Fünf Wochen nach der Flutkatastrophe dauern die Aufräumarbeiten an: Praxis trifft auf Theorie und Bürokratie in dem am schwersten zerstörten Landstrich, dem Ahrtal. FORUM hat den Baudienstleister Marcus Zintel in der Region begleitet.
Das Handy klingelt. Marcus Zintel hebt ab, wechselt ein paar Worte mit seinem Gegenüber, knapp, gelassen, mit einer Prise Humor. Ohne geht es hier nicht. Viel Zeit ist nicht, er muss los. Baustellen abfahren, nach dem Rechten sehen, denn er muss Verträge erfüllen und Zeiten einhalten. Zintels Ehefrau hält die Stellung im improvisierten Büro mit Blick über die Weinberge und die Ahr.
Die Aussicht könnte so schön sein, wäre da nicht das ausgefranste Flussbett, die schon teils sortierten Schuttberge links und rechts des Wassers und an den Häuserzeilen, die weißen Zelte und Wohnwagen von Helfern auf grünen Wiesen. Mit dem Auto geht es hinunter nach Bad Neuenahr-Ahrweiler, vorbei an Polizeiabsperrungen und improvisierten Schildern: Einbahnstraße, nur für Hilfskräfte und Anwohner. An einer Straßenecke wird Schutt verladen. Eine wilde Mülldeponie, „hier laden wir schon zum fünften Mal auf", erklärt Zintel. Zuerst Schwemmgut, Autowracks, Gastanks, jetzt kommen die Bauabfälle. Hunderte Häuser werden in der näheren Umgebung teilweise ausgeräumt. Überall Baulärm, dröhnende Stemmhämmer, Menschen mit Schubkarren, hin und wieder ein kleiner Radlader. Die Feuchtigkeit muss raus aus dem Mauerwerk und damit Tapeten, Putz und Estrich.
Fünf Wochen nach der schweren Flutkatastrophe im Ahrtal vom 14. Juli ist das Aufräumen noch lange nicht abgeschlossen. Nun müsste es schnell gehen: Der Spätsommer bleibt feucht, entsprechend muss der Dreck rasch weg von den Straßen und wilden Deponien. Die schiere Menge aber überfordert Mensch und Gerät. Es fehlt an Baggern, aber auch kleinen Radladern für Privatleute und vor allem an Lkw, die die Schuttmassen abfahren, hin zur Deponie. Die nächste liegt in Niederzissen und ist hoffnungslos überlastet. 200.000 Tonnen Schutt, Schwemmgut, Waschmaschinen, Holz, Autoteile, die Überreste aus dem Lebensalltag von rund 50.000 Betroffenen aus dem gesamten Landkreis hat sie bislang verarbeitet, geschreddert, in andere Deponien oder Verbrennungsanlagen gebracht. Und die Schuttberge werden nicht kleiner. Nahe Walporzheim kippen Lkw ihren Schutt direkt neben die Ahr auf eine provisorische Deponie über Hunderte Meter Länge. Die hohen Greifarme des Sortierbaggers sind von der Straße über die Gipfel des Mülls nicht zu sehen.
In der Nähe einer Privatklinik ziehen Zintels Männer einen neuen Entwässerungsgraben. Der alte ist von den Fluten zerstört. „Falls es im Herbst wieder stark regnen sollte, läuft das ganze Wasser ansonsten wieder in die Altstadt", sagt der Unternehmer. Im Ahrtal hilft er seit dem 16. Juli, mit schwerem und schwerstem Baugerät. Ein befreundeter Unternehmer habe ihn angerufen, deshalb sei er freitags sofort los, mit Radlader und Kettenbagger. Dass es innerhalb einer Woche wieder eine Straßenverbindung zwischen Walporzheim, dem westlichen Stadtteil von Bad Neuenahr, und dem Rest des Ahrtals von Osten her gibt, geht auf seine Kappe. Seit dem 19. Juli arbeitet er als Dienstleister nach Aufträgen durch den Krisenstab. Den Straßenabschnitt aber besserten seine Leute auf eigene Faust aus, auch mithilfe der Bundeswehr. Mittlerweile hat das rheinland-pfälzische Landesamt für Mobilität etwa zwei Drittel seiner Kosten zum Bau von 95 Metern Bundesstraße übernommen. Über den Rest besteht noch Klärungsbedarf, sagt Marcus Zintel. Sein Telefon klingelt, wieder eine kurze Absprache. Einer seiner Angestellten fragt, ob er kein Funkgerät habe. Nein, antwortet Zintel, „ich will meine Ruhe". Ein Schmunzeln. Sarkasmus ist ein Schild, das hilft, mit der Situation umzugehen.
Bislang 200.000 Tonnen Schutt
Neben der Klinik verschimmeln verschlammte Berge an Patientenakten. Wie sie entsorgt werden sollen, weiß keiner, industrielle Aktenvernichter würden rasch verkleben. Ein Trecker müht sich die Böschung hoch, selbst seine Reifen haben Schwierigkeiten mit dem weichen Untergrund. Landwirte, Bauunternehmer, Mechaniker, Freiwillige, sie alle haben in der ersten Chaosphase nach der Flut im gesamten Katastrophengebiet angepackt – ohne Anleitung und offiziellen Auftrag, nur mit dem gesunden Menschenverstand. Praxis schlug Theorie in den ersten Stunden, ja Tagen nach der Flut, in denen Menschen apathisch neben ihren teils völlig zerstörten Häusern standen, immer noch die Bilder der vergangenen Nacht vor Augen, in denen ihr Leben ahrabwärts trieb. Zuerst kam die Polizei, versorgte die ersten Helfer mit Essen, dann die „weißen" Hilfsdienste wie Malteser und das Rote Kreuz, dann das Technische Hilfswerk. Dienstags rückte die Bundeswehr an, mit Räumpanzern und Tankfahrzeugen, um die schweren Geräte der privaten Helfer mit Diesel zu versorgen. Mittlerweile, so die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) in einer Pressekonferenz, werden viele Aufgaben an Privatfirmen vergeben – vom Betanken über das Aufräumen bis hin zum Wiederanschließen des Tals an die Zivilisation.
Weiter drin im Tal, vorbei an der berühmten Felsformation „Bunte Kuh", wird das Bild verheerend. Die Bahnstrecke, sofern sie tiefer als acht Meter über der Ahr liegt, ist mitsamt vielen Bahnhöfen verschwunden. Dutzende Brücken sind zerbrochen, Behelfsbrücken der Bundeswehr und des THW, die auch schwere Lkw tragen können, überspannen jetzt den Fluss. Häuser, die noch stehen, spähen mit leeren Fensterhöhlen auf staubige Schotterpisten, wo einst die Ortsdurchfahrt und die Bundesstraße 267 lagen. Oftmals sind Wände eingestürzt, aus einem zweistöckigen Haus ragt ein Bett über die Kante des offenen Giebels. Eine Helferkolonne, bewaffnet mit Eimer, Besen und Werkzeug, wird von Freiwilligen eingewiesen. THW und Bundeswehr richten rechts der Ahr die zerstörten Flussufer wieder her, damit das Wasser besser abfließen kann. Es ist Mittagszeit, eine private Würstchenbude mitten in Dernau bringt für Hilfsdienste, Bewohner und die Polizei ein bisschen Abwechslung. Laut ADD versorgt das Deutsche Rote Kreuz das Tal mit 20.000 Essen samt Lunchpaketen für Frühstück und Abendessen.
Dennoch ist es, bis auf jene Hilfsdienste, relativ ruhig am heutigen Tag. Nur wenige Privatpersonen sind zu sehen. Für viele von ihnen gibt es an ihren Häusern nichts mehr zu tun. Sachverständige haben die Schäden begutachtet. Was nicht zu retten ist, wird mit Zeichen markiert und abgerissen. Marcus Zintel telefoniert mit seiner Frau. „Welche Hausnummer war das noch mal?" Der kleine Anbau fällt demnächst dem Bagger zum Opfer. Arbeiten, die er nicht gern übernimmt. Schon gar nicht, wenn das Haus mit einem X markiert ist. Denn dort fand man menschliche Überreste.
Laut offiziellen Angaben sind mindestens 133 Tote allein im Ahrtal zu beklagen, vier gelten auch heute, fünf Wochen nach der Katastrophe, noch immer als vermisst. Welche Wucht das Wasser in Verbindung mit Schwemmgut besitzt, wird hinter Mayschoß klar. Dort knickt die Bundesschotterpiste ab und führt zwischen zwei Felsen hindurch. Direkt links davon das Hotel Jägerstübchen – oder was davon übrig ist. Ein riesiger Schutthaufen, durchsetzt mit Mobiliar, Matratzen, Fliesenscherben. Rechts davon eine Aufschüttung, hoch wie ein Lkw, dahinter ein riesiges Loch. Neun Meter tief, direkt unterhalb eines Tunnels und dreier Häuser, die teils in das Loch gesackt sind. Ausgeschwemmt von einem Fluss, der laut Landesumweltamt in Rheinland-Pfalz derzeit einen Pegelstand von knapp 60 Zentimetern aufweist und in der Flutnacht dort, wo das Tal besonders eng ist, in Flutwellen auf mehr als sieben bis acht Meter anstieg. Wie hoch sie tatsächlich war, ist nur noch an Flutkanten an Häusern messbar, weil der Pegelstandsmesser bei über fünf Metern Wasserhöhe mitgerissen wurde.
Mehr als 500 Häuser völlig zerstört
Marcus Zintel fährt zurück nach Walporzheim zum Helferzelt. Mittagspause. Hier sitzen sie zusammen, Helfer, freiwillig oder offiziell, es gibt etwas zu essen und zu trinken. Organisiert haben dies Wilhelm Hartmann, ein Garten- und Landschaftsbauer aus Fulda, per Telefon und Markus Wipperfürth, Lohnunternehmer aus Pulheim, per Facebook. Beide sind an diesem Tag woanders unterwegs, was sie aber auf die Beine gestellt haben, ist spürbar: Es wird geplaudert, gelacht, gefachsimpelt. Seit fünf Wochen sind auch Franz-Josef, Aloys und Berthold mit dabei – hier ist man per Du. Die drei Rentner aus Rheinbrohl auf der gegenüberliegenden Rheinseite haben sich untereinander organisiert. „Meine Tochter arbeitet als Lehrerin in Bad Neuenahr an einem Gymnasium", erzählt Franz-Josef. Dort packen auch Lehrer mit an. Keine Frage, dass er seiner Tochter helfen wollte. Zu dritt sind sie seit Tag eins unterwegs in Bad Neuenahr, Ahrweiler und Heppingen. „Was die Leute hier erlebt haben, kann man sich kaum vorstellen", sagt Berthold. Hinter ihm reihen sich große Lagerregale mit Dosensuppen, Zwiebeln und Kartoffeln aneinander, daneben stehen Kisten mit Getränken, Kleidern, Spielzeug. Jeder darf sich nehmen, was er braucht. Eine freundliche, inspirierende und bunte Oase inmitten von Sorgen, Staub – und jeder Menge Arbeit.
Denn noch immer gibt es unzählige Orte, an denen noch nicht geräumt wurde. An den Wochenenden steigt die Zahl der Helfer, die mit Shuttles ins Tal gefahren werden; die Zahl der Landwirte, die in langen Kolonnen aus ganz Deutschland ankommen, um zu räumen; die Zahl der Handwerker, die Dächer ausbessern oder Stromkästen flicken. Entscheidend dafür: das Internet und die sozialen Medien. Über zahlreiche Plattformen, landwirtschaftliche Netzwerke, per Facebook oder Youtube organisieren sich Helfer, verbreiten wie Markus Wipperfürth täglich Videos direkt aus dem Tal – das Ziel: Hilfesuchende und Helfende zusammenzubringen. Die schiere Größe der Katastrophe im Ahrtal übersteigt die staatlichen Kapazitäten dafür bei Weitem, so scheint es. Umso größer ist die helfende Hand der Privaten, koordiniert durch die Ortsvorsteher und Bürgermeister vor Ort.
Ersthilfe von Unternehmen und Landwirten
Doch der Winter naht. Schon jetzt glänzt der Sommer nicht durch Sonnenschein, sondern eher in Pfützen. Gas, Wasser und Strom müssen wiederhergestellt werden, laut ADD sei Letzteres zwar nun vorhanden, jedoch nur als instabiler Notstrom. Fließend Wasser ist da, wenn auch in manchen Orten wie Dernau nur per Hochbehälter, der ständig durch Wasserwerfer der Polizei nachgefüllt werden muss. Das Heizen könnte allerdings zum größten Problem werden: Der Gasversorger Energienetze Mittelrhein spricht in seinen Statements von mehreren Monaten, bis zum Ende des Jahres, bis die völlig zerrissenen Leitungen wieder neu verlegt sind. „Wer nicht warten möchte, bis an seinem Haus wieder Erdgas anliegt, der kann übergangsweise auf Flüssiggas umstellen", rät Pressesprecher Marcelo Peerenboom. Er hält die betroffene Region ständig mit Videos auf dem Laufenden.
Marcus Zintel aber muss inzwischen weiter. Die nächste Baustelle wartet, außerdem klingelt sein Handy schon wieder. Sein Team wird noch eine Weile beschäftigt sein. 30 Milliarden Euro Fluthilfe zum Wiederaufbau sind nun genehmigt, allein 15 Milliarden Euro für Rheinland-Pfalz. Ob das reichen wird, ist noch nicht abzusehen. „Wir hoffen auf weniger Bürokratie und kurze Dienstwege", sagt er, das habe sich in den Anfangstagen bewährt, um das Aufräumen zu beschleunigen und den Wiederaufbau anzukurbeln. Aber der lässt noch auf sich warten. Wer zuerst wiederaufgebaut werden muss, ist der erschöpfte Mensch.