Einige neue Regeln, viele alte Diskussionen. Die Runde der Länderchefs mit der Kanzlerin hat 3G-Regeln und das Ende der Gratis-Tests beschlossen. Vor Herbstbeginn herrscht weiter Unübersichtlichkeit beim Impffortschritt.
Die Bilder gleichen sich, die Sätze kommen bekannt vor, alles fühlt sich ein Stück weit routiniert an. Zu routiniert aus Sicht nicht weniger Experten und in großen Teilen der Bevölkerung. Die Zuversicht, dass dieses Mal der Sommer genutzt wurde, um sich besser als im letzten Jahr für den nächsten Corona-Herbst und -Winter zu wappnen, ist nicht besonders verbreitet.
Ministerpräsidenten und Kanzlerin hatten kaum ihre neuesten Beschlüsse mit der 3G-Regel im Mittelpunkt verkündet, da traten Mediziner mit der Forderung auf, in einer unabhängigen und repräsentativen Befragung rauszufinden, wie überhaupt der Stand der Dinge beim Impfen ist. „Das Impfen ist der entscheidende Erfolgsfaktor“, wird der Präsident der Intensiv- und Notfallmediziner, Gernot Marx, zitiert. Hinter der Forderung der Mediziner steht die Frage, wie aussagekräftig die Daten waren, aufgrund derer zuvor die Regierungsspitzen neue Beschlüsse gefasst haben.
Seit Beginn Kritik an der Datenlage
Bemerkenswert, dass gerade Intensivmediziner genau nachfragen, was Sache ist. Schließlich wurde über den Sommer diskutiert, die bekannte 7-Tages-Inzidenz nicht mehr zum alleinigen Maßstab für Regelungen zu machen, sondern beispielsweise die Belegung von Intensivbetten mit Corona-Patienten zumindest als zusätzliche Kennziffer heranzuziehen. Weil Impfungen auch vor schweren Verläufen bei einer Infektion schützen, ist die Zahl der Geimpften, sinnvollerweise noch aufgeschlüsselt nach Altersgruppen, eine wesentliche Grundlage zur Entwicklung möglicher Szenarien für den bevorstehenden Herbst. Auslöser war das Robert-Koch-Institut RKI, das auf eine bedeutsame Ungereimtheit hingewiesen hatte. Während auf dem Impfdashboard mit den offiziell übermittelten Zahlen eine Quote von 59 Prozent Erstimpfungen (Erwachsene unter 60) ausgewiesen waren, gaben beim Impfquotenmonitoring („Covimo“) 79 Prozent der Befragten dieser Altersgruppe an, mindestens einmal geimpft zu sein. Dass gemeldete Zahlen und Angaben aus Befragungen voneinander abweichen, ist nicht ungewöhnlich. Denkbar sind Übermittlungsfehler, aber auch, dass Befragte ungenaue oder unkorrekte Angaben machen. Bemerkenswert ist allerdings, in welchem Ausmaß beides voneinander abweicht. Und das bei einem Sachverhalt, der seit mindestens einem Jahr als der zentrale Punkt angesehen wird, zu einem Leben ohne massive Einschränkungen.
Die Kritik, dass zu wenige und qualitativ brauchbare Daten vorliegen, ist nicht neu. Zuletzt hatte Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) dem RKI vorgeworfen, entscheidende Daten nicht veröffentlicht zu haben, obwohl sie Gesundheitsämtern und dem RKI selbst vorgelegen hätten. Die Daten wären aber hilfreich für eine transparente Darstellung des Pandemiegeschehens. Es geht dabei um zielgruppengenaue Angaben. Solche Daten wären von Bedeutung für die Entwicklung eines Indikatorensets, das die einseitige Betrachtung der Inzidenzzahlen ablösen soll.
Die Diskussion um die Daten begleitet die Pandemie von Beginn an. Augenfällig wurde das zuletzt im Frühjahr mit der Bundesnotbremse. Die sah ein ziemlich striktes Regime von Maßnahmen in Abhängigkeit von Inzidenzzahlen vor, und zwar den Zahlen, die beim RKI vorlagen. Kam es allerdings zu Übermittlungsfehlern oder Pannen, was nicht nur in Einzelfällen so war, konnte das erhebliche Auswirkungen haben. Insbesondere dann, wenn sich die Zahlen in einem Landkreis um kritische Marken bewegten, konnte das ausschlaggebend sein, ob etwa Schulen in Präsens unterrichten konnten oder eben nicht.
Die Festlegungen von Indikatoren und Grenzwerten werden zwar nicht willkürlich, sondern durchaus auf der Basis wissenschaftlicher Empfehlungen entschieden, aber letztlich sind sie immer auch politische Entscheidungen. Im Saarland hatte beispielsweise Oppositionsführer Oskar Lafontaine schon sehr früh gefordert, neben dem Inzidenzwert andere Kriterien wie stationäre Behandlung oder Belegung Intensivstationen zu berücksichtigen. Eine Forderung, mit der er lange nicht durchdringen konnte. Jetzt ist sie aktuelle Diskussion.
Große Lücke bis Herdenimmunität
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft plädiert für einen Indikatoren-Mix und eine differenzierte Betrachtung des Geschehens. Selbst Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hält das inzwischen für sinnvoll. Er begründet das mit der hohen Impfquote. Steigendende Infektionszahlen führen nicht zwingend zu einer Überlastung des Gesundheitssystems. Und das war schließlich von Anfang an eines der politischen Hauptkriterien auch für Lockdown-Entscheidungen, nämlich Situationen zu vermeiden, wie sie vor allem zu Anfang der Pandemie aus anderen Ländern zu sehen waren, mit Krankenhäusern, die keine Patienten mehr aufnehmen konnten und Intensivstationen, bei denen per Triage entschieden werden musste. Die Krankenhausgesellschaft hat jedenfalls einen eigenen Katalog mit Kriterien entwickelt. Am Ende wird es weiterhin daran liegen, welche Impffortschritte erzielt werden.
Zwar gibt es auch bei der Frage, ab wann eine Herdenimmunität erreicht wäre, unterschiedliche Angaben. Einigermaßen Konsens ist, dass eine Quote von etwa 90 Prozent vollständig Geimpfte bei den über 60jährigen und 85 Prozent bei den unter 60jährigen erreicht werden müsste. Die aktuellen Zahlen liegen jedenfalls noch deutlich darunter. Die großen Impfzentren verwaisen nach und nach. Wenig überraschend, wenn bereits über die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist, Impfungen auch über Haus- und Betriebsärzte erfolgen.
Letztlich geht es darum, bis Herbst, also praktisch in den nächsten Tagen und Wochen, diejenigen zu erreichen, die noch nicht geimpft sind, aber auch keine notorischen Impfgegner sind. Jede Maßnahme, um Impfungen zu den Menschen zu bringen und das niedrigschwellig (etwa bei Einkaufzentren), wird naturgemäß aufwändiger mit jedem weiteren Impffortschritt.
Der aktuelle Stand ist mit großer Wahrscheinlich nicht das letzte Wort zu diesem zweiten Corona-Herbst, in dem sich zeigen wird, was die massiven Impfanstrengungen bewirkt haben und ob bei den Vorbereitungen in diesem Sommer die notwendigen Lehren aus dem vergangenen Sommer gezogen wurden, der vielfach als Sommer der vertanen Möglichkeiten bewertet wurde.