44.000 Gehirnerschütterungen werden pro Jahr diagnostiziert – und das allein im Sport. Die Initiative „Schütz Deinen Kopf! Gehirnerschütterungen im Sport“ der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung leistet Aufklärungsarbeit zu diesem Thema.
Es sind Sätze, die bestimmt jeder schon mal in der komplett falschen Situation gehört hat – oder zum komplett falschen Zeitpunkt. „Stell Dich nicht so an!“, heißt es da. Oder auch: „Das geht schon wieder weg!“ So verletzend diese Aufforderungen sein können, so gefährlich können sie auch werden – dann zum Beispiel, wenn man die Zeichen einer Gehirnerschütterung nicht erkennt. Ziel der Initiative „Schütz Deinen Kopf! Gehirnerschütterungen im Sport“ ist es, auf das Thema Gehirnerschütterung aufmerksam zu machen und die Anzeichen auch für Laien erkennbar darzustellen. Denn 44.000 Gehirnerschütterungen werden im Breiten- und Profisport diagnostiziert – pro Jahr. Und es wird von einer Dunkelziffer ausgegangen, die etwa dreimal so hoch sein dürfte. „Die Initiative richtet sich an alle am Sport Beteiligten“, sagt Projektleiterin Nicola Jung. „Bei der Initiative arbeitet die ZNS – Hannelore Kohl Stiftung mit namhaften Organisationen, Medizinern und Sportverbänden zusammen.“
Doch was ist eine Gehirnerschütterung überhaupt? Ganz kurz erklärt zählt die Gehirnerschütterung zum leichten Schädelhirntrauma (SHT) und ist definiert als Funktionsstörung des Gehirns infolge einer direkten oder indirekten Gewalteinwirkung gegen den Kopf. Durch die äußere Krafteinwirkung stößt das Gehirn innen gegen die Schädelwand. Und hier liegt auch bereits die Crux: Während man eine Wunde oder eine Fraktur leicht sieht, ist eine Gehirnerschütterung, auch als Concussion bezeichnet, nicht unbedingt erkennbar. Ist man zum Beispiel vom Rad gefallen oder eine Treppe hinabgestürzt, trägt aber keine sichtbare Verletzung davon, könnte ein plötzlich auftretendes Kopfweh auf eine Gehirnerschütterung hindeuten.
Was kann denn ein Zeichen für eine Gehirnerschütterung sein? „Auf jeden Fall Bewusstlosigkeit“, erklärt Nicola Jung. Sie erläutert, dass seit dem WM-Finale 2014, in dem Christoph Kramer in der 17. Spielminute zu Boden ging, diese Verletzungen in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen würden. Der Fußballspieler, der derzeit bei Borussia Mönchengladbach unter Vertrag steht, kam wegen einer Verletzung von Sami Khedira kurzfristig in die Startelf. Nach dem Zusammenprall mit einem argentinischen Gegenspieler blieb er kurz bewusstlos liegen. Als er den Schiedsrichter fragte, ob er hier im WM-Finale sei, bat dieser darum, Kramer auszuwechseln. Dies war ein deutlicher Hinweis auf eine Gehirnerschütterung. „Daraus sollte langfristig gelernt werden“, hofft Heike Müller, zuständig für Prävention bei der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung.
Nicht nur im Fußball, auch in anderen sehr körperbetonten Sportarten wie Rugby, American Football oder Eishockey – immerhin auf Rang elf der beliebtesten Sportarten in Deutschland – kommt es immer wieder zu Zusammenstößen und daraus resultierenden Gehirnerschütterungen. Dabei ist die Schwere des Traumas natürlich immer abhängig von der jeweiligen Situation. Wenn beim Eishockey beispielsweise jemand ausschweifend mit dem Stock hantiert oder es einen Bodycheck gibt, kann das Folgen haben. Selbiges beim Wasserball, wo die Sportler auch nicht eben zimperlich sind. Unterschiede gibt es natürlich zwischen Breiten- und Spitzensport. „Im Profisport ist man inzwischen sensibilisiert“, sagt Nicola Jung. „Beim Eishockey zum Beispiel ist die sogenannte Baseline-Testung sogar Voraussetzung für die Lizenzierung.“
Was also sind Zeichen, die Laien erkennen lassen, dass eventuell eine Gehirnerschütterung vorliegt? Neben der bereits erwähnten Bewusstlosigkeit sind sichtbare Hinweise auch verlangsamte Reaktionen, ein benommener oder leerer Blick, eine Verwirrtheit und Koordinationsstörungen. Hinzu kommen als weitere Hinweise etwa Übelkeit und Erbrechen, Reizbarkeit, Traurigkeit, Schwindelgefühl, verschwommenes Sehen, Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und Empfindlichkeiten gegenüber Geräuschen und Licht.
Wenn es zu einem Sturz oder Zusammenstoß kam, kann auch die Überprüfung des Gedächtnisses einen Hinweis auf eine Gehirnerschütterung geben. Man sollte Fragen stellen, die im Normalfall einfach zu beantworten sind: An welchem Spielort sind wir heute? Welche Halbzeit ist jetzt? Gegen welches Team haben Sie letzte Woche gespielt? Hat Ihre Mannschaft gewonnen? Wird eine Frage nicht richtig beantwortet, besteht der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung. Das Wichtigste bei einer Gehirnerschütterung ist es, sie zuerst zu vermuten und dann angemessen zu handeln.
Wie die ZNS – Hannelore Kohl Stiftung und ihre Partner die Infos und ihre Hilfe weiterträgt, ist ganz unterschiedlich. Das geht beispielsweise über die Organisation von Vorträgen in Vereinen und Institutionen, über Flyer, bei denen man als Gedächtnisstütze einen Teil mit Tipps abtrennen kann, bis hin zur Taschenkarte, auf der Hilfe zum Erkennen und Handeln zu finden ist. „Aufklärungsbedarf besteht immer“, gibt Heike Müller zu bedenken. Und Nicola Jung ergänzt, dass die Infomaterialien der Initiative kostenfrei auf schuetzdeinenkopf.de heruntergeladen oder bestellt werden können: „Die Resonanz ist groß, und wenn man sieht, welche Präsenz das Thema Gehirnerschütterung heute auch in den Medien hat, ist das ein schöner Erfolg.“
Frühzeitiges Handeln heilt die Erschütterung folgenlos ab
Das schnelle Handeln beziehungsweise das Erkennen sind natürlich auch im Alltagsleben wichtig. Denn wurde eine Gehirnerschütterung beispielweise durch einen Sportunfall nicht behandelt, können Spätfolgen die Sache verschlimmern. Symptome können unter Umständen erst einige Zeit später auftreten. Gerade für Familien würde es sich auszahlen, genauer hinzuschauen, falls etwa ein Kind in eine Rangelei geraten war. Man sollte darauf achten, ob sich beim Nachwuchs etwas merklich geändert habe, ob der Sohn oder die Tochter beispielsweise Augenringe hat, appetitlos ist, wenig schläft oder anteilslos ist.
Wichtig sei hier aber auch, deutlich klarzustellen, dass die Mitglieder der Initiative eines nicht wollen, wie Heike Müller sagt: „Wir wollen auf gar keinen Fall Angst machen. Denn bei korrekter Behandlung, also frühzeitiges Erkennen und Handeln, heilt eine Gehirnerschütterung in den allermeisten Fällen folgenlos ab.“ Ganz im Gegenteil setze man sich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche Freude an Bewegung, Motivation, Freunden und Teamgeist hätten und Sport eben eine optimale Basis dafür biete. Trotzdem, so Heike Müller: „Bei Verdacht auf Gehirnerschütterung muss die Sportlerin oder der Sportler das Spiel unterbrechen. Und wie bei einer Muskelverletzung braucht auch das Gehirn Zeit, um sich zu erholen.“
Eine Unterbrechung braucht die Aufklärungsarbeit hingegen nicht. Daher hat die Initiative auch eine App an den Start gebracht: „GET – Gehirn Erschüttert?“ ist sowohl im App-Store als auch bei Google Play zu haben. Die neue Version richtet sich gezielt an Trainer und Betreuer im Mannschaftssport und erlaubt es erstmals, Baseline-Werte für ein gesamtes Team zu speichern. So könne man im Notfall sofort auf diese Werte zurückgreifen und Veränderungen erkennen. Baseline bezeichnet den Ruhewert eines Spielers oder einer Spielerin, der vor der Saison erhoben wird. Durch das Anlegen einer Baseline können für die Testung im Notfall individuelle Vergleichswerte gespeichert werden. Dabei stellt Nicola Jung klar: „Die App ist eine Anleitung, um im Notfall eine erste Testung vorzunehmen – die Diagnose stellt dann ein Mediziner.“
Die ZNS – Hannelore Kohl Stiftung war auch maßgeblich an der Durchführung der Studie „Schädel-Hirn-Verletzung – Epidemiologie und Versorgung“ beteiligt, durch die herausgefunden wurde, dass in Deutschland etwa 90 Prozent aller Schädelhirntraumen als leicht eingestuft werden. Von diesen leichten SHT seien jedoch 46 Prozent nach einem Jahr noch in Behandlung. Weiter wurde bekannt, dass 50 Prozent aller Patienten, die noch nach einem Jahr über SHT-bedingte Probleme in der Familie, bei der Berufsausübung oder in der Schule klagen, ursprünglich eine als leichtes SHT eingestufte Verletzung erlitten. Dies führte zum Schluss: Offensichtlich ist das Raster, um frühzeitig zwischen einem folgenlosen und einem problematischen SHT zu unterscheiden, derzeit noch zu unpräzise.
Die Namensgeberin der Stiftung war die ehemalige Gattin des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl. Ihre Bekanntheit und ihre Beliebtheit nutzte Hannelore Kohl immer wieder für karitative Zwecke. Bei einem Besuch in einer Rehaklinik in Vallendar, zu der Zeit war ihr Mann Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, habe sie unter anderem Kinder mit erkennbaren Traumata gesehen, was sie sehr berührt habe. 1983 gründete sie den Verein „Kuratorium ZNS“ für Unfallopfer mit Schädigungen des Zentralen Nervensystems (ZNS). 1993 folgt die Gründung der „Hannelore Kohl Stiftung für Unfallopfer zur Förderung der Rehabilitation Hirnverletzter“. 2005 wurden die beiden Organisationen zusammengeführt und heißen heute „ZNS – Hannelore Kohl Stiftung für Verletzte mit Schäden des Zentralen Nervensystems“. Die Stiftung hat elf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Voll- und Teilzeit.