In dem vielleicht hochklassigsten Weitsprung-Wettbewerb aller Zeiten stellte der US-Amerikaner Mike Powell bei der Leichtathletik-WM 1991 im Kampf gegen seinen Landsmann Carl Lewis mit 8,95 Meter einen fantastischen Weltrekord auf – der auch nach 30 Jahren noch Bestand hat.
Es war warm am Abend des 30. August 1991, dem vorletzten Tag der in Tokio ausgetragenen Leichtathletik-Weltmeisterschaft. Die Temperatur lag jenseits der 30 Grad, die Luftfeuchtigkeit bei 90 Prozent. Der Taifun Freddy stand schon vor der Tür. 70.000 Zuschauer hatten sich im alten Olympiastadion der japanischen Hauptstadt eingefunden. Schließlich standen noch die Final-Wettbewerbe einiger interessanter Disziplinen an, etwa der 200-Meter-Lauf der Frauen, den schließlich die Deutsche Katrin Krabbe gewann. Auch der Weitsprung der Männer stand noch auf dem Programm. Beim Long Jump war zudem wieder der amerikanische Superstar Carl Lewis am Start, der in Tokio bereits zwei Goldmedaillen mit der 4x100-Meter-Staffel gewonnen hatte, ebenso wie er fünf Tage zuvor das 100- Meter-Einzelrennen in neuer Weltrekordzeit von 9,86 Sekunden bestritten hatte.
Im Weitsprung-Finale von Tokio dürfte allerdings niemand erwartet haben, dass eine Verbesserung der legendären Bestleistung des Amerikaners Bob Beamon von 8,90 Metern möglich sein könnte. Die hatte er 1968 bei den Olympischen Spielen in der dünnen Höhenluft von Mexiko-Stadt aufgestellt. Immerhin galt Beamons Leistung längst als „Sprung ins 21. Jahrhundert". Er schien gewissermaßen für die Ewigkeit gemacht, die dann aber doch nur 23 Jahre angedauert hatte – bis zum 30. August 1991. Nicht einmal dem 30-jährigen „King Carl" war es gelungen, den Beamon-Fabelrekord zu knacken. Dabei hatte Lewis seit 1981 jeden seiner 65 Weitsprung-Wettbewerbe gewonnen und dabei sowohl bei den Weltmeisterschaften in Helsinki 1983 und Rom 1987 als auch bei den Olympischen Spielen in Los Angeles 1984 und Seoul 1988 triumphiert.
Carl Lewis war dank seiner enormen Anlaufgeschwindigkeit seinerzeit der einzige Athlet weltweit, dem Experten diese Marke ernsthaft zugetraut hatten. Doch weiter als 8,79 Meter hatte selbst Lewis noch nie einen Sprung in die Sandgrube setzen können. Dennoch war „Carl der Große", wie er sich selbst in aller Unbescheidenheit gern titulieren ließ, in Tokio der haushohe Favorit auf die Goldmedaille. Seinen Gegnern pflegte er ohnehin nur die Statistenrolle in seiner üblichen One-Man-Show zuzugestehen. Dass er sich damit bei der Konkurrenz extrem unbeliebt gemacht hatte, hatte ihn nie gejuckt. „Lewis war ein arroganter Schnösel", kommentierte der deutsche Teilnehmer am legendären Tokio-Event, Dietmar Haaf, der mit 8,25 Meter den vierten Platz belegen sollte.
Powell stand im Schatten von Lewis
Im Schatten von Lewis hatte sich sein 27-jähriger Landsmann Mike Powell, der mit seinen 1,88 Meter „King Carl" zumindest in puncto Körpergröße auf Augenhöhe begegnen konnte, über die Jahre zum gefährlichsten Herausforderer entwickelt. Doch Lewis hatte den aus Philadelphia stammenden Kollegen nie wirklich als ernsthaften Konkurrenten akzeptiert. Warum auch? Schließlich hatte Lewis alle bisherigen 15 direkten Duelle gegen Powell für sich entschieden. Auch in Seoul hatte sich Powell mit olympischem Silber begnügen müssen. Zwar war Powell dem Überflieger weitenmäßig immer näher auf die Pelle gerückt und hatte den Abstand von anfänglich stolzen 60 Zentimetern bis auf die Winzigkeit von gerade mal einem Zentimeter reduzieren können; das war bei den im Vorfeld der Tokio-WM ausgetragenen US-Meisterschaften. Doch Lewis war allein am Sieg interessiert, Powell wiederum hatte nach eigenen Worten Morgenluft gewittert: „Da wusste ich, ich bin dran an ihm. Und beim nächsten Mal werde ich ihn kriegen."
Danach schaute es in Tokio allerdings zunächst gar nicht aus. Denn Powell musste sich in der Qualifikation regelrecht in das Weitsprung-Finale zittern – weil ihm mal wieder seine Fehlversuch-Schwäche fast zum Verhängnis geworden wäre. Nach zwei ungültigen Versuchen konnte er sich mit einem Sicherheitssprung auf bescheidene 8,19 Meter gerade noch die Final-Teilnahme sichern.
Nach dem ersten Sprung der beiden Hauptrivalen hatte sich noch nicht absehen lassen, dass der Wettbewerb als hochkarätigstes Weitsprung-Event aller Zeiten in die Leichtathletik-Geschichtsbücher eingehen und als „Taifun von Tokio" bezeichnet werden sollte. Powell war bei schwachen 7,85 Metern gelandet, Lewis hatte in erwarteter Manier mit sehr guten 8,68 Meter die Spitze übernommen. Im zweiten Versuch war Powell seinem Konkurrenten, der selbst seinen einzigen Fehlversuch des Finales hingelegt hatte, mit 8,54 Metern recht nahe gekommen. Darauf hatte Lewis im dritten Durchgang mit vom Wind unterstützten 8,83 Metern gekontert, während Powell lediglich auf 8,29 Meter kam.
Erst im vierten Durchgang nahm das sportliche Drama dann seinen Lauf. Powells Versuch in Beamon-Weltrekordnähe wurde wegen Übertreten des Sprungbretts als ungültig gewertet. Beim gegen die knappe Entscheidung lamentierenden Powell wurde daraufhin reichlich Adrenalin freigesetzt. Dieser Ausstoß war fraglos noch gesteigert worden nach dem Zirkus, den Lewis nach seinem Sprung auf die vermeintliche neue Weltrekordmarke von 8,91 Metern veranstaltet hatte. Lewis tanzte vor den Rängen und forderte das Publikum demonstrativ zu Begeisterungsstürmen auf. Als das Kampfgericht dem Sprung wegen zu starkem Rückenwind die Anerkennung als Weltrekord verweigere, zog Lewis weiter seine Show in Schimpfmanier ab – statt den erlaubten maximal zwei Metern pro Sekunde waren knapp drei Meter pro Sekunde gemessen worden.
„Wenn man ihn so sah", so Powell im Rückblick auf diese Szenen, „hätte man glauben können, der Wettkampf sei entschieden und vorbei. Das hat mich geärgert." Und das verschaffte ihm eine zusätzliche Motivation für seinen fünften Versuch, der fast am Ende der Sprunggrube enden sollte. „Ich dachte: ‚Leute, wenn ihr denkt, das war weit‘", so Powell über die entscheidenden Sekunden vor dem Absprung, „‚dann passt jetzt mal auf, ich zeig’s euch‘." Powell musste die 8,91 Meter von Lewis übertreffen, denn in die Wertung floss diese Weite natürlich mit ein.
Er konnte seine Energie kanalisieren
„Ich war zornig", so Powell, „aber ich habe meine Energie kanalisieren können." An seiner Anlaufmarkierung Position nehmend, verzerrte Powell mit starrem Blick sein Gesicht kurz zu einer Grimasse, blies immer wieder die Backen kurz auf, um die Luft anschließend ruckartig entweichen zu lassen. Nach drei langen Schritten sprintete er dann los Richtung Sprunggrube, wobei er bei den letzten drei Schritten vor dem Brett etwas Geschwindigkeit herausnehmen musste, um den Balken optimal treffen zu können. Spätere Messungen ergaben, dass er mit einer Schwerpunkthöhe von rund 2,20 geflogen war, während der schnellere und technisch elegantere Lewis deutlich flacher abgesprungen war und dadurch in der Luft weniger Geschwindigkeit verloren hatte.
Nach Powells Landung hielt das Publikum angesichts der schier unfassbaren Weite den Atem an. Powell hüpfte vor Glück um die Sprunggrube und schaute dabei immer wieder erwartungsvoll gen Anzeigetafel – auf der dann endlich die Zahlen 8,95 und 0,3 für Weite und Rückenwind aufleuchteten. Weltrekord, Beamons Ewigkeitsmarke war ausgelöscht. Im Stadion brach ein regelrechter Taifun an Beifall aus. Doch noch war der Wettkampf nicht beendet. Denn Carl Lewis, der selbst immer davon geträumt hatte, die Beamon-Vorgabe zu übertreffen, legte zwei erstaunliche letzte Sprünge auf mega starke und nicht mit unzulässigem Rückenwind unterstützte 8,87 und 8,84 Meter hin.
Powell wiederum sollte die WM mit einem Fehlversuch abschließen. Lewis war geschlagen, obwohl ihm in Tokio die vier weitesten Sprünge seiner gesamten Laufbahn jenseits der 8,80-Meter-Marke gelungen waren. „Nie hat in der Leichtathletik ein Besiegter auf höherem Niveau verloren", so der damalige Kommentar der „Süddeutschen Zeitung". Lewis zeigte sich als schlechter Verlierer: „Er hat ja nur einen guten Sprung gehabt." Erst viel später konnte er sich zum Bekenntnis „der größten Niederlage meiner Karriere" durchringen. Lewis nutzte seine Tokio-Super-Serie rein gar nichts. „Für Carl war jeder Sprung wichtig und großartig", so Powell, „Meine Einstellung war: Ich habe sechs Versuche, um einen guten hinzukriegen."
Der Wind war leider unzulässig
Im Unterschied zu Bob Beamon war Powells Weltrekord keine Eintagsfliege. Denn Powell, der bei der Leichtathletik-WM in Stuttgart 1993 seinen Titel verteidigen sollte, konnte 1992 in Sestriere sogar 8,99 Meter erzielen, allerdings konnte der Sprung wegen unzulässiger Windunterstützung keinen Eingang in die offiziellen Rekordbücher finden. 2019 war der Kubaner Juan Miguel Echevarria mit 8,92 Meter in Powell-Sphären vorgedrungen, allerdings war auch bei seinem Versuch der Wind mit 3,3 Metern pro Sekunde zu stark. Die ersten drei Plätze der ewigen Weitsprung-Rekordliste blieben daher unangetastet: Powell mit 8,95 Metern vor Bob Beamon mit 8,90 Metern und Carl Lewis mit 8,87 Metern.
Ein Sprung jenseits der Neun-Meter-Marke ist künftig übrigens durchaus denkbar. Forscher des Instituts für Sportwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt haben ausgerechnet, dass der frühere jamaikanische Sprint-Star Usain Bolt durchaus weiter als neun Meter hätte springen können – wenn er denn Weitsprung betrieben hätte.