Innerhalb von gut zehn Wochen Bundestagswahlkampf hat sich die Lage der drei führenden Parteien um 180 Grad gedreht. Trotzdem sieht vieles nach einem ungewöhnlich unambitionierten Kampf um Wählerstimmen aus.
Autofahrer sind an diesem Vormittag genervt, schon wieder Stau vor der Frankfurter Stadtbrücke in Richtung Slubice auf der anderen Seite der Oder. Doch diesmal ist nicht eine Baustelle schuld, sondern offenbar Dreharbeiten. Eine Horde von 30 aufgeregten Menschen und zwei Kamerateams behindern den Verkehr an der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze. Beim Vorbeifahren erkundigt sich ein Autofahrer, was denn gedreht würde und ob man das Set nicht in die Nachtstunden oder zum Wochenende hätte verlegen können. Der Befragte schaut den älteren Herren in seinem Wagen erstaunt an. „Das ist Armin Laschet“ entfährt es ihm entgeistert. „Ah, der derzeitige Darsteller zum Unions-Kanzlerkandidaten ist heute in Frankfurt-Oder“ grinst der Mann in seinem SUV zurück. Der ist da schon längst mit seinem Partei-Tross auf der polnischen Seite und schaut sich ganz in seinem Eigenverständnis als großer Europäer aus dem westlichen Aachen das Ganze nun mal von Ost in Richtung West an. Um ihn herum macht seine Mannschaft aus der CDU-Parteizentrale schöne Bilder. Alle Abspielkanäle im Netz müssen schließlich gefüttert werden, man hat zu tun. Viele Menschen, die von der einen Seite zur anderen Seite der Oder wechseln, nehmen das zur Kenntnis, die meisten, vor allem aus Slubice, wissen logischerweise gar nicht, wer Armin Laschet ist. Und auf Plakaten oder im Radio wurde der Termin auch nicht kundgetan. Wahlkampf ohne Publikum scheint bei der Union derzeit ein großer Renner zu sein. Vermutlich eine Lehre aus den Auftritten in der Flutregion in der Eifel und dem Münsterland zwei Wochen zuvor, wo Laschet scharf kritisiert, beinahe schon beschimpft wurde. Dazu dann noch die Stippvisite zusammen mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz, der den Staatsmann gab und Hilfsgelder versprach und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet sich dann noch bei seinem Kanzlerkandidatenkonkurrenten artig bedanken durfte. Schöne Bilder, allerdings nur für Olaf Scholz. Unklar ist, ob dieser grobe Planungsfehler dem CDU-Landesverband in Nordrhein-Westfalen, oder der Zentrale in Berlin unterlaufen ist. Doch das soll ja nun nicht mehr passieren, und nach dem volksbefreiten Wahlkampfauftritt Laschets auf der Stadtbrücke an der Oder steigerte er die Abwesenheit von möglichen Wählern am nächsten Tag gleich noch mal. Diesmal zu Besuch im zukünftigen Tesla-Werk Grünheide, hinter der Ortschaft Erkner an der östlichsten Grenze Berlins, also im märkischen Nirwana. Dazu wurde Laschet noch vom 2,50 hohen Zaun um das Betriebsgelände vor möglichen Wählern geschützt. Das Kalkül der Unions-Wahlkampfstrategen, tolle Bilder mit Tesla-Chef Elon Musk. Der E-Mobile-King schaute nämlich gerade in seinem Europawerk nach dem Fortgang der Bauarbeiten. Das würde Zukunft, Kompetenz bei der Energiewende und Unternehmergeist in einem suggerieren. Doch Laschet macht den Fehler und denkt laut über die Zukunft des Wasserstoffantriebs nach, also vor allem für Busse und Lkw. Darauf bekommt Musk einen herzlichen Lachanfall und kann den Unionskanzlerkandidaten beruhigen, dass es soweit nicht kommen wird. Die Produktion von Wasserstoff ist viel zu energieintensiv, muss sich Laschet lachend von Musk belehren lassen, und wird so nicht stattfinden. Offensichtlich hatte der Mann aus Aachen vergessen, dass Elon Musk ausschließlich Elektroautos baut. Bislang wird gerätselt, ob der E-Mobile-King nun nur gelacht oder seinen Gast ausgelacht hat. Beobachter hatten eher letzteren Eindruck.
Viele Fettnäpfchen für die Kandidaten
Brandenburg scheint ein undankbarer Wahlkampfort, aber nicht nur für Laschet. Auch seine Grüne Konkurrentin Annalena Baerbock hat hier so ihre Verortungsprobleme, obwohl die gebürtige Niedersächsin hier ihren Landesverband nicht nur aufgebaut hat, sondern deren Chefin war. Bei der Präsentation des Grünen Klimasofortprogramms in einem Waldstück wähnt sich Baerbock im Oderbruch ganz im Osten. Robert Habeck verdreht nur die Augen und senkt schnell tief den Kopf, wegen der Bilder. Beide stehen im Biesenthaler Becken direkt bei Berlin, ein von den Grünen und NABU geförderten Naturschutzgebiet. Genau darum hat man die Pressekonferenz zum Grünen Klimasofortprogramm hier abgehalten. Es sollte der inhaltliche Aufbruch der Grünen nach über einem viertel Jahr baerbockscher Pleiten, Pech und Pannen werden. Doch selbst wohlmeinende Medien kümmerten sich nicht mehr inhaltlich um das Klimasofortprogramm, sondern sorgten sich, dass Baerbock vor lauter Wald in nächster Zeit noch gegen viele weitere Bäume laufen könnte. Es sollte keine Woche dauern, da fliegt ihr schon wieder ihr Buch um die Ohren. Diesmal kein Plagiat, sondern neuerliche Verortungsprobleme. Auf Seite 92 des Machwerks schreibt sie: „Als ich im Herbst 2020 zu Gast beim Triebwerksunternehmen MTU Aero Engines in Berlin-Ludwigsfelde war“. Berlin würde sich sicher über so ein Unternehmen als Steuerzahler freuen, doch leider gehört Ludwigsfelde nicht zur Hauptstadt. Ludwigsfelde liegt definitiv in Brandenburg. Was für Baerbock noch viel peinlicher ist: Die Stadt in Potsdam-Mittelmark gehört zum Bundestagswahlkreis 61. In diesem Wahlkreis tritt sie als Direktkandidatin an! Gesucht und gefunden hat dieses Schmankerl übrigens die alternative Tageszeitung taz.
SPD bewahrt Ruhe und setzt ganz auf Scholz
Die eine Kandidatin hat ein Buch als Selbstdemontage am Hacken, der andere Kandidat versucht mit einem feixen Grinsen im inhaltlichen Schlafwagen ins Kanzleramt zu kommen. Was der beiden Leid, ist des anderen Freud. Zwei ob der eigenen Fehler sichtlich immer lustlosere Kanzlerkandidaten, denen noch vor Wochen ein Kopf-an-Kopfrennen prognostiziert wurde, und Olaf Scholz. Der 63-Jährige Hanseat kommt aus seinem „schlumpfigen Grinsen“ (Markus Söder, CSU, über Scholz) gar nicht mehr raus. Er hat sich zwar in der Öffentlichkeit bislang entspannt zurückgelehnt, doch intern in seiner SPD etwas sehr Kluges getan. Scholz hört nur auf sein eigenes Team, mit dem er schon in Hamburg gewonnen hat und Erster Bürgermeister wurde. Die SPD-Bundeszentrale darf zwar Vorschläge zu seinem direkten Wahlkampf machen, mehr aber auch nicht. Im Willy-Brandt-Haus soll man sich um die sozialen Medien kümmern. Die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walther-Borjans hat er mit einem Versprechen auf die Zukunft an die Leine genommen. Wenn beide sich mit inhaltlichen Vorschlägen bis zum 26. September öffentlich zurückhalten, gibt es vielleicht einen Ministerposten in der kommenden Bundesregierung. Und seitdem läuft der Laden zugunsten der SPD. Aus 14 sind mittlerweile 20 Prozent in den Umfragen geworden. Scholz macht Wahlkampf auf eigene Kappe, „Scholz packt das an“, mehr oder weniger ohne Partei. Seine persönlichen Beliebtheitswerte sind bestens, die seiner Partei nicht. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann das SPD-Logo auf den Scholz-Wahlplakaten ganz verschwindet. Schon bei der zweiten – oder doch erst in der dritten Kampagne.
Damit zeigt alles auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das am Anfang wenig wahrscheinlich schien. Damals schien allenfalls noch spannend, ob am Ende nicht die erste grüne Kanzlerin der Republik stehen würde. Jetzt ist das Rennen völlig offen.