„Unverschämt!“, sagen Menschen, wenn sie das Verhalten eines anderen nicht für gutheißen. Doch woher kommt das Gefühl, wie äußert es sich, und was kann man dagegen tun? Der Diplom-Sozialpädagoge Ludger Schabbing geht diesem Phänomen auf den Grund.
Herr Schabbing, wofür schämen Menschen sich?
Menschen schämen sich für etwas, was sie getan haben. Sie schämen sich manchmal aber auch für ihr Aussehen, für eine Erkrankung, für ihr Schicksal. Menschen werden beschämt. Oder sie fremdschämen sich. Viele Psychologen glauben, dass Scham überall ist und für unser Leben eine zentrale Bedeutung hat. Scham bestimmt unsere seelische Gestimmtheit mehr als Sex oder Aggression. Doch obwohl sie überall ist, redet man nicht über sie. Schon der Ausdruck „Ich schäme mich“ zeigt, dass der Mensch in der Scham ganz bei sich ist. Scham ist anscheinend ein „Geheimnisgefühl“. Man zeigt sie nicht, man verbirgt sie, hält sie geheim. Weil wir nicht im Umgang mit diesem Gefühl geübt sind, wird Scham oft mit Schuld verwechselt. Doch Scham und Schuldgefühle sind etwas grundlegend anderes. „Un-ver-schämt“ bedeutet: ohne Scham. Das impliziert, dass Scham eine positive Absicht hat.
Wie zeigt sich beziehungsweise versteckt sich Scham?
Wir verstecken das Gefühl der Scham oft hinter Wut, Zorn und Angstgefühlen. Somit verkleidet sich die Scham. Folgerichtig lautet der Titel des Standardwerkes von Leon Wurmer: „Die Maske der Scham“. Schamgefühle können von kurzer Dauer sein, ausgelöst durch einen bestimmten Reiz, wie zum Beispiel ein Bild, eine Erinnerung, ein Thema, oder sie können dauerhaft präsent sein. Schamgefühle können sich in Verlegenheit, in Schüchternheit, einem Peinlichkeitsempfinden ausdrücken oder in einem grundlegenden Selbstzweifel. Insofern kann sich Scham in einer völlig unterschiedlichen Intensität ausdrücken. Schamgefühle sind auch individuell. Was für den einen peinlich und beschämend sein kann, ist für einen anderen kein Problem.
Wer bestimmt, worüber man sich schämt?
Häufig definiert die Gesellschaft, die Religion, das soziale Umfeld, worüber man sich schämt. Scham kann individuell und gesellschaftlich einen sehr hohen Nutzen haben, denn sie befähigt uns, körperliche und seelische Grenzen im Umgang mit anderen Menschen zu wahren, sie wahrt unsere Integrität in Bezug auf die eigenen moralischen Werte und sorgt für die Integration des Einzelnen in ein soziales Netzwerk, indem sie Erwartungen und Normen einer Gruppe definiert, mithilfe sozialer Kontrolle. Entscheidendes Kriterium ist hier: Wird durch die Beschämung ein Beitrag geleistet, die Würde von Menschen wiederherzustellen, zu erhalten und zu fördern?
Können Sie ein Beispiel für gesellschaftlich berechtigte Scham nennen?
Wer das ehemalige Vernichtungslager Buchenwald bei Weimar besucht hat, wird nur schwer vermeiden können, für die Taten der Nationalsozialisten tiefe Scham zu empfinden. Diese Art von Scham ist völlig in Ordnung, denn sie ist ein Zeichen der Würdigung der Opfer und sie hilft zu verhindern, dass derartiges noch einmal geschieht. In diesem Sinn bleibt es eine wichtige Aufgabe, jede Äußerung zu ächten und zu beschämen, die die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen beinhaltet. Hier zu sagen „Schämt euch!“ ist vollkommen berechtigt.
Fällt Ihnen als katholischer Diplomtheologe auch ein Beispiel aus dem Bereich der Religion ein?
Ich finde es beispielsweise äußerst kritikwürdig, homosexuelle Paare zu beschämen, indem ihnen der kirchliche Segen verweigert wird. Hingegen muss die Scham der Kirche, den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nur zögerlich und unzureichend aufzuarbeiten, durchaus größer sein. Glücklicherweise haben viele Menschen ein sehr feines Gespür dafür, welche Scham angebracht ist und welche nicht und entscheiden selbst. Die hohe Anzahl von Kirchenaustritten insbesondere von bislang engagierten Christen spricht eine deutliche Sprache.
Ist jeder seinem Schamgefühl machtlos ausgeliefert?
Schamgefühle sind – so wie alle anderen Gefühle auch – subjektiv und damit veränderbar. Jeder selbst ist für seine Gefühle zu 100 Prozent verantwortlich. Niemand muss seinem Schamgefühl hilflos ausgeliefert sein, sondern kann selbst entscheiden, ob er sich für seinen Körper, seine Familie, sein Verhalten, seine Geschichte oder sonst etwas schämt oder nicht. Sich von falschen Schamgefühlen zu befreien und wahrhaft unverschämt zu werden, kann Voraussetzung für eine positive menschliche Entwicklung sein. In meinen Beratungen werden Schamthemen erst dann angesprochen, wenn zuvor viel Vertrauen aufgebaut wurde. Die Hauptaufgabe besteht häufig darin, die positive Absicht der Scham anzuerkennen und zu würdigen, die schädigende Seite der Scham aber zu überwinden.
Wie kann man sein eigenes Schamgefühl verändern?
Wenn wir Scham als ein „Veränderungsgefühl“ begreifen und mit unserer eigenen Scham in Kontakt kommen, hilft uns das, ungute Dinge im Leben zu verändern. Man kann sich, wie oben beschrieben, von beschämenden Vorschriften befreien. Man kann Scham aber auch als Signal für ein eigenes schädliches Verhalten wahrnehmen, wie zum Beispiel ein Suchtverhalten. Mehrere Alkoholiker wurden trocken, indem andere Menschen sie mit Situationen konfrontiert haben. Erinnert sei an das Video, welches die Tochter von David Hasselhoff gedreht hat, um ihren Vater mit seiner Alkoholsucht zu konfrontieren. Das Video ging viral, und weil er sich dessen so geschämt hat, war er bereit, seine Sucht anzuerkennen und in eine Klinik zu gehen.
Welche Formen der Scham gibt es?
Grundsätzlich müssen wir uns fragen: Schämen wir uns vor anderen Menschen, oder schämen wir uns vor uns selbst? Schämen wir uns für eigenes Verhalten oder schämen wir uns für das Verhalten von anderen? Ist die Scham nach innen oder nach außen gerichtet? Schämen wir uns, weil wir Normen und anderen nicht glauben zu entsprechen, oder weil wir unsere eigenen Werte und unsere Integrität verraten? Scham, die nach innen gerichtet ist, kann neu bewertet und infrage gestellt werden. Scham, die nach außen gerichtet ist, kann uns zu Authentizität und Integrität verhelfen.
Sie unterscheiden subjektive Scham von Gewissensscham? Was hat es damit auf sich?
Wer sein Schamgefühl neu bewertet, ist nicht zugleich befreit von der Gewissensscham. Denn wenn wir uns tatsächlich schuldig gemacht haben, reicht es nicht, sich nur zu schämen. Dann ist es angebracht, die Schamgefühle auszuhalten, anzunehmen, uns zu entschuldigen und die begangene Schuld wieder gutzumachen. Ohne Eingeständnis und Wiedergutmachung kann die Scham nicht überwunden werden. Wenn wir Normen oder Vorstellungen anderer nicht oder vermeintlich nicht entsprechen, können wir unserem Gehirn den Auftrag geben, neu zu entscheiden, ob das Gehörte oder sonstige Konfrontationen meinen eigenen Bewertungen entsprechen oder nicht. Hier ist die zentrale Frage: Entspringt die Scham meinem schuldhaften Verhalten? Habe ich selbst ein reines Gewissen mir gegenüber, kann mir die auferlegte Scham von anderen nichts anhaben. Dieser kurze Moment der Entscheidung kann durch Achtsamkeitsübungen trainiert werden. Die Voraussetzung dafür ist aber, sich im ersten Schritt der Beschämung zu stellen, und die Gefühle erst einmal wahrzunehmen und sie erneut zu fühlen. Erst in Kontakt mit dem Schamgefühl bin ich in der Lage, es anders zu bewerten. Dafür kann man sich eine Art „Schiebe-Regler“ vorstellen, der das Gefühl in der Intensität verändert.
Ein gutes Beispiel hierfür ist wohl das über viele Jahrhunderte belegte Schamgefühl bei Masturbation?
Stimmt. Über Jahrhunderte hinweg wurde – insbesondere durch kirchliche Prägung – körperliche Lust negativ bewertet. Vor allem Masturbation wurde als Sünde betitelt und mit Scham belegt. Viele Menschen haben das immer noch verinnerlicht und erleben die dazugehörige Scham auf einer Intensitätsskala von 0 bis 10 auf Rang 10 – wobei 10 etwa einem „Vernichtungsschamgefühl“ entspricht. Durch die Annahme seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse kann das Schamgefühl die Intensität verlieren und künftig zum Beispiel mit einer 3 bewertet werden oder gar durch ein anderes Gefühl, wie zum Beispiel Lust, ersetzt werden. Ein Schamgefühl überfällt uns manchmal durch körperliche Reaktionen: Wir erröten zum Beispiel, fangen an zu schwitzen. Und trotzdem sind wir solchen Reaktionen nicht hilflos ausgesetzt. Man kann Techniken lernen, sich von der unmittelbaren Betroffenheit zu „dissoziieren“ (praktisch wie von außen beobachten, eine andere Position einnehmen), oder man kann lernen, durch eine bewusst andere (zum Beispiel stolze) Körperhaltung auf das auslösende Gefühl zurückzuwirken und es zu verändern.
Scham darf also nicht mit Schuld verwechselt werden?
Obwohl beide Gefühle keine Gegensätze sind, gibt es Unterschiede: Wo die Schuld sagt: Ich habe diesen Fehler gemacht, da sagt die Scham: Ich bin der Fehler. Schuld ist immer spezifisch auf ein Verhalten bezogen, Scham aber umfassend auf die ganze Person. Schamgefühle können durch zusätzliche Beschämung – in Form von Ächtung, Anprangerung, Verlust der Ehre verstärkt werden. Man belegt die betroffene Person mit Schande, die nur durch Rituale, Selbstmord, durch die Wiederherstellung der Ehre – und sei es durch Mord – wieder getilgt werden kann.
Schuld kann durch Bestrafung (Geld, Gefängnis,…) gewissermaßen abgetragen werden. Dem vorausgeht, dass ich mich zu meiner Schuld bekenne und um Ent-Schuld-igung bitte. Schuld – besser gesagt die Fähigkeit, Schuld anzuerkennen – wird erst später im Leben gelernt, während Scham ein sehr früh gelerntes Gefühl ist.
Was raten Sie Menschen, die erlittene Gewalt aus Scham nicht anzeigen?
Frauen, die vergewaltigt wurden, oder Männer, die von ihren Frauen geschlagen werden, schämen sich oft dafür und schweigen. Hier bedarf es oftmals einer Therapie, bis die wirkliche Schuld den wahren Tätern zugesprochen wird und die Scham so überwunden werden kann.
Hier wird am deutlichsten, was gegen falsche Schamgefühle hilft: Nicht länger schweigen, das Geheimnis lüften, darüber reden – mit dem Partner, der Partnerin, mit guten Freunden, in einer Beratungsstelle, einer Psychotherapie oder im Coaching. Nur so verblassen die dunklen Schatten der Scham im Licht der Kommunikation.