi dem weltbesten Speerwerfer die Chance auf olympisches Gold genommen worden.“ Er fühle sich „beschissen und betrogen“, auch seine Ehefrau, die Ex-Weltmeisterin Christina Obergföll, fühlte mit Vetter mit: „Es ist eine Katastrophe, ich bin tieftraurig.“ Und in Offenburg, wo Freunde, Familie und Fans beim Public Viewing auf dem Marktplatz mitfieberten, gab es nur lange Gesichter statt grenzenlosen Jubel.
Auch der abwesende Rio-Olympiasieger Thomas Röhler, der verletzungsbedingt mit Vetter und Co. nicht um Gold kämpfen konnte, war „extrem schockiert und traurig“. Das hatte auch er nicht kommen sehen, denn: „Jojo kann Monsterwürfe“. In Tokio war der Dominator aber nur Mittelmaß. „Die Bahn kam seinem Wurfstil nicht entgegen“, meinte auch Röhler.
Doch es gab auch kritische Stimmen, die Vetter nicht so einfach aus der Verantwortung für das Scheitern nahmen. Speerwurf-Ikone Klaus Wolfermann, der 1972 in München Olympia-Gold gewann, wollte ein mentales Problem bei Vetter ausgemacht haben: „Er war nicht sicher, er hat regelrecht Angst gehabt.“ Das Hadern mit dem Belag sei lediglich eine Ausrede, meinte der 75-Jährige: „Die anderen haben auch geworfen und ihre Leistung gebracht.“
Allen voran der neue Olympiasieger Chopra. Nach seinem sensationellen Gold-Coup erlangte der Inder in seiner Heimat im Rekordtempo Helden-Status – mit allen angenehmen und weniger schönen Nebeneffekten. Die Regierung kündigte an, dem ersten indischen Leichtathletik-Olympiasieger in der Geschichte Prämien in Höhe von rund 1,7 Millionen Euro auszuschütten. Darin enthalten sein sollen Luxusautos, Flugreisen und natürlich jede Menge Bares. Doch der 23-Jährige will sich mit den vielen Annehmlichkeiten nicht zur Ruhe setzen, er hat Blut geleckt.
„Ich werde mich nicht auf meinen Lorbeeren ausruhen“, sagte Chopra, der schon das nächste Ziel ins Auge gefasst hat: „Ich will bei der nächsten WM auch Gold gewinnen.“ Die Weltmeisterschaft findet im Juli 2022 in Eugene im US-Bundesstaat Oregon statt, spätestens dann will Chopra auch erstmals die 90-Meter-Marke geknackt haben: „Das ist mein Traum.“ Helfen wird ihm dabei ein Deutscher, der in der Speerwurf-Szene einen großen Namen besitzt: Uwe Hohn.
Wolfermann übte Kritik: „Er hat Angst gehabt“
Der heute 58-Jährige ist Chopras Trainer und war damit maßgeblich am sensationellen Gold beteiligt. Bislang war Hohn lediglich als der Mann bekannt, der 1984 im Berliner Jahnsportpark als erster und letzter Mensch den alten Speer über 100 Meter geschleudert hatte. Nachdem die Weite von 104,80 Metern offiziell bestätigt wurde, verlagerte der Weltverband aus Sicherheitsgründen den Schwerpunkt beim Speer weiter nach vorne. Damit dürfte Hohn für immer der einzige 100-Meter-Werfer bleiben, doch das fast sichere Olympiagold wurde ihm durch den DDR-Boykott 1984 in Los Angeles genommen. Umso mehr freute sich Hohn nun für Chopra.
Im ersten Moment sei der Sieg aber „ein schöner Schock“ gewesen, verriet Hohn, „absolut surreal“. Mit Silber habe er zwar geliebäugelt, aber Vetter galt als quasi unschlagbar. Unverdient sei der Triumph aber nicht, betonte der Trainer: „Neeraj ist unglaublich fokussiert. Es ist toll, mit einem solchen Athleten zusammenzuarbeiten.“ Und der Erfolg dürfte auch eine Sportbegeisterung im mit 1,4 Milliarden Einwohnern zweitbevölkerungsreichsten Land der Welt entfachen. „Indiens erstes Leichtathletik-Gold ist ein stolzer Moment für mich und mein Land“, sagte Chopra.
Für Vetter war es dagegen ein Schlag ins Gesicht. Und plötzlich erschien die Olympia-Verschiebung um ein Jahr wie ein Segen. „Gott sei Dank“, sagte der Ehrgeizling, „muss ich nur drei Jahre auf die nächsten Olympischen Spiele warten.“ Doch für die Revanche sollte Vetter eine Lösung für sein Bahn-Problem finden: Die Leichtathletik-Wettbewerbe in Paris 2024 werden wohl erneut auf einer Mondo-Bahn stattfinden.